Die Angehörigen der Opfer des Olympia-Attentats von 1972 boykottieren die Gedenkfeier zum 50. Jahrestag

50 Jahre nur Almosen und keine Entschädigung

Die Hinterbliebenen der Opfer des Terroranschlags bei den Olympischen Spielen in München kämpfen seit 1972 um Entschädigungen und eine lückenlose Aufarbeitung des deutschen Versagens.

Mit dem Gedenken und den Restitutionsangelegenheiten ist es in der Bundesrepublik so eine Sache: Man will toter Juden gedenken, aber oftmals nicht die politischen Konsequenzen ziehen und erst recht nichts bezahlen. Dieses Muster zeigte sich in den deutschen Debatten der neunziger Jahre über die Errichtung des Berliner Holocaustmahnmals und über Entschädigungszahlungen für Überlebende der Shoah. Nun sieht man es ein weiteres Mal beim Streit zwischen Angehörigen der Opfer des Olympia-Attentats von 1972 in München und der Bundesregierung um Entschädigungszahlungen. Im August haben die Hinterbliebenen ihre Teilnahme an der zentralen ­Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag am 5. September abgesagt.

»Das ist unsere endgültige Entscheidung, denn wir haben das Gefühl, dass der Missbrauch und die Art und Weise, wie wir behandelt werden, nicht aufgehört haben«, sagte Ankie Spitzer, die Witwe des israelischen Fechttrainers André Spitzer sowie inoffizielle Sprecherin der Opferfamilien, vergangene Woche in der Deutschlandfunk-Sendung »Sportgespräch«. Die öffentlichkeitswirksame Absage wurde in der Presse von der Taz über die Welt bis hin zur SZ breit rezipiert. Wie konnte es dazu kommen?

Zum 50. Mal jährt sich am 5. September der antisemitische Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München, bei dem die palästinensische Terrororganisation Schwarzer September elf israelische Athleten als Geiseln nahm und sie sowie einen deutschen Polizisten ermordete. Die Terroristen verlangten die Freilassung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie die der deutschen RAF-Anführer Andreas Baader und Ulrike Meinhof aus deutschen Gefängnissen.

Bis heute werden die Akten über den Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München unter Verschluss gehalten. Obduktionsberichte, Analysen und Einsatzprotokolle sind teilweise bis zum Jahr 2047 gesperrt.

Bereits in den Jahren vor dem Olympia-Attentat hatten islamistische, linke und rechte Terroristen mehrere Flugzeugentführungen und antisemitische Anschläge verübt. Der Brandanschlag auf ein Altenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in München 1970 mit sieben jüdischen Todesopfern, Anschläge auf Maschinen der israelischen Fluggesellschaft El Al in den späten sechziger Jahren und die Entführung einer Lufthansa-Maschine auf dem Flug von Tokio nach Frankfurt am Main im Februar 1972 durch PFLP-Terroristen sind nur einige Beispiele von vielen, die die antisemitische Radikalisierung weiter Teile der damaligen Linken verdeutlichen.

Obwohl also die Gefahr terroristischer Attacken bekannt war, versäumten es die Ordnungsbehörden unter der Leitung des damaligen Münchner Polizeipräsidenten Manfred Schreiber, ein Sicherheitskonzept für die »heiteren Spiele« zu erstellen. Nach der Geiselnahme am 5. September 1972 endete die versuchte Geiselbefreiung in einer Katastrophe: Auf dem Flughafengelände in Fürstenfeldbruck eröffneten Streifenbeamte, die keinen Funkkontakt zueinander hatten, vom Dach und dem Flugfeld aus das Feuer. In dem sich anschließenden Gefecht starben sämtliche Geiseln, fünf der Terroristen und ein Polizist.

Nach dem gescheiterten Befreiungsversuch kam heraus, dass die Ordnungsbehörden israelische Hilfe abgelehnt hatten, obwohl die deutsche Polizei zu diesem Zeitpunkt noch nicht über Antiterroreinheiten wie die GSG 9 verfügte. Der spätere GSG-9-Kommandeur Ulrich Wegener bewertete, so der Historiker Matthias Dahlke in seiner Dissertation »Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus«, den gescheiterten Einsatz wie folgt: »Das Schlimme war, dass damals niemand auf so etwas vorbereitet war, denn die Olympischen Spiele waren als fröhliche Spiele propagiert, und dementsprechend waren die Sicherheitsvorkehrungen.«

Auch wurden die Spiele nach dem Anschlag nicht abgebrochen – eine politische Entscheidung, die bis heute höchst umstritten ist. Nach der Pressemeldung, dass alle von den paläs­tinensischen Terroristen festgehaltenen Geiseln getötet worden seien, wurden die Spiele, so Dahlke, unter dem Motto »The spirit was murdered – The games must go on« fortgesetzt.

Bis heute werden die Akten über den Anschlag unter Verschluss gehalten, die Ereignisse konnten deshalb immer noch nicht gründlich aufgearbeitet werden. Obduktionsberichte, Analysen und Einsatzprotokolle sind teilweise bis zum Jahr 2047 gesperrt.

Für Ankie Spitzer und Ilana Romano, die Witwe des Gewichthebers Josef Romano, ist nun das Maß voll. In einem Brief an den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und die Bundesregierung schlugen die Hinterbliebenen, wie Marcel Gyr in der NZZ berichtete, Anfang August die Einladung zur zentralen Gedenkveranstaltung anlässlich des 50. Jahrestags des Attentats in München aus und stellen drei Forderungen: Erstens fordern sie eine öffentliche Entschuldigung und die Übernahme von Verantwortung für alle »Fehler, Versäumnisse und Lügen«. Verantwortlichen wie Schreiber oder dem damaligen bayerischen Innenminister, Bruno Merk (CSU), wird in dem Brief vorgeworfen, sie seien »inkompetent« und »arrogant«. Keiner der Offiziellen hätte jemals Verantwortung übernehmen müssen. Zweitens fordern die Hinterbliebenen die Öffnung aller Archive und fragen: »Was hat Deutschland nach fünf Jahrzehnten zu verstecken? Weitere fatale Fehler, weitere geheime Deals mit ara­bischen Terrororganisationen?« Drittens solle der Staat die Angehörigen finanziell adäquat entschädigen.

Spitzer und Romano kritisieren das von der Bundesregierung vorgeschlagene Restitutionsangebot von 5,4 Millionen Euro als »Beleidigung« und »Trinkgeld«. Dem Chefverhandler und neuen deutschen Botschaf­ter in Israel, Steffen Seibert, der unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) von 2010 bis 2021 Regierungssprecher war, sowie der Bundesregierung teilten sie mit: »Was wir erwarten, ist eine Entschädigung nach internationalen Standards, wie sie Opfer von Lockerby, der Disco ›La Belle‹ in Berlin und anderen erhalten haben.«

Eine Schadensersatzklage, bei der es um 40 Millionen D-Mark ging, sei, so Gyr in der NZZ, in den neunziger Jahren mehrfach von deutschen Gerichten abgewiesen worden – wegen Verjährung. Als die Sache 2004 vor den Bundesgerichtshof kommen sollte, wurden die Kläger zu einem Vergleich überredet. Zusätzlich zu der einen Million D-Mark, die Deutschland den Hinterbliebenen 1972 über das Rote Kreuz und die ­israelische Hilfsorganisation Magen David Adom zukommen ließ, wurden für den Vergleich drei Millionen Euro als »humanitäre Geste« bewilligt, wobei der deutsche Staat seine Mitverantwortung für die Geschehnisse nach wie vor nicht anerkannte. Von diesem Betrag seien zudem zwei Millionen Euro in Prozesskosten geflossen.

In dem zitierten Brief heißt es mit Blick auf die Restitution: »Präsident Steinmeier versprach, die Verantwortung für alle Fehler und das entsetzliche Verhalten und Versagen aller Deutschen zu übernehmen, die am 5. September an dem Massaker beteiligt waren. Wir sind der Meinung, dass die Übernahme von Verantwortung ihren Preis hat und nicht nur leere Worte oder Rhetorik sein sollte.«

Nach der Absage der Angehörigen ist kaum denkbar, dass Israels Präsident Yitzhak Herzog an der Gedenkzeremonie teilnimmt. Der Historiker Oren Osterer sagte im Gespräch mit der Jungle World: »Es ist für Deutschland besonders beschämend, wenn die Angehörigen der ermordeten jüdischen Sportler für das Versagen der damaligen staatlichen Strukturen nicht nach internationalen Standards entschädigt werden.« Ferner beweise der Verweis auf geltende Reglungen für deutsche Terror­opfer »in erschreckendem Maße, dass den Verantwortlichen die Tiefenschärfe fehlt«. Die Absage der Angehörigen findet Osterer daher »nachvollziehbar«.

Der bayerische Antisemitismus­beauftrage Ludwig Spaenle (CSU) sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, man müsse »ernsthaft prüfen, ob die Gedenkfeier nach der Absage der Hinterbliebenen noch stattfinden« könne. Im Deutschlandfunk sprach Spaenle gar von »Staatsversagen«. Hingegen sagte Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, der SZ, sie wünsche sich, »dass die Veranstaltung am Ende in einer würdevollen und aussagekräf­tigen Form stattfinden« könne. Der israelische Botschafter in Deutschland, Ron Prosor, sagte der Bild-Zeitung: »Ich hoffe, dass eine Lösung gefunden werden kann. Die Familien verdienen einen Abschluss.« Dagegen kritisierte der israelische BDS-Apologet Moshe Zimmermann in der Sendung »Sportgespräch« des Deutschlandfunks vergangene Woche die Hinterbliebenen und ihre Absage: »Meines Erachtens ist es geschmacklos, wenn nur deswegen, wegen der Frage der Entschädigung, die Gedenkstunde ausfällt.«

Die Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger (Bündnis 90/Die Grünen) sagte der Jungle World, sie sei »absolut sicher, dass die Bundesregierung nichts unversucht lässt, eine Einigung zu erzielen, die die Angehörigen als angemessen empfinden. Aber das ist vor allem deshalb kompliziert, weil nach all den vergifteten Angeboten und Gesprächen der letzten Jahrzehnte erst wieder ein Gesprächsmodus gefunden werden muss.« Es brauche »jetzt ein volles Schuldeingeständnis und eine Entschuldigung bei den Familien der Opfer. Der kommende Gedenkakt ist meines Erachtens der richtige Zeitpunkt dafür.«

Die Zeit drängt, doch wie soll eine Regierung diesen Konflikt bewältigen, deren Kanzler den sogenannten Palästinenserpräsidenten Mahmoud Abbas bei einer offiziellen Pressekonferenz unwidersprochen davon delirieren lässt, dass Israel »50 Ho­locausts« in den vergangenen 50 Jahren begangen habe? Frederik Schindler schrieb in der Welt, es sei hierzulande kaum bekannt, »dass der Drahtzieher des Anschlags, Abu ­Daoud, in seiner 1999 erschienenen Autobiographie behauptet hatte, dass Abbas für die Finanzierung des Olympia-Attentats verantwortlich gewesen sei«. Mittlerweile ermittelt die Berliner Staatsanwaltschaft gegen Abbas wegen des Anfangsverdachts der Volksverhetzung. Der Publizist Mike Samuel Delberg hatte Abbas angezeigt.

Kürzlich fanden im Münchner Olympiastadion die European Championships (Europameisterschaften in neun Sportdisziplinen) statt. Kritiker der Veranstaltung bemängelten, dass dem Gedenken an die Opfer des Olympia-Attentats zu wenig Raum gegeben worden sei. Mitte August berichtete die Presse dann über einen weiteren antisemitischen Vorfall: Eine Delegation der israelischen Mannschaft besuchte die Gedenkstätte auf dem Olympiagelände. Dort zeigte ein aus Berlin stammender ­Sicherheitsmitarbeiter den Israelis den Hitlergruß.

Die Rahmenbedingungen für eine würdige Gedenkveranstaltung mit einer ehrlichen Entschuldigung, der Festsetzung einer adäquaten Restitution und ohne judenfeindliche Vorkommnisse sind 50 Jahre nach dem Attentat denkbar schlecht.

Nach der jahrelangen politischen Auseinandersetzung gab es nur wenige Tage vor der staatlichen Gedenkzeremonie eine Kehrtwende: Medienberichten zufolge wollen die Hinterbliebenen der Opfer ein neues Restitutionsangebot der Bundesregierung in Höhe von 28 Millionen Euro annehmen. Infolge der Annahme sei zudem eine Teilnahme der Hinterbliebenen an der Gedenkveranstaltung denkbar.