Nimmt es mit den Coronaregeln nicht mehr so genau

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Tanz der Viren.

Im größten Swing-Camp der Welt im schwedischen Herräng stellt der Umgang mit der Pandemie Julia und mich vor ein moralisches Problem. Alle, die nach Herräng kommen, wissen vorher, dass es keine Pandmiebeschränkungen mehr gibt und das Ansteckungsrisiko groß ist, wenn Hunderte Tänzerinnen und Tänzer aus der ganzen Welt kommen, um auf engstem Raum zusammen zu sein. Falls man hier erkrankt, muss ­jeder selbst sehen, wie er damit umgeht. Jeder entscheidet letztlich selbst, ob man den anderen überhaupt etwas davon erzählt. Covid-19 wird zu einer Sache des Verantwortungsbewusstseins des Einzelnen.

Brice, ein junger Ingenieur aus Kanada, hatte sich angesteckt – und verhielt sich verantwortungsbewusst. Weil im Camp keine Tests erhältlich sind, musste er mit dem Fahrrad eine Stunde im Regen nach Halstavik ­fahren, dem nächstgelegenen Ort, in dem es eine Apotheke gibt. Auf dem Weg zurück machte er irgendwo halt, testete sich positiv und fuhr dann zurück ins Camp, nur um gleich seine Sachen zu packen, den nächsten Bus nach Stockholm zu nehmen und am Flughafen in ein Hotelzimmer einzuchecken. Nachdem er wegen der Quarantäne seinen ursprünglichen Flug verpasst hatte, kam er – inzwischen negativ getestet – diese Woche nochmal zurück ins Camp. »Zum Glück übernimmt meine Versicherung einen Teil der Kosten«, meint er. »Aber dass das Camp überhaupt keinen Coronaplan hat, ist schon krass. Tests anzubieten, wäre eigentlich der Mindeststandard«.

Dabei hat Brice sich noch clever angestellt, als er sich ins Hotelzimmer verzogen hat. Andere Besucher des Camps verbringen ihre Quarantäne in den Stockbetten der hiesigen Massenunterkünfte. In den Zelten ist das ­Abstandhalten praktisch nicht möglich. Ruhe zu finden und sich zu erholen auch nicht. Die meisten Leute im Camp sind zwischen 25 und 35. Sie kriegen das vielleicht noch hin. Das Herräng Dance Camp feiert jedoch in diesem Jahr sein 40jähriges Jubiläum. Viele Ältere, die regelmäßig angereist waren, sind in diesem Jahr nicht mehr gekommen. Ob sie das je wieder tun werden, ist die Frage. Die Pandemie beschleunigt viele Prozesse.

Der ebenfalls verantwortungsbewusste Tobi aus Köln hat sich vor drei Tagen positiv auf das Virus getestet. Seitdem hält er Abstand von uns, was glücklicherweise ganz gut funktioniert, weil er in der umgebauten Garage wohnt. Nachdem er viel geschlafen hatte und schwach auf den Beinen war, sitzt er jetzt meist auf einem Gartenstuhl drei Meter entfernt von der Terrasse und liest. Wir leisten ihm abwechselnd Gesellschaft und versorgen ihn mit Tee und Essen. Während Tobi ganz offen mit seinen Erkältungssymptomen umgeht, schniefen und husten andere im Haus, ohne dass sie als krank gelten wollen. »Ich hatte erst letzten Monat Corona«, sagt Kristin, die sich seit zwei Tagen nur noch mit halber Kraft im Haus bewegt und eine Nasendusche benutzt. Sie hält es nicht für wahrscheinlich, dass es sie erneut ­erwischt hat. Kristin wirkt jedenfalls geschwächt.

Genau so wie Julia und ich. Nachts kann ich nicht schlafen, habe abwechselnd Schüttelfrost und Fieber, dazu Atembeschwerden. »Das liegt bestimmt am Jetlag und am Alkohol. Wahrscheinlich habe ich auch einfach nur einen leichten ­Sonnenstich. Gestern waren wir zu lange am Strand«, sage ich. Es wirkt wenig überzeugend. »Covid«, sagt Nunzio schelmisch lächelnd und zeigt auf mich. »Mein Test gestern war negativ! Soll ich mich nochmal testen?« frage ich. »Würde ich nicht machen«, sagt Tobi, der wirklich schon ganz gesund wirkt. »Ich fühl mich schon ganz gut«, fügt er hinzu. »Nichts würde ich lieber tun, als heute Abend tanzen zu gehen. Aber so gesund fühle ich mich eben doch noch nicht und es ist ja bekannt, wie gefährlich Sport für den noch nicht vollständig genesenen Körper ist. Das kann das Herz schädigen. Und außerdem bin ich ja de facto immer noch positiv.« Er zeigt auf seinen Test, den er vorhin gemacht hat. »Der Positivbalken war sofort da, wenn auch schwächer als vorher.«

Immer wenn ein Gast zu Besuch kommt, heißt es: »That’s Tobi, He’s got Covid.« Dann springen die Leute immer sofort zur Seite und sagen, halb im Spaß: »Get away from me!« Sie haben nicht wirklich Angst, aber sich vorsätzlich anstecken wollen sie auch nicht. Es ist ein schlechter Spaß, denn während Tobi im Haus wie ein Aussät­­ziger behandelt wird, wollen sich andere einfach nicht testen. »Wenn ich jetzt positiv bin, kann ich ja nicht mehr tanzen gehen. Denn mit Corona zur Party zu gehen, das könnte ich moralisch nicht vertreten«, sagt die Ärztin im Haus. Auch ich mache keinen Test. Nach zwei schlechten Nächten geht es mir morgens blendend. Die Tage verbringe ich mit ­anderen im Haus oder am Strand. Ich halte es wie daheim in Kreuzberg mit der Mülltrennung. Ich trenne Leergut und Altglas. Mehr nicht. Ich finde, das muss reichen. Immerhin schmeiße ich keine Computerbildschirme in den Hausmüll oder kleingeschnittene Matratzen auf den Hof. So wie meine Nachbarn. Ich lasse mich nicht testen und bleibe drei Nächte zu Hause. Zugegeben nur, weil ich mich noch »nicht so richtig fühle«. Nicht so normal kräftig wie sonst. Ich will meinen Schnupfen nicht ernst nehmen. Kann Corona sein, oder auch nicht. Irgendwie »asi«, aber irgendwie scheinen es hier alle so zu halten. Selbst Tobi bereut es, sich getestet zu haben. Die unausgesprochene Regel scheint zu lauten: Wenn du ­keine Symptome zeigst, brauchst du auch keinen Test zu ­machen. Ohne Symptome bezahlt noch nicht mal die deutsche Krankenkasse einen Test. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Zu Hause machen Julia und ich dann endlich doch einen Test. Ihr zweiter Balken erscheint recht zügig, während meiner nur noch schwach erkennbar ist. Mein Infekt ist schon dabei, sich zu verabschieden. Julia und ich hatten wohl Glück. Die Frage ist allerdings: Müssen wir uns jetzt irgendwo melden? Wem müssen wir jetzt alles Bescheid sagen? Und vor allem: Müssen wir jetzt etwa zu Hause bleiben?