Nordkorea feuerte noch nie so viele Raketen ab wie in diesem Jahr

Hwasong gegen Hallyu

Noch nie feuerte Nordkorea so viele Raketen ab wie in diesem Jahr, doch in Südkorea bleibt man überwiegend gelassen.

Seit Kim Jong-un im Jahr 2011 die Führung der Demokratischen Volksre­publik Korea von seinem verstorbenen ­Vater Kim Jong-il übernommen hat, steigt die Zahl von Raketentest des Landes stetig. In diesem Jahr ließ der »Oberste Führer« dem ZDF zufolge bereits mehr als 40 Raketen abfeuern. Nachdem Nordkorea im Januar mit dem Test seiner Überschallraketen die bisher schnellsten Projektile des Landes abgefeuert hatte, begannen die jüngsten Raketentests am 4. Oktober mit dem bisher weitesten Flug. Die modernisierte ballistische Rakete vom Typ Hwa­song-12 legte eine Distanz von 4 600 Kilometern zurück, bevor sie weit östlich von Japan in den Pazifik stürzte. Wie zuletzt bei einem nordkoreanischen Raketentest im Jahr 2017 überflog sie dabei japanisches Hoheitsgebiet, was dort Luftalarm und Verkehrsstörungen auslöste. Die zurückgelegte Distanz zeigt, dass das mikronesische US-Territorium Guam in der Reichweite nordkoreanischer Raketen liegt.

Ob das getestete Raketenmodell auch mit einem der schätzungsweise 20 bis 30 im Arsenal vorhandenen Nuklearsprengköpfe ausgestattet werden könnte, ist unklar, doch sind in naher Zukunft erneute Atomwaffentests zu erwarten. Zuletzt konnten entsprechende Vorbereitungen an den Tunneleingängen zum nuklearen Untergrundtestgelände Punggye-ri beobachtet werden, wo zwischen 2006 und 2017 sechs Nukleartests ausgeführt worden waren. Auch die Rhetorik des Regimes lässt an seinen Ambitionen keinen Zweifel, in einem im September von der Obersten Volksversammlung verabschiedeten Gesetz bezeichnet sich Nordkorea »irreversibel« als Nuklearmacht. Der nordkoreanischen staatlichen Nachrichtenagentur KCNA zufolge können gemäß dem ­Gesetz Atomwaffen im Fall einer Invasion oder zur Verteidigung bei einem Angriff »automatisch« eingesetzt werden.

Nordkoreanischen Staatsmedien zufolge sollten die erfolgreichen Raketentests zeigen, dass das Land in der Lage sei, Ziele in Südkorea jederzeit mit Nuklearsprengköpfen anzugreifen.

Beachtlich ist an den über mehrere Tage andauernden Übungen, dass nicht primär die technische Funktionsweise der hergestellten Flugkörper, sondern deren taktischer Einsatz durch die entsprechenden Truppenverbände geprobt wurde, wie Jeffrey Lewis vom Middlebury Institut für internationale Studien in Monterey, Kalifornien, herausstellte. Den nordkoreanischen Staatsmedien zufolge sollten die erfolgreichen Raketentests zeigen, dass das Land in der Lage sei, Ziele in Südkorea jederzeit mit Nuklearsprengköpfen anzugreifen. Der Zeitpunkt der Übungen legt nahe, dass Nordkorea die gemeinsamen Militärübungen Japans, Südkoreas und der USA ebenso wie den Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi in Seoul nicht unkommentiert lassen wollte.

Die Antwort der verbündeten Streitkräfte Südkoreas und der USA auf den Langstreckentest vom 4. Oktober kam noch am selben Tag. Mit dem Abschuss von Präzisionsraketen sollte Kims ­Regime klargemacht werden, dass Raketenabschussbasen in Nordkorea ausgeschaltet werden können, wie ein Stabschef der südkoreanischen Armee verlauten ließ. Die Militäroperation war allerdings kein voller Erfolg: Eine südkoreanische Rakete des Typs Hyunmoo-2, die zu den wichtigsten taktischen Abwehrwaffen zählt, krachte in der im Osten Südkoreas gelegenen Küstenstadt Gangneung in ein Flugfeld. Die daraufhin in sozialen Medien kursierenden Videos der brennenden Einschlagstelle lösten zeitweilig Panik aus, da die Anwohner einen Angriff aus dem Norden befürchteten. Die Panne kam zur denkbar schlechtesten Zeit und bewirkt im technisch überlegenen Süden Verunsicherung darüber, wie es um die eigene Verteidigungsbereitschaft im Ernstfall bestellt wäre. Der Verlust der Kontrolle über eine weitere abgeschossene Rakete am Folgetag steigerte das noch.

Dies zeigt zwar, dass die Angst vor einem Angriff Nordkoreas schnell aufflammen kann. Im Alltagsleben deutet allerdings kaum etwas daraufhin, dass Südkorea sich noch immer offiziell im Kriegszustand mit seinem Nachbarstaat befindet. Das relativ kleine Land – in Südkorea leben zwar knapp 52 Mil­lionen Menschen, der Fläche nach ist es aber mit Portugal oder Island vergleichbar – ist zwar von Militärbasen überzogen, auf denen über eine halbe Million aktiver Soldaten der südkoreanischen Armee und 28 500 US-Truppen ihren Dienst tun, dennoch sind in der Öffentlichkeit nicht so viele Uniformierte zu sehen, wie es in einem derart hochmilitarisierten Land zu erwarten wäre. Eine der stärksten Armeen der Welt bleibt im Hintergrund, während Südkorea als Exportnation Schiffe, Autos, Elektronikgeräte und Kultur für den Weltmarkt produziert. Auch mit Raketen möchte das Land eher friedlich Schlagzeilen machen, wie im Sommer, als es zum ersten Mal mit der selbstentwickelten Nuri-Rakete einen Satelliten in die Erdumlaufbahn beförderte, der seitdem Signale an eine Bodenstation in der Antarktis sendet.

Die seit 1953 mit Nordkorea bestehende Waffenruhe wird zwar immer wieder von Zwischenfällen gestört, doch in dem hier immer noch herrschenden Zustand des Kalten Kriegs überwiegt das unheimliche Sicherheitsgefühl der gegenseitigen nuklearen Abschreckung. Die Evakuierung in Schutzbunker öffentlicher Einrichtungen allerdings wird kaum geübt; in Seoul weisen lediglich kleine Schilder an den U-Bahn-Stationen darauf hin, dass diese auch als Bunker dienen können. Die meisten Südkoreaner könnten sich bei einem Angriff kaum rechtzeitig in Sicherheit bringen, zumal der Großraum um die Hauptstadt Seoul, in dem fast die Hälfte der Landesbevölkerung lebt, in Reichweite der an der Grenze stationierten nordkoreanischen Artilleriegeschütze liegt.

Die Bevölkerung Südkoreas ist schon so lange an die konstante Bedrohung durch einen nuklearen Angriff ihres Nachbarstaats gewöhnt, dass sie sich damit abgefunden hat. Sie muss im Alltag einfach darauf vertrauen, dass es dazu nicht kommen wird. Abhängig ist Südkorea dabei von den USA, unter deren nuklearem Abwehrschirm das Land steht; bilaterale Abkommen mit den USA untersagen Südkorea die Anreicherung von Uran und damit den Bau eigener Atomwaffen. Nachdem die Zuverlässigkeit des Bündnispartners während der Regierungszeit Donald Trumps erheblich in Zweifel gezogen worden war, sprechen sich mittlerweile aber 70 Prozent der Südkoreaner für eigene Nuklearwaffen aus.

Etwas befremdlich wirkt auf viele Südkoreaner das ungebrochen große Interesse der Weltöffentlichkeit an dem Konflikt, woran sicher die Obskurität des nordkoreanischen Regimes ­erheblichen Anteil hat. Seit nach längerer Covid-19-Pause Touristenfahrten zur demilitarisierten Zone wieder erlaubt sind, stehen Busladungen ­ausländischer Touristen Schlange, um von einem Aussichtspunkt einen Blick durch das Fernglas auf die Diktatur nebenan zu werfen. Im Inland schätzt man die unter UN-Verwaltung stehende Zone hingegen vor allem für ihre biologisch produzierten Tees und Sojabohnen. Wie Israelis möchten auch Südkoreaner nicht ausschließlich mit Krieg assoziiert werden, was dank der globalen Beliebtheit südkoreanischer Musik- und Fernsehproduktionen, bezeichnet als »Hallyu« (Ko­reanische Welle), auch immer mehr gelingt.