Gesundheitsminister Lauterbach will die »Heuschrecken« aus deutschen Arztpraxen vertreiben

Die SPD und die Heuschrecken

Kommentar Von Max Bjuschew

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) will Großinvestoren aus deutschen Arztpraxen vertreiben. Er spricht von »Heuschrecken« mit »absoluter Profitgier«.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sagt dem Aufkauf deutscher Arztpraxen den Kampf an. Mit einem Gesetzesentwurf, der im ersten Quartal 2023 vorgelegt werden soll, so versprach der Minister, wolle man weitere Übernahmen von Arztpraxen durch Großinvestoren verhindern. Um zu zeigen, wie schrecklich der Feind ist, den es zu bekämpfen gilt, bedient sich Lauterbach einer strukturell antisemitischen Bildsprache – er bezeichnet jene Investoren, die von »absoluter Profitgier« getrieben seien, als »Heuschrecken«.

Neu ist das Gerede von den Heuschrecken nicht, die die armen, hart arbeitenden Menschen als Plage befallen, um von ihrer Arbeit zu zehren. Schon im 11. Jahrhundert wurden Juden für Heuschreckenplagen verantwortlich gemacht, als Strafe Gottes für ihren Glauben. Im 14. Jahrhundert verübten Christen aufgrund solcher antijudaistischer Mythen Pogrome gegen Juden. Auch im Nationalsozialismus bediente sich die antisemitische Propaganda des Stürmers des Bilds der Juden als Heuschreckenplage, die aufgrund ihres angeblich fehlenden Arbeitsethos dazu verdammt seien, durch die Welt zu ziehen, um auf Kosten anderer zu leben.

Letzteres kann als falsche Kapitalismuskritik bezeichnet werden – ein zentrales Element des modernen Antisemitismus. Sie richtet sich gegen die Zirkulationssphäre, in der das Kapital vermeintlich ohne Zusatz von Arbeit Zinsen abwirft. Währenddessen wird die Arbeit des deutschen Proletariers und des »ehrlichen« deutschen Industriekapitalisten als natürliche Konstante verewigt. Durch diese falsche Trennung – die Nazis sprachen vom »raffenden« und »schaffenden« Kapital – erscheint die konkrete Arbeit als natürliche, gute Arbeit, während man die Ebene der Zirkulation, das Finanz- und Zinskapital, mit den Juden identifiziert und hasst.

Ein Nebeneffekt ist, dass dadurch die »heimischen« und »schaffenden« Kapitalisten geheiligt werden. Alle negativen Folgen des Kapitalismus – all das Chaos und die Brutalität – werden allein dem »wurzellosen« Finanzkapital angekreidet. So funktioniert diese Rhetorik auch bei Lauterbach: Sie idealisiert den guten alten deutschen Arzt als Kleinunternehmer, dem die Praxis noch selbst gehört – als würde der kein Profitstreben kennen.

Dabei ist das deutsche Gesundheitssystem auch ohne den vermeintlichen Einfluss der Großinvestoren kapitalistisch organisiert und auf Rendite ausgerichtet. Für die immer weiter forcierte Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung war nicht zuletzt auch Lauterbach verantwortlich, der als führender SPD-Gesundheitspolitiker beispielsweise das System der Fallpauschalen mit ausarbeitete. Auch das fällt bequemerweise unter den Tisch, wenn die »Heuschrecken« als Sündenbock präsentiert werden.

Dass dieser Begriff eine antisemitische Geschichte hat, sollte gerade sozialdemokratischen Politikern inzwischen eigentlich bekannt sein. Im Jahr 2005 entflammte eine »Heuschreckendebatte« infolge von Äußerungen des damaligen SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Dieser wetterte ebenso wie Lauterbach gegen die anonymen, gierigen Investoren, die sich wie »Heuschreckenschwärme« verhielten, wenn sie »im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben«. Der Historiker Michael Wolffsohn kritisierte dies, woraufhin sich eine Debatte über das Heuschreckenbild und antisemitische Bildsprache im Allgemeinen entspann.

Offenbar vergeblich. Im Jahr 2018 stand eines der traditionellen Schwergewichte der deutschen Nationalökonomie vor einer schweren Krise. Wegen eines Streits mit US-amerikanischen Investoren fürchteten viele deutsche Arbeiter der Thyssen-Krupp AG um ihre Arbeitsplätze. Alexander Ulrich von der Linkspartei forderte prompt, den Kampfes gegen die »Heuschreckenplage« aufzunehmen. Auch Sigmar Gabriel von der SPD klagte über »Heuschreckenüberfälle«, denn sie »fressen schnell, ziehen weiter und hinterlassen Wüsten. Das darf und kann man bekämpfen.«

Gabriel und viele andere Bauchkritiker verstehen nicht, dass der Kapitalismus aus seiner eigenen widersprüchlichen Dynamik heraus die materielle Existenz von Menschen gefährdet und sie plötzlich arbeitslos werden lässt. Als Sündenbock präsentierte Gabriel die angeblich besonders skrupellosen und gierigen US-amerikanischen Hedgefonds. Deutschen Konzernen – so der Umkehrschluss – ist dieses schnöde Profitdenken natürlich völlig fremd.

Der Verdacht liegt nahe, dass die Kritik an antisemitisch konnotierten Wendungen nicht grundlos auf taube Ohren trifft. Denn weder haben sich die Deutschen ausreichend mit ihrem Antisemitismus auseinandergesetzt, noch wurden bislang dessen Grundlagen abgeschafft, die aus der kapitalistischen Vergesellschaftung selbst entstehen. So hält sich der Antisemitismus samt seiner codierten, verschleiernden Bildsprache hartnäckig, meist unterschwellig, aber immer wieder an die Oberfläche brechend. Ironischerweise mag wman da an eine Plage denken.