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Misanthropische Ergüsse, Vorahnung der Nazibarbarei und Naturbetrachtungen: In einem Versteck in Südfrankreich verfasste die unter dem Künstlernamen Madame d’Ora bekannt gewordene jüdische Fotografin Dora Kallmus Briefe, Glossen, Essays und private Chroniken. Die Wiener Publizistin Eva Geber hat die nachgelassenen Aufzeichnungen aus dem Exil herausgegeben.
Jean Améry beneidete die Kommunisten im Konzentrationslager um ihre Resilienz. Nicht nur waren sie organisiert, sie interpretierten den Naziterror zudem als konsequente Zuspitzung des Klassenkriegs, während er als bürgerliches Individuum den »irreversiblen Einsturz des Weltvertrauens« erfuhr. Auch die österreichische Jüdin Dora Kallmus gehörte jenem Bildungsbürgertum an, dem ein an der Weimarer Klassik geschulter Optimismus des Schönen, Guten, Wahren eigen war. Als Flüchtling in Südfrankreich versteckt, entkam sie der Vernichtung. Ihre geliebte Schwester Anna wurde wie viele Mitglieder der Familie ermordet.
Die 1881 geborene Doris Kallmus, die unter dem Künstlername Madame d’Ora bekannt wurde, war eine der ersten Kunstfotografinnen ihrer Zeit. In Wien besuchte sie die Theoriekurse der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt, zu den Praxisseminaren war der jungen Frau der Zugang versperrt. Das Fotografieren und Retuschieren erlernte sie 1906 in Berlin bei dem berühmten Fotografen Nicola Perscheid. 1907 eröffnete sie mit Arthur Benda in Wien das Fotostudio d’Ora und avancierte zu einer der gefragtesten Porträtistinnen der Künstler- und Intellektuellenszene. Viele der heute als ikonisch geltenden Bilder von Alma Mahler-Werfel, Anna Pawlowa, Gustav Klimt, Emilie Flöge, Josephine Baker, Tamara de Lempecka und Coco Chanel sind ihr Werk. Maurice Chevalier und Jean Cocteau zählten zu ihren engsten Freunden.
»Jeder, der heute lachen kann, ist ein Verbrecher od. dumm wie ein Rind, bei dem allein Unwissenheit verzeihlich ist.« Dora Kallmus
Nach dem Einmarsch der Nazis in Paris floh sie ins Vichy-Frankreich, zunächst nach Mâcon, dann in die 700-Seelen-Gemeinde Lalouvesc auf der Hochebene der Ardèche. Dort führte sie Tagebuch, verfasste Essays und literarische Texte und beschrieb jedes Stück Papier, das sie ergattern konnte.
In jahrelanger Recherche- und Dechiffrierarbeit hat nun Eva Geber die nachgelassenen Tagebucheinträge, Aphorismen, Essaysplitter und zeitgeschichtlichen Glossen aufgearbeitet und daraus ein ungemein fesselndes und facettenreiches Kompendium zusammengestellt, dessen Kern die Reflexionen der Dora Kalmus im südfranzösischen Exil bilden. Geber darf getrost als eine der verdientesten feministischen Publizistinnen Österreichs bezeichnet werden. 35 Jahre lang war sie Redakteurin der Zeitschrift AUF und entriss mit ihren Büchern viele Schicksale kämpferischer Frauen der vorigen Jahrhunderte dem Vergessen. Mit dem semidokumentarischen Roman »Louise Michel. Die Anarchistin und die Menschenfresserin« (2018) führte sie ein deutschsprachiges Publikum jüngst in Denken und Leben der Pariser Kommunardin ein. Eine innige Freundschaft verband sie mit der Dichterin und Germanistin Ruth Klüger.
Machte Eva Geber aus ihrer Sympathie für all diese progressiven Frauen nie einen Hehl, hält sie zur apolitischen Großbürgerin Dora Kallmus wohlwollende Distanz, was die Persönlichkeit der Künstlerin umso besser in all ihrer prächtigen Zwiespältigkeit zeigt.
Die dame du monde ist 62 Jahre, als sie in ihrem französischen Exil dem Wohlwollen des Bürgermeisteramts und ihrer Gastgeber ausgeliefert ist, ständig bedroht von den Häschern der Vichy-Kollaborateure, während eine Verhaftungs- und Deportationswelle nach der anderen über Südfrankreich hinweglief, vor denen sie sich immer wieder im Hasenstall des Bauernhofs verstecken muss. In qualvoller Besorgnis um ihre Schwester Anna, die ins Ghetto von Łódź deportiert wird und mit der der Briefkontakt abreißt, durchlebt sie diese Zeit. Dennoch nimmt sie ihr Schicksal mit Gleichmut und Zähigkeit an, besänftigt ihre Verzweiflung mit Naturerlebnissen und oft bissigen Kommentaren über die Menschen, denen sie begegnet: Bauern, Kleinbürger, Flüchtlinge wie sie.
»Wer den Mut verliert, verliert alles«, dieses Goethe-Zitat kehrt als ihr Leitspruch in den Tagebüchern wieder. Goethe und ein aufgeklärtes Gottvertrauen – 1919 war sie zum Protestantismus konvertiert – sind ihre geistigen Leitsterne. Daneben finden sich Referenzen auf die von ihr verehrte Schriftstellerin Katherine Mansfield. Ideologisch ist sie alles andere als trittsicher, springt in ihren Launen zwischen konservativem Elitismus und liberalen, wenn nicht gar linken Ansichten hin und her. Mit dem Anspruch auf »Aristocratie« (der sie keineswegs entstammte) entlädt sich ihre Wut mitunter auf dem »Proletenpack« der Region, mit dem sie in erster Linie ihre bäuerlichen Gastgeber meint. In ihnen sieht sie an an einer Stelle Kanonenfutter für den Krieg. Damit sich das Proletentum nicht weitervererbe, fordert sie wenige Wochen später, die »Bolschewisten« sollten deren Kinder zu vernünftigen Wesen erziehen.
Feinsinnig und zartfühlend sind ihre Naturbeschreibungen, konventionell, aber nie geschmäcklerisch ihre Verse, scharfsinnig und illusionslos ihre aphoristischen Beobachtungen, mitunter auch Ausdruck einer aufrichtigen Misanthropie, die sich dennoch immer wieder von ihrer gleichermaßen ausgeprägten Empathie überrumpeln lässt. Ihr politisches Verständnis mag nicht ausgereicht haben, die Naziherrschaft zu verstehen, doch umso packender ist die Zwiesprache, die eine bürgerlich gebildete Individualistin mit einer barbarisch gewordenen Welt hält.
Noch weiß sie nichts von Auschwitz, doch ihre Ahnungen kann sie nicht verhehlen: »Was tue ich hier? Wie komme ich hierher? Bin ich das wirklich? Meine Schwester, wo ist meine einzige Schwester? Wo habt ihr sie hin, ihr Teufel? Unser Heim, unser Land, meine Arbeit, ja sogar in meine kleine Pariser Wohnung seid ihr jetzt eingebrochen, um das Letzte zu stehlen.« Über die politisch indifferenten Kleinbürger der Ardèche und die lachenden Bauern im Café findet sie diese Worte: »Jeder, der heute lachen kann, ist ein Verbrecher od. dumm wie ein Rind, bei dem allein Unwissenheit verzeihlich ist.« Und den scheinbar unschuldigen »arischen« Frauen schreibt sie, Jahre bevor sie von der Ermordung Annas erfährt, ins Stammbuch: »Grete, Emma … , wie ihr Alle heißen mögt – ich kann Euch alle nur – Mörder meiner Schwester heißen.«
Nach dem Krieg fotografiert Dora Kallmus zwar noch immer Prominente, der Fokus ihres Interesses hat sich aber verschoben. Für die Welthilfsorganisation UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) besucht sie Flüchtlingslager in Wien und Salzburg, in denen sowohl jüdische Überlebende als auch osteuropäische Arbeiter und Angehörige der vielen deutschsprachigen Minderheiten Zuflucht gefunden haben. Nicht unähnlich den Bildern Dorothea Langes aus den kalifornischen Obdachlosencamps aus der Zeit der Depression verleiht Kallmus diesen Menschen unabhängig von ihrer Herkunft inmitten von Armut Würde.
Eine ungewöhnliche Fotoserie führt die Tierfreundin 1954 in die Pariser Schlachthöfe. Sie, die einstige Meisterin glamouröser Weichzeichnerikonographie in Art-Dèco-Manier, fotografiert nun verstümmelte, ausgeweidete und in ewig lange Reihen gehängte Tierkadaver – Motive, die weder künstlerisch noch kommerziell besonders gefragt gewesen sein dürften. Rätselhaft bleibt der Zweck der Bilder und der Sinn der Konfrontation mit dem seriellen Töten, aber vielleicht liefert ein Tagebucheintrag vom 2.Mai 1943, in dem sie über den gehäuteten Kadaver eines Festtagshasen reflektiert, einen Hinweis: »Wie lange werden wir noch Hasen, Hühner, Fische bleiben müssen? Und doch ist es mir recht, jedes Tier zu sein, nur mit Menschen vergleicht mich nie mehr!«
Mit den »Tagebüchern aus dem Exil« hat Eva Geber der Literatur der Exilierten und Opfer der NS-Diktatur ein unerwartet vielschichtiges, intimes und lebenskluges Dokument hinzugefügt.
Madame d’Ora: Tagebücher aus dem Exil. Herausgeben von Eva Geber. Mandelbaum-Verlag, Wien 2022, 254 Seiten, 24 Euro