Schachweltmeister Magnus Carlsen will seinen Titel nicht mehr verteidigen

Tabula rasa im Schach

Der amtierende Schachweltmeister Magnus Carlsen hatte den WM-Modus stets kritisiert. Dem Schachweltverband Fide stehen interessante Zeiten bevor.

Schach, das königliche Spiel, blickt auf eine Jahrhunderte währende ­Tradition zurück. Und diese wird auch gepflegt, schließlich trägt die ­Geschichte zum Mythos des Spiels bei. Es war deshalb durchaus bezeichnend, wie und wo Weltmeister Magnus Carlsen seinen Verzicht auf die Titelverteidigung bekanntgab: im Pod­cast seines Sponsors Unibet, eines Glücksspielkonzerns. Somit kommt es also nicht zur Wiederauflage des WM-Matches aus dem vergangenen Jahr gegen den Russen Jan Nepomnjaschtschij, das der Nor­weger Carlsen souverän für sich entschieden hatte.

Für Carlsen, der bereits seit Jahren immer wieder seine Unzufriedenheit mit dem WM-Modus zum Ausdruck bringt, ist die Entscheidung durchaus konsequent. Schachlich ist er seiner Konkurrenz längst entwachsen und steht einsam an der Spitze der Weltrangliste: Sein Abstand zur Nummer zwei der Welt, Ding Liren, ist derzeit nach der Bewertungszahl Elo größer als der Vorsprung von Ding auf Nummer 14.

Die Phasen, in denen es so wirkte, als sei es mit dieser Vormachtstellung nicht mehr weit her und als könne Carlsen doch bald vom Thron gestoßen werden, sind vorbei. Zu kon­stant ist das Spiel des Noch-Weltmeisters, der sich nun ein neues sportliches Ziel gesteckt hat: Er strebt eine Elo-Zahl von 2 900 an, die noch nie ein Spieler erreicht hat.

Um das zu schaffen, wird er seine Turniere nicht nur gewinnen müssen, er wird sie deutlich gewinnen müssen. Aber nicht nur sportlich, auch finanziell braucht Carlsen den WM-Titel nicht mehr. Seine Play Magnus Group, bei der er sowohl als Namensgeber als auch als Teilhaber fungiert, ist in den vergangenen Jahren zur wichtigsten Plattform der Schachszene geworden. Gestartet mit einer App, in der man gegen den jungen Magnus spielen kann, gehören der Firma mittlerweile unter anderem eine Schachtrainingsplattform, ein Verlag und eine Schachzeitschrift. Und auch wenn der Kurs der Aktie seit Emission kontinuierlich gesunken ist, so ist ein WM-Preisfonds von zwei Millionen US-Dollar für Carlsen kein großer Anreiz mehr.

Der Abstand von Magnus Carlsen zur Nummer zwei der Welt, Ding Liren, ist derzeit nach der Wertungszahl Elo größer als der Vorsprung von Ding zur Nummer 14.

Hinzu kommt der von Carlsen vielfach beklagte Zeitaufwand, den ein WM-Match im Kalender eines Champions fordert. Längst ist es mit ein paar Wochen Trainingslager nicht mehr getan. Computer, nun mit neuronalen Netzen ausgestattet, ­haben die Vorbereitung im Schach enorm verändert. Ein halbes Jahr ­intensiver Arbeit ist heutzutage unbedingt vonnöten. Ohne diese Vorbereitung braucht man erst gar nicht gegen seinen Gegner anzutreten, der schließlich dieselbe Tortur schon hinter sich hat, bevor überhaupt der erste Zug gespielt ist.

Dass Computer zu einer Nivellierung des Niveaus führen, dass es nach solch intensiver Vorbereitung häufig nur zu einem Abfragen der Eröffnungsvorbereitung kommt, zeigte das WM-Match von Carlsen gegen Fabiano Caruana 2018 in London. Dort endeten im klassischen Schach alle zwölf Partien mit Remis. Carlsen selbst brachte die Idee ins Spiel, dass die Spieler jeden Tag vier Schnellschachpartien gegeneinander spielen könnten und jeder Tag wie ein Satz gewertet wird. Eine Idee, die bei der Online-Serie seiner Plattform Chess 24 umgesetzt wird (und bei der Carlsen dank guter Platzierungen ­regelmäßig hohe Preisgelder abräumt), die aber den Traditionen des Schachs widersprochen hätte und sich deshalb nicht durchsetzen kann. Hinzu kommt, dass es im Schnellschach bereits eine eigene Weltmeisterschaft gibt.

Der Weltschachverband Fide wird zukünftig damit umgehen müssen, dass der Weltmeistertitel entwertet ist, wenn sich der nachweislich weltbeste Spieler nicht mehr um ihn bewirbt. Den Kampf um die Krone des Schachs wird Nepomnjaschtschij nun gegen Ding führen. Während Nepomnjaschtschij das Kandidatenturnier in Madrid souverän gewann, sicherte sich Ding erst mit einem Sieg in der letzten Runde den zweiten Platz. Ding hatte die Chance auf das Kandidatenturnier überhaupt nur, weil die Ethik- und Disziplinarkommission der Fide Sergej Karjakin für sechs Monate aufgrund dessen öffentlicher Unterstützung für die russische Invasion in die Ukraine gesperrt hatte.

Um die erforderliche Mindestanzahl an Matches vorweisen zu können, musste Ding, der aufgrund der strikten Coronapolitik in China monatelang nicht zu Wettbewerben hatte reisen können, im April 26 Turnierpartien spielen. Nur so erfüllte er alle Voraussetzungen, um in Spanien ans Brett zu dürfen. Nepomnjaschtschij, der zu den 44 Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern des Briefs »Stop the war!« russischer Spitzenspielerinnen und -spieler gehörte, würde als Titelträger dem Image des Schachs wohl eher schaden. Schließlich sind russische Sportlerinnen und Sportler in vielen Sportarten derzeit vom Wettkampf ausgeschlossen. Und in dieser Situation wird ein russischer Spieler, der von russischen Konzernen gesponsort wird, Weltmeister? Aus Sicht der Fide gibt es da allerdings wohl kein ­Problem. Schließlich spielt Nepomnjaschtschij unter neutraler Flagge, Russland und Weißrussland sind von allen Mannschaftswettbewerben ausgeschlossen und alle Verträge mit russischen Sponsoren gekündigt.

Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht, schließlich steht mit ­Arkadij Dworkowitsch ein Mann an der Spitze des Weltschachverbands, der engste Verbindungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin hat – oder zumindest hatte –, schließlich gehörte er 18 Jahre der russischen Staatsregierung an. Und die so stolze, traditionsbewusste Schachwelt? Die ist weitestgehend still, schließlich hat Dworkowitsch in seiner Amtszeit viel Geld eingeworben und verteilt. Die lauteste Stimme gegen die engen Verbindungen zu Russland, die der Schachsport weiterhin pflegt, ist ausgerechnet Magnus Carlsens Trainer, Peter Heine Nielsen. Der Däne, derzeit wohl der interessanteste Schach-Twitterer, legte immer wieder den Finger in die Wunde, hakte immer wieder öffentlich nach und forderte die Transparenz ein, die Dworkowitsch und sein Team bei ihrer Wahl 2018 versprochen ­hatten.

Wenn nun am 7. August im indischen Chennai die Spitze des Weltschachverbands neu gewählt wird, gilt Amtsträger Dworkowitsch als großer Favorit. Sein Gegenkandidat, der ukrainische Großmeister Andrij Baryschpolets bekam mit seiner Initiative »Fight for Chess« in den vergangenen Wochen zwar viel Aufmerksamkeit, nicht zuletzt, weil Nielsen bei der Initiative sein Stellvertreter ist. Aber ob dies Funktionäre beeindrucken wird, die am Ende vor allem darauf schauen, wie sie finanziell vom Weltverband profitieren, bleibt zu bezweifeln. Und so kann es am Ende des Jahres sein, dass Schach in der Sportwelt eine Sonderrolle einnehmen wird, die so gar nicht mit dem Traditionsbewusstsein und dem Anspruch, das königliche Spiel zu betreiben, zusammenpasst. Ein russischer Weltmeister, ein russischer Präsident, russische Sportler, die ­unter neutraler Flagge spielen dürfen und die sanftesten Sanktionen aller Sportverbände. Eine Bilanz, die auch Magnus Carlsen nicht egal sein dürfte.