Die Wahlen in Malaysia hielten einige Überraschungen parat

Jede Menge Überraschungen

Der langjährige Oppositionsführer Anwar Ibrahim ist neuer Premierminister Malaysias. Ob seine eigen­tümliche Koalition hält, muss sich erst zeigen.

Experten und Beobachter hatten sich schwergetan mit Prognosen für den Ausgang der Wahlen am 19. November im politisch instabilen Malaysia – in den vergangenen vier Jahren gab es drei verschiedene Premierminister: Mahathir Mohamad, Muhyiddin Yassin und Ismail Sabri Yaakob. Letzterer löste im Oktober nach einem Zerwürfnis zwischen seiner nationalkonservativen Partei United Malays National Organisa­tion (Vereinigte Nationalorganisation der Malaien, UMNO) und deren Verbündeten das Parlament auf und kündigte eine Neuwahl an, die turnusgemäß erst im nächsten Jahr angestanden hätte. Die Beteiligung lag am Ende höher, als der in die Regenzeit vorgezogene Termin hatte erwarten lassen; mehrere Landesteile hatten mit Überschwemmungen zu kämpfen. 21 Mil­lionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, die 222 Sitze im 15. Parlament seit der Unabhängigkeit von Großbritannien im Jahr 1957 zu wählen.

Die Wahl hielt Überraschungen bereit. Die größte war, dass jene Kraft, die 60 Jahre lang die Politik dominiert hatte, so abgestraft wurde, dass sie nur mit großem Abstand auf dem dritten Platz landete: Das konservative Parteienbündnis Barisan Nasional (Nationale Front, BN), das sich um die UMNO gruppiert, kommt nur noch auf 30 Mandate in der Volksversammlung, dem Unterhaus des Zweikammerparlaments. Im Zuge eines Korruptionsskandals hatte die UMNO 2018 vorübergehend ihre Stellung als Regierungspartei ver­loren, war aber drei Jahre später an die Macht zurückgekehrt.

Ein altbekannter Politiker und ehemaliger Premierminister wollte noch einmal auftrumpfen, wurde aber in den endgültigen Ruhestand versetzt: Der 97jährige Mahathir Mohamad verlor seinen angestammten Wahlkreis Langkawi, wurde dort sogar nur Viertplatzierter und zieht nicht mehr ins Parlament ein. Mahathir war von 1981 bis 2003 Premierminister, als Vorsitzender der UMNO und gestützt auf deren Regierungsbündnis BN, sowie erneut als Kompromisskandidat des Oppositionsbündnisses Pakatan Harapan (PH, Allianz der Hoffnung) von 2018 bis 2020. Der am längsten amtierende Premierminister Malaysias spielt damit in Zukunft keine politische Rolle mehr.

In Führung lag am Ende die PH des langjährigen Oppositionsführers Anwar Ibrahim, seinerseits Vorsitzender der liberaldemokratischen Parti Keadilan Rakyat (Volksgerechtigkeitspartei, PKR). Die PH kam auf 81 eigene Mandate und ein weiteres für die lose ver­bündete Jugendpartei MUDA. Die zweitplatzierte Koalition, die Perikatan Na­sional (Nationale Allianz, PN), erlangte 73 Sitze. Bemerkenswert dabei: Die in der PN eigentlich bestimmende Parti Pribumi Bersatu Malaysia (Vereinigte Partei der Indigenen, abgekürzt Bersatu), 2016 von enttäuschten UMNO-Kadern gegründet, stellt nur 24 Abgeordnete. Die stärkste Einzelpartei im Unterhaus wurde ihr Bündnispartner Islamische Partei (PAS), sie gewann doppelt so viele Sitze (49). Nie zuvor in Malaysias Landesgeschichte hat eine solche ultrakonservative Kraft ein derart starkes Wahlergebnis eingefahren, auch in Wahlkreisen, die abseits ihrer traditionellen Bastionen liegen.

Die vielen Jung- und Erstwähler haben Malaysia ein Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse beschert. Erstmals waren Wähler:innen ab dem Alter von 18 Jahren zur Stimmabgabe berechtigt. Nach der Wahl erhoben die rivalisierenden Parteienbündnisse PH und PN Anspruch auf die Bildung der nächsten Regierung, was zu einer fünftägigen Hängepartie führte. Beide Bündnisse suchen fieberhaft nach Koalitions­­part­nern, um auf die nötige Mehrheit von mindestens 112 Sitzen zu kommen.

Am 24. November wurde schließlich der 75jährige Anwar Ibrahim vom königlichen Staatsoberhaupt Sultan Abdullah als zehnter Premierminister Malaysias vereidigt. Am Abend noch trat Anwar vor die Presse und verkündete, eine »Regierung der nationalen Einheit« anführen zu wollen. Zur mit Mühe geschmiedeten Regierungskoalition gehört mit dem stark geschrumpften Bündnis BN auch der klassische politische Gegner. Bei der konstituierenden Sitzung des Parlaments am 19. Dezember wird Anwar in einer Vertrauensabstimmung beweisen müssen, dass die eigentümliche Allianz es tatsächlich auf die nötige Stimmenzahl bringt. Der neue Premierminister lud Regionalparteien sowie die PN ein, ebenfalls der Regierung beizutreten.

Der am Ende unterlegene Muhyiddin Yassin, Vorsitzender von Bersatu und PN, wird kaum auf diese Offerte eingehen. Und selbst wenn es Muhyiddin, der nach dem Regierungssturz im Fe­­bruar 2020 für 17 Monate als Premierminister amtierte, erwägen würde, wäre die islamistische PAS kaum dazu bereit. Sie beäugt vor allem die liberale und säkulare Parti Tindakan Demokratik (Demokratische Aktionspartei, DAP), den engsten Bündnispartner von Anwars PKR, mit tiefem Argwohn. Die DAP hat ihre Basis vorrangig bei den nicht­islamischen chinesisch- und indischstämmigen Minderheiten.

Für Anwar Ibrahim war seine Vereidigung ein später Triumph. Schon vor 25 Jahren war er als politischer Zögling Mahathir Mohamads zum Finanzminister und Vizepremierminister aufgestiegen. Er galt als dessen Nachfolger, bis es 1998 nach der Finanzkrise in Asien zum Bruch zwischen beiden kam. Anwar verlor seine Ämter und wurde in mehreren Verfahren wegen Korruption und vermeintlichen Sexualdelikten – »Sodomie« – zu langen Freiheitsstrafen verurteilt, von denen er fast ein Jahrzehnt absaß. 2018 kurz nach dem Wahlsieg der PH freigekommen, sollte er nach der zuvor erfolgten Aussöhnung den erneut regierenden Mahathir zur Mitte der Legislaturperiode ablösen. Das vorzeitige Ende der Regierung verhinderte jedoch die vereinbarte Amtsübergabe.

Anwar steht nun vor der Mammutaufgabe, ökonomische und soziale Probleme wie Inflation und die wachsende Arbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen sowie die extreme Feindseligkeit zwischen den großen politischen Lagern zu mindern. Deshalb versucht er, ohne Scheu auf seine stärksten Gegner zuzugehen und ihnen eine Rolle in seinem Kabinett anzutragen. Es bleibt abzuwarten, ob er damit auf Dauer Erfolg haben wird und wie der politische Preis für den Koalitionseintritt der BN ausfällt.