Alona Liasheva, Soziologin, über Wohnungsnot und die gesellschaftliche Situation in der Ukraine:

»Viele sind auf Familie und Bekannte angewiesen, um nicht obdachlos zu werden«

Interview Von Elisabeth Wolf

Nicht erst seit der russischen Invasion herrscht in der Ukraine eine Wohnungsnot. In den Städten explodierten die Mietpreise aufgrund von Landflucht und Finanzialisierung des Wohnungsmarkts.

Sie sind Stadtforscherin und Expertin für den Wohnungs- und Immobilienmarkt in der Ukraine. Wie hat sich die Wohnungssituation infolge der russischen Invasion vom Februar verändert, vor der Millionen Menschen aus ihrer Heimat fliehen mussten?

Wie in anderen osteuropäischen Ländern und weltweit gab es auch auf dem ukrainischen Wohnungsmarkt in den vergangenen Jahren eine Finanzialisierung, Privat- und Großinvestoren gewannen also an Bedeutung. Eine ukrainische Besonderheit liegt aber in der Fragmentierung des Immobilienmarkts: Viele der Wohnungen gehören nach wie vor Einzeleigentümern und -eigentümerinnen, die oft auch darin wohnen, denn ähnlich wie in Russland und anderen vormals sozialistischen Ländern haben viele Ukraine­rinnen und Ukrainer bei den Privatisierungen in den neunziger Jahren die Wohnung, die sie bewohnten, als Privatbesitz erhalten.

»Die russischen Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur, besonders die Stromversorgung, sollen die Bevölkerung einschüchtern, aber das Gegenteil scheint einzutreten.«

Wer jedoch auf den Mietmarkt angewiesen ist, hat große Probleme, und die Invasion hat die diesbezügliche Situation in den Städten noch einmal ­erheblich verschärft. Aufgrund der Massenflucht sind die Mietpreise in den Städten besonders im westlichen Teil des Landes explodiert. Eine kleine Wohnung in Lwiw hat im April über 1 000 Euro im Monat gekostet, das ist unbezahlbar selbst für die ukrainische Mittelschicht. Diese spekulativen Höchstpreise sind inzwischen zwar wieder etwas gesunken, aber nach wie vor spiegeln sich die sozialen Probleme in der Ukraine auf dem Wohnungsmarkt wider.

Gab es solche Probleme bereits vor der Invasion?

Schon vor 2014 gab es in der Ukraine eine große Land-Stadt-Wanderung. Die Menschen verkauften ihre alten Wohnungen auf dem Land, aber sie konnten sich oft keine neue Wohnung in den Städten mehr leisten. Das gleiche Pro­blem hatten junge Menschen, die im Wohneigentum ihrer Eltern groß geworden sind und ausziehen wollen. Eine dritte Gruppe, die unter dem Wohnungsmarkt litt, waren die vielen ­Binnenflüchtlinge, die seit 2014 vor den Folgen des Krieges im Donbass geflohen sind. Diese Menschen hatten immense Probleme, neue Unterkünfte zu finden. Nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch aufgrund von Diskriminierung und Vorurteilen, die Menschen aus der östlichen Ukraine ent­gegengebracht wurden, weil sie Dialekt oder Russisch sprachen oder sie für den Krieg mitverantwortlich gemacht wurden.

Wie reagiert die Regierung auf die Wohnungsnot?

Was wir jetzt bräuchten, sind ganz simple wohnungsmarktpolitische Maßnahmen, aber die bleiben leider aus: Es gibt nicht einmal die Idee einer staat­lichen Mietenpolitik oder eines öffentlich geförderten Sozialbauwesen. Aber wir brauchen Sozialwohnungen, wir brauchen Unterkünfte für flüchtende Menschen, wir müssen Mieterhöhungen regulieren und nicht die Immobilienwirtschaft weiter unterstützen. Doch das Ministerium für ­regionale Entwicklung, in dessen Ressort die Wohnungsmarktpolitik fällt, bleibt bei seiner neoliberalen Politik, der Fokus liegt auf der Reaktivierung ­eines Immobilienmarkts nach dem Krieg. Dabei gibt es sogar ein Gesetz, dass es dem Staat erlaubt, Immobilien zu enteignen, wenn ­militärische oder zivile Bedürfnisse es erforderlich machen. Aber die Regierung begreift den Immobilienmarkt nur als ökonomische Ressource und fördert weiter die Immobilienwirtschaft.

Wie sieht diese Förderung aus?

Um die Binnengeflüchteten zu unterstützen, wird mit Staatsgeld der Erwerb von Eigentumswohnungen unterstützt, was jedoch nur einem Bruchteil von ihnen, der sich die Anzahlung für die überteuerten Wohnungen leisten kann, zugute kommt. Dieses Geld könnte ganz anders verwendet werden, für den sozialen Wohnungsbau beispielsweise oder den Bau von Schutzräumen und Unterkünften für Menschen ohne Obdach oder für die Armee. Kleinere Städte wie Winnyzja, Nischyn oder Luzk behelfen sich angesichts der Not vieler obdachlos gewordener, flüchtender Menschen, indem sie einen kommunalen Sozialwohnungsmarkt schaffen. Sie mieten großflächig Wohnraum an und stellen ihn den Flüchtenden zur Verfügung. Es ist eine interessante Entwicklung, dass sich ­einige Kommunen so gegen die Regierungspolitik stellen.

Wie finden die Binnenflüchtlinge – Schätzungen gehen von um die 6,5 Millionen Menschen in der ­Ukrai­ne aus – angesichts dieser Situ­ation Unterkünfte?

Es gibt gerade keine verlässlichen Erhebungen über Binnenmigration und Obdachlosigkeit in der Ukraine, aber es ist offensichtlich, dass viele sich auf ­informelle Hilfsnetzwerke vor allem ­innerhalb der Familie und im Bekanntenkreis stützen. Die Menschen zie­hen auf der Suche nach Wohnraum durch die ganze Ukraine und wohnen in überfüllten Wohnungen. Viele kehrten auch wieder an ihren Heimatort zurück. Und so sorgen sie seit Monaten privat für ihre Unterkunft, was eigentlich ein öffentliches Interesse darstellen sollte.

Wie schätzen Sie die gesellschaftliche und politische Situation ein? Wird die Bevölkerung aufgrund der Entbehrungen der vergangenen Monate gleichgültiger gegenüber der Kriegsführung oder gewinnen nationalistische Einstellungen an Verbreitung?

Man muss natürlich Umfragen, die derzeit in der Ukraine stattfinden, mit einer gewissen Vorsicht genießen. Viele eher russlandfreundlich eingestellte Menschen in der Ukraine würden sich an Umfragen darüber, wie sie zum Krieg stehen, gar nicht beteiligen. Und dennoch: Es ist bemerkenswert, dass, je länger der russische Angriffskrieg andauert und je mehr die zivile Bevölkerung unter ihm leidet, sei es unter direktem Beschuss, der Zerstörung lebensnotwendiger Infrastruktur oder der Armut, die immer mehr Menschen trifft, die Zustimmung zum Abwehrkrieg weiter gestiegen ist.

Aus welchen Gründen?

Natürlich gibt es auch rechte Stimmen und viele Nationalisten. Sie sind manchmal in den sozialen Medien besonders laut und träumen von einem Wiedererstarken und einer Wiedervereinigung der ukrainischen Nation durch den Krieg und nach ihm. Aber der Großteil der Bevölkerung unterstützt den Krieg, weil durch seine Fortführung schlicht für ihre eigene per­sönliche Sicherheit gesorgt werden kann. So paradox es klingt.

Die andauernden russischen Luftangriffe auf die zivile Infrastruktur, besonders die Stromversorgung, haben das Ziel, die ukrainische Bevölkerung einzuschüchtern und zu demoralisieren, aber das Gegenteil scheint ein­zutreten: Die Zustimmung zum Krieg wächst. Und überraschenderweise ist das gerade nicht mit einem wachsenden Nationalismus verbunden. Nationa­lismus ist zumindest nicht dominant, klar es gibt ihn, aber vielmehr scheint es, als würden im Krieg eher lokale Identitäten, eine soziale Verbundenheit mit der jeweiligen Kommune und die lokale Verankerung, die vom drohenden russischen Kriegsimperialismus bedroht wäre, eine wichtige Rolle ­spielen. Das sind viel fragilere und stärker auf sozialen Ebenen geknüpfte Identitätskonstrukte als das der Nation, aber in der derzeitigen Situation haben sie eine große Wirkung.

Natürlich müssen und wollen wir als Linke die Auseinandersetzung mit rechten Kräften suchen. Ich wünsche mir, dass die Ukrainer die Möglichkeit haben werden, selbstbestimmt mit diesem Problem umzugehen, falls demokratische Wahlen es rechten oder nationalistischen Kräften ermöglichen sollten, sich an einer Regierung zu beteiligen. Aber das alles wird nur ­möglich sein, wenn wir den Krieg gewinnen.

Derzeit untersuchen Sie die Erfahrung von Menschen, die unter russischer Besatzung gelebt haben. Wie gehen Sie dabei vor?

In der soziologischen Studie, die von der Universität Bremen unterstützt wird, befragen wir unterschiedliche Menschen aus verschiedenen Regionen nach ihren Kriegserfahrungen. Menschen zu befragen, die derzeit noch unter russischer Besatzung leben, könnte für diese lebensbedrohlich sein, weshalb wir uns auf Personen beschränken, die entweder aus den besetzten Gebieten geflohen sind, sei es in die Ukraine oder nach Russland, und von dort aus beispielsweise weiter nach Georgien, oder deren Wohnstätte mittlerweile von der ukrainischen ­Armee befreit worden ist. Ein anderes Kriterium, nach dem wir die Befragten auswählen, um ihre Kriegserfahrung zu analysieren, ist, ob sie bereits vor 2014 in der Maidan-Bewegung ­aktiv gewesen sind.
Wie laufen die Befragungen ab?

Die Menschen werden von uns besucht, oder falls sie aus der Ukraine geflohen sind, interviewen wir sie online. Man muss natürlich sehr behutsam vorgehen, die Gefahr der Re­traumatisierung nach so kurzer Zeit ist groß. Aber wenn die Menschen Vertrauen in die Interviewsituation gewonnen haben, sind sie oft sehr dankbar, von ihren Kriegserlebnissen erzählen zu können. Das dauert meist mindestens zwei Stunden, es kann aber auch viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Mein Forschungsinteresse während der Studie war es vor allem, die alltäglichen Erfahrungen und Erlebnisse zugänglich zu machen, die gerade von der Vielzahl an dramatischen Nachrichten über den täglichen Tod durch Raketenangriffe und die Zerstörung von Städten und Dörfern eher verdeckt werden. Die Interviews thematisieren den ­Hunger, die fehlende Medizin, die vielen Tode aufgrund fehlender Gesundheitsversorgung, die Erfahrungen der Familientrennung und die Widersprüchlichkeit der Emotionen während der Entscheidungsfindung: Sollen die Menschen vor dem Krieg fliehen oder sollen sie bleiben.

Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns, wenn wir diesen Krieg überleben und ihn gewonnen haben, als ukrai­nische Zivilgesellschaft diesen alltäglichen Kriegserfahrungen und Trau­matisierungen widmen und ihnen Aufmerksamkeit schenken. Das war der Anstoß für die Studie.

 

Alona Liasheva ist Soziologin und forscht an der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Sie ist Expertin für die politische Ökonomie des Wohnungsmarkts in der Ukraine und Mitglied des Redaktionskollektivs des Magazins »Spilne/Commons« und der ­linken ukrainischen Organisation Sozialnyj Ruch.