Die designierte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und erste Proteste in Italien

Meloni ante portas

Nach dem Sieg des rechten Bündnisses bei den italienischen Parlamentswahlen ist Giorgia Meloni von den postfaschistischen Fratelli d’Italia die designierte Ministerpräsidentin.

Die Feierlichkeiten in der Wahlnacht fielen verhalten aus. In einer kurzen Ansprache an ihre Partei gestand Giorgio Meloni, dass sie der Aufstieg der Fratelli d’Italia (FdI, Brüder Italiens) zur stärksten Partei Italiens mit »Stolz« und »Genugtuung« erfülle, und widmete den Wahlsieg den toten Kameradinnen und Kameraden, die den Triumph nicht mehr miterleben durften. Zugleich mahnte die Vorsitzende der postfaschistischen Partei zur »Verantwortung«: Wer Geschichte schreiben wolle, müsse sich an den bevorstehenden Aufgaben beweisen.

Die Ausgangslage ist für die Wahlsiegerin komplizierter, als das Endergebnis vermuten lassen könnte. Das rechte Bündnis von FdI, Matteo Salvinis Lega und Silvio Berlusconis Forza Italia hat zwar die Parlamentswahlen mit 44 Prozent der abgegebenen Stimmen deutlich gewonnen und sowohl im Abgeordnetenhaus als auch im Senat eine absolute Mehrheit. Doch wurde in beiden Parlamentskammern die angestrebte Zweidrittelmehrheit verfehlt, die nötig ist, um Verfassungsänderungen ohne anschließende Volksbefragung durchzusetzen. Hinzu kommt, dass die Fratelli ihren Stimmenzuwachs auf 26 Prozent weniger einer weiteren gesellschaftlichen Rechtsentwicklung verdanken als vielmehr einer Stimmenverlagerung innerhalb des Rechtsbündnisses.

Für Samstag hat der Gewerkschaftsbund CGIL landesweit zu einer Demonstration in Rom aufgerufen, um bessere Arbeitsverhältnisse zu fordern.

Vor allem Salvinis Lega hat Stimmen an die Fratelli verloren und ist unter neun Prozent gesunken. Die Lega liegt damit nur Zehntelpunkte vor Berlusconis Forza Italia. Für Salvini, den selbsternannten »Capitano« der italienischen Souveränisten, wiegt die Niederlage gegen die bündnisinterne Konkurrentin schwer. Sein Führungsanspruch innerhalb der Lega ist nicht mehr unumstritten. In den Verhandlungen um die Zusammensetzung einer zukünftigen Regierung versuchen Salvini und Berlusconi, Einfluss zurückzugewinnen. Beide Herren sind nicht gewillt, die erste designierte Ministerpräsidentin ohne Gegenleistungen ins Amt zu bringen.

Widersprüche und Konflikte innerhalb des rechten Bündnisses rechtfer­tigen allerdings keine Verharmlosung des rechtsextremen Wahlerfolgs. Ungeachtet des Gerangels um die Zusammensetzung des Kabinetts, das bereits Ende Oktober vereidigt werden soll, trafen am Wochenende Abgeordnete der Lega und der FdI in einem Hotel in Rom mit ihren Bündnispartnern aus dem Europäischen Parlament zusammen. Gemeinsam diskutierten die Mit­glieder aus den ultranationalistischen, rechtsextremen Fraktionen Identität und Demokratie (ID) sowie Europäische Konservative und Reformer (EKR) unter dem Titel »Italian Conservatism. Europe, Identity, Freedom« über den Aufbau einer »neuen kulturellen Hegemonie«. Nach dem Vorbild von Melonis erfolgreichem Wahlkampf sollen die »Werte« der postfaschistischen Tradi­tion künftig nicht mehr nur verteidigt, sondern offensiv als neuer »Patriotismus« in den demokratischen Institutionen verwirklicht werden.

Die Propaganda der nationalen Souveränität steht, wie zuletzt in der Covid-19-Krise, so auch in der derzeitigen Energiekrise, im Widerspruch zur ansonsten auch von den Fratelli eingeforderten europäischen Solidarität. Erst am Mittwoch vergangener Woche hat die scheidende Regierung die Wachstumsprognose für 2023 von 2,4 auf 0,6 Prozent korrigiert. Für die zukünftige Regierung stellt sich daher das Problem, wie kurzfristig Entlastungen für die unter den steigenden Energiepreisen leidenden Privathaushalte und Unternehmen finanziert werden können. Spekuliert wird über eine Einigung des rechten Bündnisses, die als »Bürger­einkommen« bekannte Sozialleistung für alle arbeitsfähigen Erwerbslosen nach der ersten Ablehnung eines Arbeitsangebots zu streichen. Das wür­de die sozialen Diskrepanzen im Land weiter verschärfen.

Widerstand regt sich bisher nur in Form von gesellschaftlichen Protesten. Die liberalen und linken Parteien waren bereits vor der Wahl nicht in der Lage, eine wirksame Opposition zu bilden. Die Niederlage fiel entsprechend deutlich aus: Der Partito ­Democratico (PD) erhielt nur 19 Prozent der abgegebenen Stimmen. Das rot-grüne Wahlbündnis aus Sinistra Italiana und ­Europa Verde überwand nur knapp die Drei-Prozent-Sperrklausel, an der das linkspopulistische Parteienbündnis Unione popolare mit 1,4 Prozent deutlich scheiterte.

Der Movimento 5 Stelle (M5S) kam auf 15 Prozent und feierte sich als einzig erfolgreiche »progressive« Kraft. Wahlanalysen belegen, dass die rechte Anhängerschaft der einst als »postideologisch« angetretenen Fünf-Sterne-­Bewegung inzwischen Lega und FdI wählt. Dennoch versteht sich nur die Hälfte der verbliebenen Wählerschaft als »links«. Wahrscheinlich ist, dass der M5S insbesondere im Süden des Landes von der Popularität seines Vorsitzenden, Giuseppe Conte, und dessen Verteidigung des »Bürgereinkommens« profitierte. Knapp 50 Prozent der Wahlberechtigten, die ein geringes ­Einkommen haben oder erwerbslos sind, haben erst gar nicht gewählt. Mit 36 Prozent liegt die Quote der Wahl­enthaltung insgesamt so hoch wie nie zuvor in der Geschichte der italienischen ­Republik.

Als Reaktion auf die Wahlschlappe kündigte Enrico Letta seinen Rückzug vom Parteivorsitz des PD an. Er schlägt vor, in einem mehrmonatigen, geordneten Verfahren über die zukünftige Ausrichtung der Demokratischen Partei zu diskutieren und schließlich im Frühjahr in einer Urabstimmung eine neue Parteiführung zu wählen.

Doch diese Pläne könnten von einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung obsolet gemacht werden. 20 linksliberale Intellektuelle haben in der Tageszeitung Il Fatto Quotidiano einen Appell veröffentlicht, in dem sie zu einer »radikalen Diskontinuität« mit der linksliberalen Politik der vergangenen Jahrzehnte aufrufen. Der PD solle seiner Wählerschaft das Ritual einer parteiinternen Abrechnung mit abschließender Wahl eines neuen Vorsitzenden ersparen und der M5S solle unter Beweis stellen, dass er nicht nur aus wahltaktischen Gründen als »progressive« Kraft zur Wahl antrat. Beide Organisationen werden aufgefordert, sich die Tragweite ihrer Niederlage gegen die extreme Rechte bewusst zu machen und sich gemeinsam an der Bildung einer neuen linken Formation zu beteiligen. Das Minimalprogramm dieser neuen Partei habe sich an den Grundwerten der Verfassung zu orientieren: »würdevolle Arbeits- und Lohnverhältnisse, soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, Frieden und Abrüstung, Kampf gegen Ungleichheit und ein neues Staatsbürgerrecht für Menschen mit Migrationsgeschichte«.

Ähnliche Appelle hat es in den vergangenen Jahren regelmäßig nach linken Wahlniederlagen gegeben, mehrere Versuche, ein linkes Bündnis zu gründen, sind gescheitert, nichts hat den Aufstieg der Rechtsextremen aufgehalten. Jetzt aber streben die Fratelli der neo- und postfaschistischen Tradition an die Macht. Sie sinnen auf »Genugtuung« und dulden keinen Widerspruch.

Wie wichtig es werden könnte, gemeinsam Widerstand zu organisieren, zeigte sich schon in der Endphase des Wahlkampfs. Als es bei Melonis Auftritten wiederholt Gegendemonstrationen gab, forderte die potentielle künftige Ministerpräsidentin die Innenministerin auf, für mehr »öffentliche Ordnung« zu sorgen. Einer ihrer engsten Mitstreiter, der auch für die programmatische Ausrichtung der ­Fratelli verantwortlich ist, Giovanbattista Fazzolari, fabulierte sogar von einer »Strategie der Spannung« gegen seine Partei; mit diesem Ausdruck wird eine Serie von Bombenattentaten bezeichnet, die von Ende der sechziger bis in die achtziger Jahren nachweislich von neofaschistischen Gruppen verübt und von staatlicher Seite gedeckt wurden, um die Linke zu diskreditieren und zu schwächen. Fazzolaris Umkehrung dieser historischen Tatsache kann als Warnung verstanden werden und verrät jedenfalls, für welche ­»Werte« die neue potentielle Regierungspartei steht.

Für kommenden Samstag hat der Gewerkschaftsbund CGIL landesweit zu einer Demonstration in Rom aufgerufen, um bessere Arbeitsverhältnisse zu fordern und die Wiedereröffnung der römischen CGIL-Zentrale zu feiern. Vor einem Jahr war das Gewerkschaftshaus nach einer Kundgebung von Impfgegnern von Schlägertrupps aus dem Umfeld der neofaschistischen Partei Forza Nuova gestürmt und verwüstet worden. Meloni tat sich damals schwer, nicht nur die Gewalt, sondern auch deren politische Motivation zu verurteilen.