Ein Gespräch mit dem russischen Dissidenten Iwan Astaschin über seine Jahre im Gefängnis und das Scheitern der russischen Opposition

»Die Schrauben wurden nach und nach angezogen«

Interview Von Lara Schultz

Als Gefangener kritisierte Iwan Astaschin die verheerenden Zustände in russischen Gefängnissen und wurde zum Linken. Nach der Invasion der Ukraine sah er sich zur Flucht aus Russland gezwungen.

Sie vorzustellen, fällt schwer. Mir fallen einige Begriffe ein, die zum Teil widersprüchlich erscheinen: ehemaliges Mitglied der 2011 verbotenen rechtsextremen Organisation Bewegung gegen Illegale Migration (DPNI), Nationalist, National­bolschewist, Gründer der autonomen militanten Terrororganisation ABTO, Sozialist, Anarchist, ehemaliger politischer Gefangener, politischer Flüchtling, Kriegsgegner, Opposi­tioneller, Autor, Journalist, Menschenrechtler.

ABTO muss raus, alles andere darf bleiben. Aber das muss ich wohl erklären: Ich war sehr jung, als ich mich den Nationalisten anschloss und an Aktivitäten gegen illegale Einwanderung teilgenommen habe. Als Jugendlicher habe ich mich mit linken Ideen beschäftigt, mich im Alter von 25 während meiner Haftzeit dann als libertärer Sozialist verstanden, meinetwegen als Anarchist, der nationalistische und diskriminierende Ideen ablehnt. 2009, ein Jahr vor der Inhaftierung, nahm ich an den Aktivitäten der Nationalbolschewisten teil, die damals Teil der oppositionellen Parteienkoalition »Anderes Russland« waren. Jetzt ist es schwer vorstellbar, aber dieses Oppositionsbündnis gegen Putin leiteten neben dem 2020 verstorbenen Dissidenten, Schriftsteller und Querfrontstrategen Eduard Limonow von den Nationalbolschewisten der ehemalige Ministerpräsident Michail Kassjanow sowie der ehemalige Schachweltmeister und Mitgründer der außerparlamentarischen Oppositionsbewegung Solidarnost, Garri Kasparow. Damals arbeiteten also Liberale mit den Nationalisten zusammen.

»Es gibt keine einheitliche Opposition. Es gibt Liberale, es gibt antiautoritäre Linke, aber es gibt keine Organisierung, nicht einmal eine Bewegung.«

Wann brachen Sie endgültig mit den Nationalbolschewisten?

2013, nachdem Limonow seine Unterstützung für die Berkut-Einheiten, eine mittlerweile aufgelöste Spezialeinheit der ukrainischen Polizei, ausgesprochen hatte. Die stellten eine Mischung aus GSG 9 und riot police dar und schlugen 2014 den ukrainischen Maidan-Aufstand brutal nieder. Eine ABTO gab es nie, das ist eine Erfindung der Strafverfolgungsbehörden. Einige Mitangeklagte in meinem Strafverfahren haben mehrere Videos »im Namen der ABTO« veröffentlicht, aber ich hatte nichts mit deren Aktivitäten zu tun, wir gehörten keiner gemeinsamen Gruppe an, erst recht keiner Terrororganisation.

Alles andere trifft auf Sie zu?

Irgendwie schon. Seit meiner Freilassung vor zwei Jahren setze ich mich für Menschenrechte ein und nehme an Kampagnen zur Unterstützung politischer Gefangener teil. Und ich mache bei einer Initiative mit, die wegen Antikriegsaktionen Verhafteten hilft. Ich schreibe auf meinem Telegram-Kanal sowie von Zeit zu Zeit für unabhängige Medien über politische Gefangene und die Situation in russischen Gefängnissen. Ich hoffe, dass bald ein Buch mit meinen Essays über das Gefängnis erscheinen wird.

Wie konnten Sie im Gefängnis politische Ansichten entwickeln und zum Sozialisten werden?

Für mich waren Briefwechsel wichtig, wie mit dem Anarchisten Aleksej ­Makarow, der politisches Asyl in Schweden erhielt und jetzt in der Ukraine gegen Putins Armee kämpft, oder die Korrespondenz mit dem politischen Gefangenen Wladimir Akimenkow. Im Gefängnis habe ich die Bücher libertärer Theoretiker wie Bakunin, Kropotkin und Alexander Berkman gelesen oder auch die Nowaja Gaseta (im September wurde der unabhängigen Zeitung die Lizenz entzogen, Anm. d. Red.) und das Magazin The New Times. Ich habe auch von meinen Mithäftlingen gelernt, Menschen aus verschiedenen Bevölkerungsschichten, verschiedener Nationalitäten und Konfessionen.

Wie unterscheidet sich die Opposition im heutigen Russland von jener vor zehn bis 15 Jahren, bevor Sie ins Gefängnis gingen? Die Nationalbolschewisten zum Beispiel standen damals gegen die Regierung, heute unterstützen sie den Krieg.

Es gibt keine einheitliche Opposition. Es gibt Liberale, es gibt antiautoritäre Linke, aber es gibt keine Organisierung. Die vereinte Opposition, die von 2011 bis 2012 gegen Wahlbetrug und die Wiederwahl von Präsident Wladimir Putin demonstrierte, war kein trag­fähiges Bündnis. Viele »Oppositionelle« von damals unterstützen jetzt den Krieg, selbst solche, die im sogenannten Bolotnaja-Prozess 2012 zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren; einem politisch motivierten Strafprozess wegen angeblicher Gewalt gegen Staatsbedienstete während Massen­demonstrationen gegen Putins Wiedereinsetzung. Dazu gehören »Neobolschewisten« wie der linke Aktivist Sergej Udalzow und der Oppositionelle Leonid Raswosschajew sowie Nationalisten wie Jaroslaw Beloussow. Für mich sind das heute Todfeinde.

Gibt es relevante fortschrittliche linke Gruppierungen in Russland?

Es gibt in Russland viele Anarchisten, auch wenn ihre Organisationen – die »Autonome Aktion« und die »Volksselbstverteidigung« – verboten wurden. Sie sind nicht verschwunden, nehmen aktiv an Protesten teil und bringen ihre eigenen Vorstellungen ein. Die Proteste in Moskau am 24. Februar gegen die militärische Invasion in der Ukraine wurden von Anarchisten und Antifaschisten getragen. Außerdem gibt es linke Vereinigungen, den »Linken Block« und die »Russische Sozialistische ­Bewegung«, die sich auch gegen den Krieg aussprechen.

2009 waren Sie maßgeblich an einem Brandanschlag auf ein Gebäude des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB in Moskau beteiligt. Derzeit lesen wir viel über Brandanschläge auf Rekrutierungsbüros überall in Russland. Sind Anschläge für Sie heute ein probates politisches Mittel?

Im Allgemeinen nicht. Aber während der Mobilisierungsphase im Speziellen kann die Zerstörung dieser Büros die Rekrutierung neuer Soldaten verlangsamen.

Sie wurden für diesen Anschlag, der als terroristisch eingestuft wurde, zu fast zehn Jahren Gefängnis verurteilt, es war eine politisch motivierte Anklage. Kürzlich haben Sie in einem Interview gesagt, dass das Urteil für eine solche Straftat heute eher 20 Jahre lauten würde. Es ist auch eine Folge von solchen Verschärfungen des Strafrechts, dass es im heutigen Russland mit bis zu 15 Jahren Haft geahndet werden kann, einen Krieg als solchen zu benennen. Wie konnte es so weit kommen? Wo war der Protest über all die Jahre, wo die Opposition?

Seien wir ehrlich, viele Menschen haben all die Jahre geschlafen. Das harte Durchgreifen hat nicht gestern oder vor zehn Jahren begonnen. Die Verschärfung der repressiven Politik fing schon an, als Putin an die Macht kam (im Jahr 2000, Anm. d. Red.). Jedes Jahr gab es kleine, zunächst kaum merk­liche Veränderungen, die Schrauben wurden nach und nach angezogen. Und die Leute, auch die Oppositionellen, haben das so geschluckt. Wer interessiert sich schon für strengere Strafgesetze, wenn man nicht damit rechnet, selbst im Gefängnis landen zu können?

Das russische Haftsystem wird von Menschenrechtlern scharf kritisiert – überfüllte Zellen, Gewalt, Folter, Demütigungen, fehlende me­dizinische Versorgung. In Ihren Berichten über die Zeit im Gefängnis klingt manchmal noch etwas anderes durch: Sie sagen selbst, dass Sie unschätzbare Erfahrungen gesammelt haben, mit denen Sie jetzt anderen helfen können. Sie hätten in der Haft gelernt, sich für Menschenrechte einzusetzen. Das klingt nach Läuterung, nach Katharsis. Oder zugespitzt: Funktioniert die Idee der Besserungsanstalt?

Das ist jetzt schon eine rhetorische Frage, oder? Die Idee funktioniert nicht. Ich habe Erfahrungen und Kenntnis­se gesammelt, obwohl das russische Haftsystem darauf abzielt, das Individuum zu unterdrücken und zu brechen. Ich selbst wurde nicht gefoltert, das verdanke ich einer Reihe glücklicher Umstände und der öffentlichen Unterstützung. Ich saß unter anderem in Krasnojarsk, wo es im Knast einen Einzelzellenblock zur schärfsten Isolierung gibt. Dorthin werden 200 Häftlinge pro Jahr aus der gesamten Region verschleppt, die gegen die Gefängnisvorschriften verstoßen, fast alle gefoltert. Die Leute werden über Wochen dort festgehalten und dürfen nicht mal ihre Anwälte sehen, damit niemand die Spuren der Folterungen sieht. Folter und Demütigung bessern nicht.

Sie wurden auch wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot bei einer Kundgebung am 27. Februar dieses Jahres zu einer Geldstrafe verurteilt.

Das war aufgrund einer Kundgebung gegen den Krieg. 10 000 Rubel Strafe (rund 180 Euro, Anm. d. Red.).

Aus der Sicht der Behörden: Warum Vermummungsverbot, warum Ordnungswidrigkeit, wenn Sie allein für die Teilnahme hätten festgenommen werden ­können?

Die neuen Artikel des Verwaltungs- und Strafgesetzbuchs traten erst am 4. März in Kraft. Vorher brauchte es andere Gründe und Anschuldigungen.

War es das, was Sie zur Flucht veranlasst hat? Nach Ihrer Haftentlassung 2020 hatten Sie es noch ab­gelehnt, Russland zu verlassen, trotz wiederholter Festnahmen und Verhöre, trotz Verwaltungsaufsicht – also einer behördlichen Anordnung, mit der nach der Haft­entlassung Beschränkungen auferlegt werden können wie das Verbot, während bestimmter Zeiten die Wohnung zu verlassen, die Stadt zu verlassen oder Freizeiteinrichtungen zu besuchen.

Der Grund war das Gefühl oder vielmehr das Wissen, dass du wirklich für buchstäblich nichts ins Gefängnis ­geworfen werden kannst. Und das für eine sehr lange Zeit.

Wir sprachen über die Opposition vor zehn, 15 Jahren. Wo sehen Sie sie, wo sehen Sie sich in 15 Jahren?

Ich hoffe, dass es dann kein Russland mehr gibt, und dass ehemalige Russinnen und Russen mit fortschrittlichen Ansichten freie Gesellschaften auf ihren Territorien aufbauen werden.

 

Iwan Astaschin ist 30 Jahre alt, russischer Dissident, ehemaliger Nationalist und bezeichnet sich heute als Sozialist. Von 2010 bis 2020 saß er wegen Beteiligung an einem Brandanschlag auf ein Gebäude des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB im Gefängnis. Menschenrechtsorganisationen kritisierten den Prozess und die hohe Haftstrafe als politisch motiviert. Im Gefängnis schrieb Astaschin zahlreiche Artikel, unter ­anderem über Menschenrechtsverletzungen von Gefangenen. Im August dieses Jahres ist er aus Russland ­geflohen und lebt jetzt in Deutschland.