Ansgar Mohnkern wendet sich gegen die Annahme, die Welt sei ein Effekt der Erzählung

»Ausstieg aus dem Monstrum der Erzählung«

Interview Von Heike Karen Runge

Die Idee, dass jede Erfahrung von Wissen, Handeln und sogar Leben selbst nur als »Story« zu haben sei, hat einen ideologischen Kern. Dieser drängt auf Mitmachen und Weitermachen dort, wo ein Anhalten dringend nötig wäre, sagt der Literaturwissenschaftler Ansgar Mohnkern. Ein Gespräch über die Macht des Algorithmus, die Theorie der narrativen Ökonomie, die Erzählungen Putins, Trumps und Habecks und darüber, wie der Pflastersteinmoment bei Marcel Proust den Ausweg aus der Krise weisen kann.

Sie wenden sich in Ihrem Buch gegen die Vorstellung, dass alles eine Erzählung und das Leben eine »Story« sei. »Heute reden alle von Erzählung«, lautet der erste Satz. Wer ist »alle«?

Wir alle erzählen uns ständig Geschichten über uns selbst. Was aber heute, zumal unter digitalen Be­dingungen, verstärkt ins Bild rückt, ist, wie Erzählungen etwa in Profile verwandelt werden und sich damit mehr denn je gleichen und eine Einförmigkeit in Art und Richtung erhalten, wie dies zu kaum einem anderen historischen Augenblick der Fall war. Diese Geschichten werden immer vor dem Hintergrund erzählt, dass Menschen beobachtet und vor allem beurteilt werden. Dabei erzählen Menschen nicht davon, was oder wer sie sind, sondern sie reden von sich als etwas anderem, nämlich als einer abstrakten gesellschaftlichen Funktion. Die Erzählung übernimmt dabei gleichsam die Regie und macht die Subjekte zu gesellschaftlichen Figuren, die sich vermeintlich willentlich einpassen in einen Konsens, von dem angenommen wird, dass er alle irgendwie angeht. Das digitale Profil, das heute vornehmlich den Rahmen von Erzählungen liefert, haben die Subjekte ja nicht erfunden. Sie können sich nur einfinden, sich in eine vorgegebene Form einschreiben, mitmachen, mit dem gegebenen Rahmen kollaborieren.

»In jedem Fall scheint es symptomatisch, wie Robert Habeck, der Geschichten­erzähler, von Markus Lanz bis hin zur ›Bild‹-Zeitung für seine Fähigkeit gelobt und geliebt wird, die Komplexität zum Beispiel der Aufrechterhaltung der Gasversorgung zu erklären.«

Zugleich ist die Erzählung in immer neue Bereiche vorgedrungen, nicht zuletzt in die Wirtschaft, wo sie als Storytelling zu einer Säule des Marketing geworden ist. Die sinnstiftende Unternehmergeschichte hat das billige Werbesprechen abgelöst.

Ja. Und abseits davon gilt dies auch für die »Produkte« im Zeitalter der Erzählung: Jede im Grunde wertlose Kryptowährung, jedes noch so schäbige Derivat hat eine Geschichte. Die wird erzählt, um sie in etwas Sinnvolles, in etwas Wertvolles zu verwandeln. Erzählungen sind daher wesentlich an Blasenbildungen beteiligt. Alle müssen sich diesen Erzählungen fügen, müssen sich gleichsam einfinden in eine erzählte Ordnung, müssen ganz konkret die Kosten zahlen, die durch Erzählungen produziert werden, nur um dann, wie Millionen Amerikaner:innen in der Krise nach 2007/2008, obdachlos zu werden, wenn sich die Erzählung ändert und sie buchstäblich ausspuckt. Die Theorie der narrativen Ökonomie geht so weit, zu sagen, dass reale Wirtschaftsabläufe durch virale Geschichten beeinflusst seien.

Robert J. Shiller, Nobelpreisträger für Ökonomie, hat gezeigt, dass narrative Elemente wesentlich ihren empirischen Niederschlag finden in Preis- und vor allem auch Blasenbildung an den Märkten. Die These ist im Grunde banal, wenn auch schlüssig: Solange sich alle die Geschichte erzählen, dass die Häuserpreise steigen werden, solange steigen die Häuserpreise in der Tat. Es ist kein Zufall, dass der wichtigste Indikator zur Erfassung der Preisentwicklung am US-Häusermarkt der unter anderem von Shiller selbst entwickelte Case-Shiller-Index ist. Manche Blasenerzählungen halten im Übrigen in der Tat ewig. Denken wir nur einmal an Gold. Außer ein bisschen Glanz und Glamour hat Gold im Grunde keinen anderen Nutzwert als eben bloß den, Wert zu repräsentieren.

Die Storys auf Instagram, Snapchat und so weiter produzieren Ausschlüsse. Was fehlt und warum?

Es gibt Orte, an denen keine Erzählung weiterhilft. Wenn heute in Gelsenkirchen Eltern ihren Kindern am Monatsende kein Pausenbrot mehr bezahlen können, dann ist der Hunger konkret. Der lässt sich nur widerständig in eine »Story« verwandeln, hat einen fiktionalen Wert nur darin, dass er in bürgerlichen Kreisen den Reflex der Betroffenheit anrührt. Aber darin ist die Erfahrung keine geteilte, sondern eine in Fiktion verwandelte. Sie hat nach vor allem bürgerlichen Maßstäben einen Wert, für das Kind hingegen ist sie im Grunde belanglos.

»Ich erzähle, also bin ich« – auf diese Formel bringt es der Germanist Fritz Breithaupt, dessen im Juni bei Suhrkamp erschienenes Buch »Das narrative Gehirn. Was unsere Neuronen erzählen« ein Bestseller ist. Was sagt dieser Erfolg über unsere Gesellschaft aus?

Das Buch ist leider erschienen, als meines schon geschrieben war. Schon der Titel berührt ja die im Grunde immer schon zirkulierende Vorstellung, dass der Mensch als homo narrans immer ein Geschichtenerzähler war – und immer sein wird. Das heißt, Erzählung wird zu einer an­thropologischen Konstante erklärt und in etwas Natürliches verwandelt, in einen Normalzustand, der vor allem eines ist: unabänderlich. ­Erzählung wird damit zu einer Spielart dessen, was Georg Lukács »zweite Natur« nannte. Verkürzt gesagt: Sie wird Ideologie, in dem Sinne, dass sie sich zur Natur erklärt, obwohl sie doch im Grunde bloß kulturell, also in geschichtlichen Konstellationen entsteht. Sie verschleiert ihren im Kern geschichtlichen Charakter, der ja – anders als Natur – immer eines bedeutet: nämlich dass die Welt auch anders sein könnte, dass sie veränderbar ist.

Bei Breithaupt schimmert diese Idee, dass es einmal anders sein könnte, zwar auch auf. Mir scheint aber weniger im Buch selbst als vielmehr in seinem Erfolg ein Symptom unserer Gegenwart zu liegen. Denn schon der Titel bedient das Bedürfnis, uns durch die Naturalisierung und Neuronalisierung von Erzählung von der Notwendigkeit zu entlasten, uns endlich der geschichtlichen Welt zuzuwenden, der es ja bekanntlich – unter der Konstellation von digitalem Spätkapitalismus, ökologischer Kata­strophe, Krieg und rasender Ungleichheit – nicht so gut ergeht dieser Tage. In gewisser Weise gilt Marx’ berühmtes Diktum hier in abgewandelter Form: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden erzählt, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.

»Jede im Grunde wertlose Kryptowährung, jedes noch so schäbige Derivat hat eine Geschichte. Die wird erzählt, um sie in etwas Sinnvolles, in etwas Wertvolles zu verwandeln. Erzählungen sind daher wesentlich an Blasenbildungen beteiligt.«

Der amtierende deutsche Vizekanzler ist kein Jurist, wie so viele hochrangige Politiker vor ihm, sondern ein ziemlich erfolgreicher Jugendbuchautor. Was sagt das über die Politik und die Gesellschaft aus?

In jedem Fall scheint es symptomatisch, wie Robert Habeck, der Geschichtenerzähler, von Markus Lanz bis hin zur Bild-Zeitung für seine ­Fähigkeit gelobt und geliebt wird, die Komplexität zum Beispiel der Aufrechterhaltung der Gasversorgung zu erklären. Das heißt jedoch im Grunde: den Industriestandort erhalten, Kontinuität gewähren, Weitermachen. Und gerade dieses Weitermachen ist natürlich entschieden auch ein erzählerisches. Denn Erzählungen wollen, weil sie ja auf eine Weise Geschichte in Natur verwandeln, immer weiter, nie enden. Sonst würden sie plötzlich sichtbar als das, was sie sind: Fiktion und Geschichte.

Habecks Politikstil kommt vor allem in neobürgerlichen Kreisen gut an, weniger im Milieu der Arbeiter und Handwerker.

Natürlich wirkt die Fiktionalisierung mit an der ideologischen Verfestigung des grünen Projekts als eines im Kern zutiefst bürgerlichen. In diesem bildet die Fähigkeit, »gute« Geschichten zu erzählen und dabei die Welt funktional zu organisieren, auch immer das hegemoniale Privileg einer herrschenden Klasse. Anders gesagt: Dieses Projekt erzählt betroffen von hungernden Kindern, aber agiert doch gemäß dem Diktat des Weitermachens.

Andere Länder haben noch ganze andere Geschichtenerzähler: In den USA ist es der ehemalige Präsident Donald Trump, in Russland ist es Präsident Wladimir Putin, der sich einer imperialen Erzählung bedient. Welche Gemeinsamkeiten gibt es aus erzähltheore­tischer Sicht zwischen beiden?

Hier erscheint die bisweilen schamlose Abstandnahme vom geschichtlich Konkreten, vom »Wahren« im klassischen Sinne fast als die Vollendung eines Zeitalters, in dem die ­Erzählung primär ist. Autoritäre Erzählungen sind im Großen und Ganzen grundfalsch und eigentlich leicht als Lüge greifbar. Aber das macht nichts, sie nehmen die Menschen in tragischer Weise mit, verleiben sie sich als Follower ein und machen sie zu Agenten der Erzählungen. Das wird uns nicht mehr loslassen in den nächsten Jahrzehnten, fürchte ich, auch weil Akteure wie Trump, Jair Bolsonaro oder eben Putin erkannt haben, dass liberale Gesellschaften selbst vor allem mit dem Kampf um die hegemoniale Erzählung beschäftigt sind und damit zwar vielleicht die »smartere«, aber darum im Grunde immer noch nicht ganz wahre Erzählung zur Quelle ihrer Legitimation machen.

Der Fall Russland ist im Übrigen symptomatisch für die Beugung von Wirklichkeit und Gesellschaft durch Erzählung. Nehmen wir zum Beispiel Marx’ schlagende Beobachtung über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation als die ursprüngliche Inbesitznahme der Welt. Am Russland der neunziger Jahre lässt sich gut studieren, wie diese Verwandlung der Welt in Privateigentum im Grunde kriminellen Charakter hat und vor allem auf Gewalt basiert. Im Nach­hinein, so Marx, wird diese Aneignung als Geschichte verpackt und verschleiert, in der die Tatsache, dass die Welt bloß wenigen gehört, am Ende plötzlich sinnvoll erscheint, ja noch mehr: dass sie im Grunde sogar eine natürliche Ordnung ist. Nicht umsonst reden ja heute alle – zu Recht – von Putins Erzählung vom alten Russischen Reich. In dieser Erzählung sind die konkreten Widersprüche der Gegenwart und vor ­allem das schon groteske Maß an krimineller Ungleichheit aufgehoben in einer Kollektivgeschichte, die die Wirklichkeit verschleiert. Und in diese Ordnung haben sich die russischen Bürger:innen dann eben einzufinden.

Denn der Effekt der Erzählung ist die Wirklichkeit, in der sie leben: dass die Welt immer zunächst einmal ­einem Oligarchen gehört und eben erst dann »Welt« ist, die sie konkret angeht. Das heißt: Erzählung, die ja immer – wenn auch entfernt – Bezug nimmt auf eine geschichtliche Welt, produziert eine neue, eine andere, eine – wie wir heute sehen – nicht weniger gewalttätige. Diese erzählte Wirklichkeit ist zwar eigentlich bloß abstrakt, aber – besonders sichtbar in Zeiten des Krieges – ist sie heute doch die eigentlich wirkliche geworden, in der die Menschen leben. Das ist grotesk, könnte man meinen, ist aber nun eben einmal das traurige Ende eines Vertrauens, das man der Erzählung gewährt.

»Nicht umsonst reden ja heute alle – zu Recht – von Putins Erzählung vom alten Russischen Reich. In dieser Erzählung sind die konkreten Widersprüche der Gegenwart und vor allem das schon groteske Maß an krimineller Ungleichheit aufgehoben in einer Kollektivgeschichte, die die Wirklichkeit verschleiert.«

Was unterscheidet formal eine linke und eine rechte Erzählung? Hat es etwas mit dem Verhältnis von Utopie und Geschichte zu tun?

Zunächst einmal ist es nicht unbedingt so, dass eine Welt ohne Erzählungen möglich oder gar zu wünschen ist. Aber entscheidendes Merkmal einer »richtigen« oder linken Erzählung wäre in meinen Augen, dass sie ein Angebot zu machen hat für einen Ausstieg. Das heißt, sie muss gleichsam ausstellen, dass die Geschichte nicht von etwas Ewigem erzählt und selbst nicht ewig ist. Den Kern der »falschen« Erzählung hingegen trifft ein berühmter Satz Walter Benjamins aus dem Passagen-Werk: »Daß es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe.« Erzählungen, die geschichtliche und veränderbare Wirklichkeit in unveränderliche und ewige Natur verwandeln und dabei kein Angebot zur Rückverwandlung machen, tun nämlich gerade dies: Sie wirken mit an der Aufrechterhaltung der Kata­strophe. Bestes Beispiel ist der faschistische Fetisch von Rasse, Nation und Volk. Solche Manien sind Manien der Ewigkeit, sie zielen auf mythische Naturzustände und werden von der Leugnung dessen getragen, dass es sich um Effekte von Erzählvorgängen handelt. Aber auch liberal-kapitalistische Gesellschaften produzieren Ideologeme durch Erzählung, etwa indem sie jenen Gewaltakt der ursprünglichen Akkumulation in Erzählung verwandeln und schließlich in Form des Rechts auf Eigentum verewigen.

An welche Autoren und Autorinnen denken Sie?

Kurioserweise kennt das Jahrhundert der großen Erzählungen, das 19. Jahrhundert, etwa bei Proudhon, Marx, Bakunin, selbst Max Stirner, noch viel mehr grundsätzliche Meditationen über eine eigentumslose Welt als unsere Gegenwart. In dieser erlebt die Phantasie über eine eigentumslose Welt erst vielleicht in den jüngsten Jahren wieder zaghaft eine Renaissance, zum Beispiel in dem rezenten Buch von Adrienne Buller und Mathew Lawrence, »Owning the Future«. Ich glaube, linke Erzählungen müssen sich dadurch auszeichnen, dass sie eben einen Ausstieg aus der Verewigungsspirale ihrer Erzählung anbieten. Vielleicht auch nur in Form von Unterbrechung, von Disruption. Erst einmal aufhören. Alles auf Stopp setzen.

Dafür liefert die Literatur der klassischen Moderne interessanterweise viel häufiger Exempel als etwa Literatur der Gegenwart. So brechen Kafkas Erzählungen oft einfach ab, nachdem sie zuvor das Schmerzhafte zur Schau gestellt haben, in denen sich die K.s dieser Welt erzählerisch verstricken; Robert Musil phantasiert im »Mann ohne Eigenschaften« vom »Nicht-sich-Entwickeln« und »Steckenbleiben«; Marcel Proust bietet den Ausstieg aus dem Monstrum der Erzählung, das er selber so furios und kunstvoll nachvollzieht, darin an, dass er Marcel über zwei Pflastersteine stolpern lässt: »Als er mit dem Fuß an einen herausstehenden Pflasterstein im Hof der Guermantes stößt, denkt er an Venedig zurück, wo er über die Bodenplatten des Baptisteriums von San Marco stolperte … «

Das sind Modelle für emanzipative Erzählung, für Erzählung nämlich, die auf ihr eigenes Ende, ihre Abschaffung abzielt, also eben nicht bloß weitermacht und – mit Robert Habeck – den Industriestandort sichert. Das heißt, die Linke muss veritable Ausstiegsoptionen anbieten und für einen Augenblick sichtbar machen, dass das hungernde Kind in Gelsenkirchen keine Erzählung, sondern die Wirklichkeit ist, die alle von uns einholen kann, wenn wir nicht aufhören, stoppen, »steckenbleiben«. Dies ist im Angesicht gesellschaftlicher und ökologischer Ungleichheiten dringender denn je und bedarf unbedingt dieser Szenarien des Ausstiegs, der Unterbrechung, vielleicht auch der Sabotage. Denn vielleicht geht es genau darum: Erzählungen zu entwerfen, die die Erzählung selbst – als Ideologie, die sie ihrem Wesen nach produziert – sabotiert.

Sie erinnern in Ihrem Buch an Scheherazade im Märchen »Aus tausendundeiner Nacht«. Scheherazade entgeht der Hinrichtung, die der Sultan für sie vorgesehen hat, indem sie ihm spannende Geschichten erzählt. Der Grundantrieb des Erzählens ist die Abwehr des Todes?

Ich glaube, so kann man es sehen. Diese Abwehr aber, die bei Scheherazade noch spielerisch, kunstvoll und vor allem konkret individuell geschieht, ist heute zu einer kollektiven Verdrängungspraxis geworden, die von Erzählungen am Leben gehalten wird. Zwar versprechen viele Erzählungen eine Form von ewigem Leben, aber sie wirken eben doch ganz entschieden an jenem Weitermachen mit, an dessen Ende zumindest eine Form des Unglücks, vielleicht – im Angesicht der ökologischen Katastrophe, in die uns das kapitalistische »Projekt«, wie es Mephistopheles in Goethes »Faust« nennt, hineinbefördert hat – ein großes Sterben steht: von Pflanzen- und Tierarten, vielleicht auch von uns selbst.

»Die Situation ist im Angesicht gesellschaftlicher und ökologischer Ungleichheiten dringender denn je und bedarf unbedingt dieser Szenarien des Ausstiegs, der Unterbrechung, vielleicht auch der Sabotage.«

Wir wissen alle: Es steht im Grunde nicht gut um das Leben auf dem Planeten, aber wir alle – ich auch – machen trotzdem irgendwie weiter. Denn das gilt auch: Erzählung und Ideologie ist ja nicht bloß das, was die anderen machen. Sondern ich selbst mache schon qua meiner Funktion als Hochschullehrer mit, produziere Erzählung, produziere Ideologie. Damit verkehrt sich diese Abwehr des Todes, die die Erzählungen von »Tausendundeiner Nacht« leisten, heute also nach erdgeschichtlichen Gesichtspunkten vielleicht in ihr Gegenteil: am Ende aller Erzählungen steht das große Sterben.

Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« ist für Sie das Beispiel für die mimetische Nachstellung einer narrativen Praxis des Weitermachens im Sinne einer Auflehnung gegen den drohenden Tod. Was unterscheidet die »Recherche« strukturell von den wild wuchernden Erzählungen der Postmoderne?

Zunächst einmal ist die »Recherche« so etwas wie die Quintessenz des Erzählens schlechthin. Sie stellt in jeder Hinsicht das ungeheure Mons­trum zur Schau, das wir Erzählung nennen. Jeder Twist, jedes Arrangement, jeder Kunstgriff narrativer Ordnungen wird uns darin vorgeführt – in all den Verführungen und all den Unwahrheiten und Verstellungen, die diese Ordnung zu produzieren in der Lage ist. Dabei werden wir zusammen mit dem armen Swann, der im ersten Teil der »Recherche«, »Auf dem Weg zu Swann«, zum Muster der unglücklichen, weil verfehlten Suche nach Wahrheit wird, in einen schier unüberschaubaren Komplex von Zeichen, Verweisungen, Zeit- und Bedeutungsschichten hingeworfen, der uns selbst an der Erzählung immer wieder verzweifeln lässt.

Swann stürzt sich in eine unglückliche Liebe, die sich zu Obsessionen eines Eifersüchtigen steigert, der hinter den Zeichen von Prousts Welt immer noch eine zweite Welt von Bedeutung vermutet, die aber ewig verschlossen, ewig rätselhaft ist, obwohl sich dahinter vielleicht am Ende gar nichts verbirgt. Dieses Schattenspiel von Anspielungen, Referenzen, Bedeutungen organisiert Proust grandios. Swanns Stellung in diesem Spiel ist aber zugleich eine grundlegende Erfahrung auch unserer konkreten Wirklichkeit heute: dass nämlich am Ende doch andere die als allgemein gültig angesehenen Erzählung produzieren und uns der Versuch, hinter deren Bedeutungsmuster zu blicken, im Grunde doch nur ins Unglück führt.

Das erklärt zum einen unsere, auch politische, Resignation, die daher rührt, dass wir – so wie Swann – uns immer schon in einer Erzählung von immer neuen Vermutungen, Referenzen, Zeichen wiederfinden. Zum anderen aber zeigt uns Proust, dass wiederum nur genau die Erzählung als Herrscherin über die Wirklichkeit eingesetzt wird, die wir nicht erweichen und der wir nicht entrinnen können. Wir müssen uns genau wie der arme Swann irgendwie in die Erzählung einordnen, uns in ihr arrangieren, durchwursteln, irgendwie weitermachen. Und doch, bei allem Snobismus, allem Ästhetizismus und all dem grotesk falschen und unglücklichen Leben, in das die »Recherche« uns über viele tausend Seiten führt, gilt auch, was ich meinen Student:innen immer sage: Wer sie nie gelesen hat, stirbt am Ende unglücklicher.

Inwiefern?

Das rührt daher, dass Proust der Frage nachgeht, die auch jeder emanzipativen Bewegung zugrunde liegen muss: der Frage nach der Möglichkeit von glücklichem Leben nämlich. Dieses glückliche Leben ist eines, das uns zum einen nur vor der Folie des unglücklichen Lebens in der Erzählung, zu dem etwa Swann verdammt ist, sichtbar wird. Zum anderen aber zeigt Proust, dass es eben nicht bloß in der Konvention zu finden ist, sondern vielmehr aus gesellschaftlichen Funktions- wie auch Produktionszusammenhängen grundsätzlich herausfällt. Es geht also ums Anhalten, ums Aussteigen aus der Erzählung. Darum auch, wie im letzten Band der »Recherche«, das Stolpern über Pflastersteine. Im Grunde ergibt das keinen Sinn, ist aber eine konkrete individuelle Erfahrung, die nur für Marcel gilt und damit seinen je individuellen Anspruch auf Glück zu verwirklichen in der Lage ist.

»Kurioserweise kennt das Jahrhundert der großen Erzählungen, das 19. Jahrhundert, etwa bei Proudhon, Marx, Bakunin, selbst Max Stirner, noch viel mehr grundsätzliche Meditationen über eine eigentumslose Welt als unsere Gegenwart heute.«

Marcel wird am Ende Schriftsteller, aber das heißt im Grunde nichts anderes, als das er aus dem Kontinuum der Erzählung herausfällt und damit in die Lage versetzt wird, vor allem eines zu tun: sich zu artikulieren. Ins Gesellschaftliche gewendet heißt das, dass uns die »Recherche« an den legitimen Anspruch erinnert, dass wir uns so einzurichten haben, dass alle diesen Raum von Artikulationsfähigkeit zumindest betreten können, dass alle – wenn man so will – ihren eigenen, je konkreten Wünschen näher sein können, als sie es unter Bedingungen von Ideologie und Erzählung sind. Es geht also um Partizipation, um die Möglichkeit der Mitbestimmung, im höheren Sinn auch um ernstgemeinte Demokratie.

Sollte Proust der Demokratie am Ende näher gekommen sein, als es Habeck mit seinem Postulat »Wir werden ärmer werden« heute ist?

Das Kuriose bei Proust ist für mich bis heute, dass er mich immer wieder an die oft vergessene Selbstverständlichkeit des Anrechts auf Glück erinnert, und zwar für alle. Der erste Satz – »Longtemps, je me suis couché de bonne heure« – spricht die ethische, aber am Ende natürlich auch politische Frage nach Glück (»bonheur«) ja schon an, aber eben in entstellter, verzerrter Form einer Art von Pünktlichkeit (»de bonne heure«). Die Bedeutung von Glück vergessen wir immer wieder, weil wir mit Weitermachen, mit Vorwärtskommen, mit »development«, also mit Formen und Praktiken beschäftigt, die auch in Erzählungen eine entscheidende Rolle spielen. Das ist vielleicht auch der Grund, warum Proust trotz seines manischen und in Teilen vielleicht sogar parodistischen Snobismus für Kritiker wie Benjamin, Adorno oder auch Julia Kristeva immer ein fester Referenzpunkt in einem auf Emanzipation und glückliches Leben abzielenden Denken geblieben ist.

Jene Konventionen, die das gute und glückliche Leben verstellen, werden bei Proust organisiert von einem monströsen Apparat der Erzählung, der sich in immer wieder neuen Verweissträngen ausbreitet. So schlägt Swann eines Tages die Zeitung auf, und schon ein Bericht über ein Schiffsunglück im Kanal setzt über eine Reihe von Ortsnamen eine ­Assoziationskette in Gang, die seine Gedanken zurück zum obsessiven Gedanken führt, dass seine Geliebte einen anderen Geliebten hat. Das ­alles funktioniert wie die Erzählung selbst, die uns ja von einem Schauplatz, Namen oder Gedanken zum anderen führt, ohne dass wir je irgendwo ankommen. Nicht umsonst haben Literaturtheoretiker wie Roman Jakobson Erzählung als ein »flaches« System metonymischer Verschiebungen bezeichnet.

Dem entgegen hält Proust ein Modell des Herausstolperns aus diesem System ununterbrochener ­Verschiebungen. Er erinnert uns damit an die Möglichkeit, dass ein Aussteigen, ja ein Heraussprengen aus diesen endlosen Verweisketten möglich ist, in die sich alle schon selbst einmal verstrickt haben, die die »Recherche« lesen und »total« zu entziffern versuchen. Dieses Angebot des Herausstolperns, dass die »Recherche« in ihrem letzten Band macht, ist zutiefst emanzipativ. Proust ist dabei beides: Erzähler und größter Kritiker der Erzählung, oder anders gesagt: Er produziert Ideologie genauso, wie er sie zugleich aufbricht. Das macht seinen Beitrag zur Analyse der Erzählung aus, die zum einen ihre monströse Gestalt annimmt, zum anderen aber eben auch porös wirkt und einen Ausstieg bereithält.

Die Linke sollte also nicht nur Marx, sondern auch mal Proust lesen?

Der Literaturwissenschaftler Fredric Jameson hat einmal gesagt, dass es heute einfacher sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Wenn wir davon ausgehen können, dass es eine Verbindung zwischen Kapitalismus und einem erzählerisch-ideologischen Apparat gibt, der suggeriert, dass es immer »so weiter« geht, dann ist durch die Linse Prousts betrachtet also der Blick darauf freigelegt, dass dieser Apparat und mit ihm eben auch eine kapitalistische Ordnung, die konkretes Unglück produziert und dabei auf Ewigkeit abzielt, zumindest zum Stillstand zu bringen ist. Das ist emanzipativ in jeder Hinsicht, weil es beides leistet: Erzählung als Ideologie auszustellen und uns aus ihr herauszusprengen.

Die »Ideologie des Erzählens« hat eine neuen Schauplatz im Digitalen gefunden. Selbst der ­Holocaust wird ins Format »Insta-Story« eingepasst, wie das Projekt »eva.stories« zeigt, das die wahre Geschichte eines ermordeten jüdischen Mädchens auf einem fiktiven Account erzählt.

Ja, das Internet ist eine digitale Ordnung, die uns in ähnlicher Weise in sich einschließt, wie bei Proust die Charaktere in die Erzählung eingeschlossen werden. Zunächst einmal wird das wesentlich durch die Struktur von Profilen geleistet. Selbst wenn sie zum Beispiel auf Instagram nur in Bildern funktionieren, so ist doch jedes einzelne Bild nur eine Wegmarke in einer der Idee nach endlosen Kette von Daten, deren Gesamtheit dann Information genannt wird. Das hängt zum einen mit dem digi­talen Geschäftsmodell zusammen, das ja wesentlich darauf fußt, dass – ganz gleich ob bei Whatsapp, Instagram, Google oder einem der vielen Internetgames – wir weiterdaddeln und eben in unbezahlter Arbeit jene Daten produzieren, die von der Logik der Unternehmen her den Mehrwert bilden.

Frappierend ist dabei die Verwandtschaft zu Proust: Wie Swann in einer Kette von Zeichen gefangen ist, die zusammen die Erzählung bilden, so befinden wir uns im Internet heute in einer Kette von Daten, deren Gesamtheit das bildet, was wir »Information« nennen. Beide Systeme – Erzählung und Information – sind aufs Engste verwandt: Zum einen machen sie aus konkreten Indi­viduen so etwas wie abstrakte Subjekte, die nach den Gesetzen einer vorgegebenen Logik funktionieren. Zum anderen haben sie als »flache« Systeme auch den Anspruch auf eine Art von Wahrheit aufgegeben, die der Idee nach immer auf eine andere Ebene verweist, die außerhalb der Ordnung liegt, in der wir agieren. Das mag im Zeitalter, in dem wir uns vielfach der postmodernen Konven­tion hingegeben haben, nach der sowieso alles bloß Konstruktion, bloß relativ und vor allem nie wahr ist, wie aus der Zeit gefallen wirken. Aber der Skandal von Erzählung und Information ist der, dass diese Wahrheit, die wir vielfach als metaphysisch verschreien, aber die eigentlich bloß mit einer Ebene korrespondiert, die sich eben nicht innerhalb der Ordnung findet, in der wir uns bewegen, uns erst in die Lage versetzt, eine Vorstellung davon zu haben, dass es überhaupt ein »Außerhalb«, eine Utopie oder gar eine bessere Ordnung gibt. Diese Möglichkeit zu vergessen, ist aber eben Teil der Arbeitsweise sowohl von Erzählung als auch von Information. Beide lassen im Grunde keine Alternative zu, lassen die Subjekte – hier etwa als Charakter, dort als Profil – nicht raus. Das macht das Internet unter Bedingungen jener Geschäftsmodelle, die uns zum Weiterdaddeln bewegen, latent zu einer endlosen Erzählung: Kein Ausstieg, kein Exit, kein »Steckenbleiben« in Sicht.

Ende der Neunziger wurde das neue Erzählfernsehen im Feuilleton euphorisch aufgenommen. In den nuller Jahren war es die Netflix-Serie, die als Erbin des Romans gefeiert wurde. Inzwischen ist etwas Ernüchterung eingekehrt. Offenkundig ist, dass den Formaten der Streaming-Dienste der Suchtcharakter eingeschrieben ist, vor dem Adorno in seinen Fernsehanalyen gewarnt hat.

In der Tat ist das Genre der TV-Serie symptomatisch für das kulturelle Bewusstsein im digitalen Spätkapitalismus. Diese ist ja nicht nur sowieso seriell-erzählerisch, sondern eben auch an das spezifische Geschäftsmodell gebunden, das den Konsum als ununterbrochenen anstrebt, weil er entweder direkt bezahlt wird oder aber – wie im Fall von Youtube – die Kette ununterbrochener Datenproduktion fortsetzt. Serien wie »Breaking Bad« oder »Game of Thrones« haben zwar ein Ende, aber doch nur insofern, als uns Algorithmen danach gleich gezielt mit Anschlussprodukten versorgen und wir so in einer Art endloser Ersetzungskette landen. Jeder Konsum hat dabei immer schon einen anderen zur Folge und wird gezielter denn ja algorithmisch organisiert. Das betrifft Hundefutter in gleiche Maße wie den Konsum von Monstertruck-Videos auf Youtube. Algorithmen sind überall und führen uns »personalisiert« durch das undurchdringliche Dick­icht von Information. Sie weisen uns den Weg zur nächsten Variante von veganem Futter für den alternden Vierbeiner oder per Autoplay zum nächsten Video.

Was ist daran aus erzähltheoretischer Sicht interessant?

Interessant ist, dass es eine Verwandtschaft zwischen der Welt der Algorithmen und Strukturen der Erzählung gibt. Im Kontext des Kulturkonsums haben heute Algorithmen jene Funktion übernommen, die früher dem Erzähler als dem orchestrierenden Prinzip in der Erzählung zukam: Sie sortieren die Kette von aufeinanderfolgenden referentiellen Teilen eines Systems, das nicht nur keinen emphatischen Anspruch darauf formuliert, eine Wahrheit zu haben, sondern überhaupt keine Wahrheit mehr kennt. Denn Algorithmen orchestrieren vor allem eine kulturelle Praxis des Weiterklickens und Weitermachens, wie es das in dieser Perfektion noch nie gab. Mit Blick zum Beispiel auf den gut gehüteten Google-Algorithmus geschieht dies im Übrigen ohne jede Öffentlichkeit, hat aber gewaltige Konsequenzen für diese Öffentlichkeit selbst.

Dass dabei ein privater Algorithmus wie dieser maßgeblich an der Produktion einer Öffentlichkeit mitwirkt, die dann wiederum – etwa in Form der politischen Debatte – sich über die Bewertung oder auch Regulierung solcher privaten Produktion von Öffentlichkeit verständigt, mag einigen als Ironie erscheinen. Es handelt sich dabei aber eigentlich um eine algorithmisch orchestrierte gesellschaftliche Wirklichkeit, die denen zynisch in die Hände spielt, die zwar schon in älteren Formen von Kapitalismus die Gewinner waren, aber heute eben in geradezu unverschämtem Maße: 2005 wurde Hartz IV eingeführt, im Jahr zuvor war Google an die Börse gegangen. Die Aktie, die heute Alphabet-Aktie heißt, hat ihren Wert seither in etwa verfünfzigfacht. – Algorithmen rühren heute alles an: Hundefutter, Schulabschluss, Wahlausgang, Scheidung. Sie sind Agenten von Ähnlichkeit und die vielleicht kunstvollsten Vollstrecker des heute wahrscheinlichkeitsbasierten Projekts von Erzählung, das die Subjekte in Phantome der Ähnlichkeit verstrickt.

Das rührt auch die Sprache an, die unser Verständnis des Internets spiegelt. Nehmen wir nur einmal die Metapher des »Surfens«, die so aus der Zeit gefallen wirkt wie die Vorstellung der klassenübergreifenden Liebesehe zwischen Arzt und Putzfrau. Niemand spricht heute noch lustvoll übers Online-Sein wie in den Anfangsjahren des Internets. Das hat vor allem damit zu tun, dass sich in das Bewusstsein der Internet­user:innen die schleichende Erkenntnis eingesenkt hat, dass es im Grunde viel weniger abenteuerlich zugeht, als man in den Anfängen noch hoffen durfte. Im Grunde nämlich wissen alle, dass Algorithmen viel früher von unserem Eheschließungs- oder Scheidungszeitpunkt wissen als wir selbst, die wir das Dickicht von Ähnlichkeiten jener »Erzählmonster« der Wirklichkeit, wie sie Algorithmen sind, schon längst nicht mehr überschauen. Proust, der uns solche Strukturen schon vor 100 Jahren vorführte, rang noch mit dem Problem des Ausstiegs. Der Google-Algorithmus weiß von seiner Falschheit nichts, sondern macht, das ist das Ungeheure, einfach nur weiter.

Ansgar Mohnkern lehrt seit 2012 Deutsche und Allgemeine Literatur an der Universität von Amsterdam. Er ist Autor der Bücher »Grund. Szenen einer Metapher« (2021) und »Metapher, Wiederholung, Form: Zu Goethes Unbegrifflichkeiten« (2011). Überdies ist er Mitherausgeber des Bands »Kulturelle Anatomien: Gehen« (2017) sowie Autor zahlreicher Aufsätze zu Literatur und Philosophie.

Ansgar Mohnkern: Gegen die Erzählung. Melville, Proust und die Algorithmen der Gegenwart. Turia und Kant, Wien/Berlin 2022, 197 Seiten, 22 Euro