Cormac McCarthy erzählt in seinem Doppelroman die Geschichte eines Geschwisterpaars

Mehr Rätsel als Lösungen

Der Schriftsteller Cormac McCarthy erzählt seit Jahrzehnten Geschichten von den Rändern der US-amerikanischen Gesellschaft. In seinem neuen Doppelroman geht es um ein Geschwisterpaar – und darum, dass die Wissenschaft nicht alle Fragen beantworten kann.

Cormac McCarthy meidet Interviews. Zumindest hat er in seiner mehr als sechs Jahrzehnte umspannenden Schriftstellerkarriere – er feiert nächstes Jahr seinen 90. Geburtstag – nur eine Handvoll gegeben. Das letzte große Interview gewährte er 2007 der Talkshow-Koryphäe Oprah Winfrey anlässlich des Pulitzer-Preises für »Die Straße«, seinen Roman über die bedingungslose Liebe eines Vaters zu seinem Sohn in einem postapokalyptischen Amerika. In den seltenen Fällen, in denen er sich öffentlich ­äußerte, gab er kaum etwas über seine Art zu Schreiben preis. So verwundert es auch nicht, dass es nun zum Erscheinen seines neuen Doppelromans »Der Passagier« und »Stella Maris« keinerlei Äußerungen seinerseits gibt.

Doch am Anfang seiner Karriere, als er noch nicht zu den berühmtesten Schriftstellern der USA zählte, noch nicht den Pulitzer-Preis und den National Book Award, einen weiteren der renommiertesten Literaturpreise des Landes, gewonnen hatte, als seine Bücher (»All die schönen Pferde« von 1992, »Kein Land für alte Männer« von 2005, »Die Straße« von 2006) noch nicht verfilmt wurden, äußerte er sich recht freimütig über sein Selbstverständnis als Schriftsteller. Davon zeugen Interviews, die vor wenigen Wochen vom Cormac McCarthy Journal, einer wissenschaftlichen Publikation, die sich ausschließlich der Erforschung seines Werks widmet, veröffentlicht wurden und Jahrzehnte in Archiven vergraben lagen. Zwischen 1968 und 1980 sprach McCarthy mit kleinen Lokalzeitungen in Kentucky und dem östlichen Tennessee, wo er lange Zeit lebte. In einem dieser Interviews erzählt er über das Schreiben: »Meine Hände übernehmen das Denken. Es ist kein bewusster Prozess.« Er könne nicht erklären, wie man einen Roman schreibt: »Es ist wie beim Jazz. Die Musiker erschaffen, während sie spielen, und vielleicht können nur diejenigen es verstehen, die es auch spielen können.«

Beide Bücher folgen keinem klaren Handlungs­verlauf, sondern zeugen vielmehr von den privaten Interessen McCarthys, der einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, sich mit Philosophen und Physikern auszutauschen.

Vielleicht hilft es, diese Aussage im Kopf zu behalten, wenn man McCarthys neue Romane lesen und verstehen möchte. Denn sie unterscheiden sich doch stark von seinen vorherigen Büchern und sind in ihrer Rätselhaftigkeit nur schwer zu durchdringen. Gleichzeitig besitzen sie aber in ihrer sprachlichen Versiertheit und der atmosphärischen Dichte eine Anziehungskraft, der man sich kaum entziehen kann.

Während »Der Passagier«, der erste Teil, im Jahr 1980 spielt und aus der Perspektive des Bergungstauchers Bobby Western erzählt wird, kommt »Stella Maris« als das Transkript mehrerer Gespräche daher, die ein Psychologe 1972 in einer psychiatrischen Heilanstalt in Wisconsin mit Bobbys paranoid-schizophrener Schwester Alicia führte, kurz bevor diese sich das Leben nahm. Die Geschwister sind die Kinder eines Physikers, der während des Zweiten Weltkriegs am Manhattan Project, also am Bau der ersten Atombombe, beteiligt war und die Mitarbeit daran bis zu seinem Tod nicht bereute.

Der Vater und mit ihm die Mathematik und Physik sind prägende Konstanten im Leben der Geschwister. Es wirkt beinahe, als würden die zerstörerische Wirkmacht mathematischer Berechnungen und die Mitschuld am Bau der Atombombe beide immer wieder heimsuchen. Bobby schmiss sein Physikstudium und war Formel-2-Rennfahrer in Europa, bevor er nach einem schweren Autounfall zu seinem Beruf als Bergungstaucher in New Orleans kam. Alicia ist hochbegabt und schloss ihr Mathematikstudium mit 16 Jahren ab. Beide verbindet eine inzestuöse Liebe zueinander, die ebenso nebulös bleibt, wie der contergangeschä­digte Zwerg ohne Arme, der Alicia immer wieder während ihrer schizophrenen Episoden erscheint und wirres Zeug von sich gibt.

Immer wieder kommt es zu langen Gesprächen über mathematisch-physikalische Theorien und die mit ihnen zusammenhängenden philosophischen Fragen. Bobby verliert sich bei einem Feierabendbier mit Freunden in Diskussionen über Quantenmechanik und Stringtheorie. Alicia erzählt ihrem Psychiater von berühmten Mathematikern: Kurt Gödel hungerte sich in seiner Paranoia zu Tode und glaubte, mathematische Abstraktionen hätten eine reale Existenz, die über die materielle Welt hinausgeht; Alexander Grothendieck war der Auffassung, »die Mathematik des zwanzigsten Jahrhunderts habe den moralischen Kompass verloren«.

Beide Bücher folgen keinem klaren Handlungsverlauf, sondern zeugen vielmehr von den privaten Interessen McCarthys, der einen Großteil seiner Zeit damit verbringt, sich mit Philosophen und Physikern am Santa Fe Institute in New Mexico auszutauschen. »Der Passagier« erscheint in der Hinsicht als das konventionellere Buch, an vielen Stellen mutet es wie ein klassischer Thriller an. Zu Beginn wird Bobby Western angeheuert, ein Flugzeug zu untersuchen, das vor der Küste ­Mississippis abgestürzt ist. Auf dem Meeresgrund findet er das Flugzeug komplett unbeschädigt vor, von ­einem Passagier und dem Flugschreiber fehlt jede Spur.

Kurz nach dem Tauchgang wird er von mysteriösen Männern in Anzügen aufgesucht, die ihn über das Flugzeug und seinen Vater befragen. Woher sie kommen, bleibt ebenso unklar wie der Grund ihres Auftauchens. Bobby versucht, ihnen aus dem Weg zu gehen. Er zieht aus seiner Wohnung aus, mietet ein schäbiges Zimmer oberhalb einer Bar, trifft sich mit einer Transfrau, mit der er eine platonische Beziehung zu pflegen scheint, besucht seine Großmutter in Tennessee, heuert einen Privatdetektiv an und versteckt sich einen eisig kalten Winter lang in einem abgelegenen Farmhaus in Idaho.

McCarthys Romane erzählten immer schon von den Rändern der US-amerikanischen Gesellschaft und ihren Menschen. Seine Border-Trilogie (»All die schönen Pferde« von 1992, »Grenzgänger« von 1994, »Land der Freien« von 1998) handelt von zwei Cowboys im unbarmherzigen und kargen Grenzland zwischen Texas und Mexiko, in »Die Abendröte im Westen« (1985) demontiert er anhand einer massakrierenden Verbrecherbande zu Zeiten der Indianerkriege den amerikanischen Gründungsmythos und in »Ein Kind ­Gottes« (1974) ist es ein verwahrloster Serienkiller im Hinterland Tennessees, der von der Niedertracht und Bösartigkeit des Menschen erzählt. McCarthys Figuren sind vor allem für ihrer emotionale Gleichgültigkeit und ihren tiefen Zynismus bekannt.

Diese Nüchternheit einer unheilvollen und grausamen Welt gegenüber zeigt sich auch in »Der Passagier«, wenn Bobby beispielsweise von seinem Vater und dem Schrecken der Atombombe erzählt: »Es gab Menschen, die Hiroshima entkamen und nach Nagasaki eilten, um sich zu überzeugen, dass ihre Liebsten wohlauf waren. Und gerade rechtzeitig dort ankamen, um verbrannt zu werden. Er war nach dem Krieg mit einem Team von Wissenschaftlern dort gewesen. Mein Vater. Er sagte, alles sei rostbraun gewesen. Alles habe ausgesehen wie verrostet. Auf der geschwärzten Federung sitzend die verkohlten Skelette der Fahrgäste, Kleidung und Haar verschwunden, die Knochen mit geschwärzten Fleischfetzen behängt. Die Augen aus den Höhlen herausgekocht. Lippen und Nasen weggebrannt. So saßen sie lachend auf ihren Plätzen.«

Ähnlich in »Stella Maris«, wenn Alicia in faszinierender Detailgenauigkeit davon erzählt, sich an einem Anker angekettet ins Meer stürzen zu wollen: »Wenn man versinkt, werden die Lungenflügel zusammengepresst. In dreihundert Meter Tiefe sind sie nur noch so groß wie Tennisbälle. Der Druck auf die Ohren schmerzt enorm. Die Trommelfelle werden höchstwahrscheinlich platzen, und das schmerzt erst recht. Es gibt eine Technik, Luft durch die eustachischen Röhren in die Ohren zu drücken, aber diese Luft hat man eben nicht. Also sinkt man an einer Kette kleiner Blasen hinab. Die Berge verschwimmen. Die untergehende Sonne und der lackierte Bootsrumpf. Die Welt. Das Herz schlägt immer langsamer. Wenn man tief genug ist, hört es ganz auf. Ich glaube, wir reden von einer Qual, die einfach jeden Maßstab sprengt. Niemand hat sie je beschrieben. Und sie dauert eine Ewigkeit.«

Cormac McCarthy hat mit seinem literarischen Werk die Abgründe des amerikanischen Mythos bis an seine Grenzen erkundet. Was bleibt, ist die Frage, wie mit einer Welt umzugehen sei, die womöglich immer noch mehr Rätsel aufwirft, als die Wissenschaft zu lösen vermag, und die ebenso unbarmherzig und indifferent erscheint, wie es die Menschen oftmals sind, die in ihr leben. Eine von McCarthys Figuren hat zumindest eine Antwort darauf gefunden: »Wenn diese von der Vernunft geschaffene Welt irgendwann den Bach runtergeht, wird sie die Vernunft mitnehmen.« Und wenn diese Welt »selbst ein Horror ist, dann kann man dem nicht abhelfen, und das Einzige, vor dem man geschützt werden könnte, ist das Nachdenken darüber«.

Cormac McCarthy: Der Passagier. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022, 528 Seiten, 28 Euro

Cormac McCarthy: Stella Maris. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. ­Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022, 240 Seiten, 24 Euro