Präsident Erdoğan versucht, die türkische Opposition auszuschalten

Schwankende Mehrheiten

Wenige Monate vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei hat die Popularität von Präsident Erdoğan abgenommen. Der erhöht stetig den Druck auf die Opposition.

Touristen und Polizisten sitzen am Taksim-Platz in den neo osmanisch hergerichteten Konditoreien, die dessen Bild seit ein paar Jahren prägen. Manche Kellner tragen einen Fez, eine osmanische Kopfbedeckung, die 1925 durch das sogenannte Hutgesetz verboten wurde. Mustafa Kemal Atatürk, der Staatsgründer der Republik Türkei, trug demonstrativ einen Hut, um den an Europa orientierten Modernisierungskurs zu symbolisieren. Dieses Jahr wird die türkische Republik 100 Jahre alt. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die im Jubiläumsjahr anstehen, werden viel entscheiden. Entweder wählen die Stimmberechtigten Recep Tayyip Erdoğan (Partei für Gerechtigkeit und Forstschritt, AKP) ab und beenden nach 20 Jahren zunächst als Ministerpräsident, später als Präsident dessen Kontrolle über die Regierungsgeschäfte, oder Erdoğan gelingt es, seinen autokratischen Kurs fort­zusetzen.

Der Oberbürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu von der Republikanischen Volkspartei (CHP), galt als aussichtsreichster Gegenkandidat Erdo­ğans. Doch Mitte Dezember wurde er zu zweieinhalb Jahren Haft und einem ­Politikverbot verurteilt. Es geht um eine Auseinandersetzung von 2019 im Wahlkampf um das Amt des Oberbürgermeister von Istanbul, das die islamisch-konservative AKP 25 Jahre lang innehatte. Innenminister Süleyman Soylu soll İmamoğlu damals einen Dummkopf genannt haben, weil dieser sich über die Annullierung seines Wahlsiegs aufgeregt hatte. Nachdem der CHP-Politiker die Wahl an die Spitze der Großkommune auch im zweiten Durchgang gewann, soll wiederum İmamoğlu der Anklageschrift zufolge die Mitglieder der türkischen Wahlbehörde als »Idioten« bezeichnet haben. Der Oberbürgermeister ging gegen die Verurteilung wegen »Beleidigung« in Berufung und ist weiter im Amt, doch unter diesen Umständen gilt seine Kandidatur für das Präsidentenamt als fraglich, auch weil eine zweite Klage angezettelt wurde, die ihn wegen Un­regelmäßigkeiten in einem Ausschreibungsverfahren im Stadtbezirk Beylikdüzü belangen will. Dort war er bis 2019 Bürgermeister.

Menschenrechtler:innen befürchten eine weitere Diskreditierung türkischer Oppositioneller.

Am Taksim-Platz zahlen Besucher saftige Preise für Tee und Süßspeisen. ­Abdurrahman K. lockt Touristen in das Café. Der 22jährige stammt aus Ga­ziantep an der syrischen Grenze und kann ein paar Brocken Arabisch. Die ­Zivilpolizisten spricht er mit ağabey (Bruder) an und bringt ihnen immer wieder Tee. »Die Rechnung könnten die in diesem Laden mit ihren Beamtengehältern doch gar nicht bezahlen«, murmelt er. Wohlhabende Touristen ­zahlen Preise wie in anderen europäischen Großstädten auch. Einheimische bekommen immer mal einen Tee umsonst und Mitglieder der Ordnungskräfte werden eingeladen. »So ist das Lokal immer voll und es gibt keinen Ärger«, brummt Abdurrahman.

Das stimmt nicht ganz. Im vergangenen Jahr wurde ein junger syrischer Ladenbesitzer auf dem Platz bei einer Rangelei erstochen, bei der er nur vermitteln wollte. Als Araber habe er die Aggression der einheimischen Streitparteien auf sich gezogen, sagten Zeugen, doch niemand wurde verurteilt. In den türkischen Medien, die Reporter ohne Grenzen zufolge zu 90 Prozent regierungskonform sind, werden weite Teile der Lebenswirklichkeit nicht thematisiert. Die Stimmung im Land ist schlecht. Die Inflation stieg 2022 auf über 85 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, vergleichbare Teuerungsraten musste die Bevölkerung zuletzt in den achtziger Jahren verkraften. Ein Kilogramm Tomaten kostet in den Supermärkten umgerechnet fast zwei Euro. Das ist zu teuer bei einem Mindestlohn von umgerechnet 400 Euro, mit dem rund die Hälfte der Bevölkerung mittlerweile auskommen muss.

Abdurrahman verdient als Kellner den Mindestlohn, den er sich mit Dienstleistungen für die Touristen aufbessert: »Sie fragen danach, wie sie an eine türkische Sim-Karte kommen, oder interessieren sich für private Fahrdienste.« Er organisiert einen kleinen Kreis von Zulieferern, die notfalls auch bei türkischen Telefonanbietern für ihre Kunden bürgen. Das ist riskant, denn natürlich können sie nicht einschätzen, was die Zufallsbekanntschaften nachher mit den Telefonkarten anstellen. Die Polizisten im Café ­interessieren diese kleinen Deals nicht, sie sind da, um Demonstrationen auf dem Taksim-Platz zu verhindern. Erst vergangene Woche wurde hier eine Gruppe von Metallarbeitern verscheucht, die Ende Januar einen Generalstreik ausrufen wollen, um auf die wegen der Inflation sinkenden Reallöhne aufmerksam zu machen.

Abdurrahmans Generation ist von der angespannten Wirtschaftslage ­besonders betroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt offiziell 20 Prozent, die Dunkelziffer ist bedeutend höher. Sechs Millionen Erstwähler werden in diesem Jahr abstimmen. Sie kennen keine andere Regierung als die der AKP, die einst als volksnah antrat und in Istanbul zentrale Infrastrukturprobleme wie den chronischen Wassermangel in den Haushalten löste, sich aber längst durch Korruptionsskandale und Vetternwirtschaft diskreditiert hat. Auch Abdurrahman darf zum ersten Mal wählen, aber er weiß noch nicht, wem er seine Stimme geben wird. Den Lobgesang auf die alten Zeiten kann er nicht mehr hören. »Mein Vater ist in Gaziantep immer noch in der AKP, aber das hat mir in Istanbul auch nicht geholfen«, sagt er. Früher reichte es aus, Mitglied zum Beispiel in der Jugendorganisation der AKP zu werden, um irgendwo ein Pöstchen zu bekommen. Diese Zeiten seien vorbei. Doch die Opposition sei bislang auch nicht überzeugender.

Das seit 2018 bestehende Wahlbündnis aus AKP und der rechtsextremen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) nennt sich Volksallianz. Das Wahlbündnis der Opposition, angeführt von der CHP und der »Guten Partei« (İyi Parti), nennt sich »Bündnis der Nation« und umfasst zudem drei islamisch-konservative Splitterparteien und eine säkulare konservative Partei. Flucht und Migration sind ein Kernthema ihres Wahlkampfs. Die İyi-Vor­sitzende Meral Akşener möchte alle Syrer lieber heute als morgen abschieben; auch Ekrem İmamoğlu will die Migration eindämmen. Dass die Türkei durch die Bombardierung von Gebieten in Nordsyrien und dem Nordirak die Migration in der Region mit auslöst, wird bewusst ausgeklammert.

Ein weiteres Bündnis, das »für Arbeit und Freiheit«, besteht aus der prokurdisch-linken Demokratiepartei des Volkes (HDP) und der Türkischen Arbeiterpartei (TİP) und thematisiert als einzige politische Kraft im Land die Rolle der Türkei bei der Destabilisierung der Nachbarländer und der Unterstützung islamistischer Kräfte – mit den erwartbaren Konsequenzen. Gegen die HDP läuft vor dem Verfassungsgericht ein Verbotsverfahren, die Parteieinrichtungen können jederzeit geschlossen werden. Bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl 2019 hatte die HDP İma­moğlu unterstützt, derzeit wird auch aufgrund der nationalistischen Töne des Bündnisses der Nation diskutiert, auch diesmal wieder einen eigenen Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Die ehemalige HDP-Parteiführung sitzt seit 2016 wegen des Vorwurfs »Propaganda für eine Terrororganisation« in Untersuchungshaft, Terrororganisationen zu unterstützen, darunter auch ihr ehemaliger Co-Vorsitzender Selahattin Demirtaş, der 2018 aus der Untersuchungshaft heraus als Präsidentschaftskandidat der Partei antrat. Er ist nach wie vor der landesweit belieb­teste kurdische Politiker.

Die Wahlen sind für den 18. Juni angesetzt. Umfragen zur Beliebtheit der Parteien bringen schwankende Ergebnisse. In einer Umfrage von Ende Dezember 2022 kam das Meinungsforschungsinstitut Yöneylem auf eine knappe Mehrheit für das oppositionelle Bündnis der Nation. Men­schen­rechtler:innen befürchten eine weitere Diskreditierung von Oppositionellen. »Die Türkei ist mittlerweile ein großes Gefängnis«, stellte Tarık Beyhan von Amnesty International Istanbul im Gespräch mit der Jungle World fest. Die Kriminalisierung der Zivilgesellschaft sei an der Tagesordnung, das Rechtssystem werde systematisch instrumentalisiert.

Im Oktober 2022 weitete die türkische Regierung die Einschränkung der Medienfreiheit auf die Online-Netzwerke aus. Mit der Verabschiedung des »Desinformationsgesetzes« drohen Journalist:innen und Nutzer:innen von Online-Netzwerken Haftstrafen bis zu drei Jahren, wenn sie Informationen verbreiten, die die Regierung als falsch bezeichnet. Auch die Opposition fürchtet den langen Arm der Regierung. Noch hat sich kein Bündnis auf einen Präsidentschaftskandidaten festgelegt, auch weil Diskreditierung und Kriminalisierung gefürchtet werden. Präsident Erdoğan hat viel an Popularität verloren, nutzt aber systematisch die Machtfülle, die er 2018 mit der Einrichtung eines au­tokratischen Präsidialsystems erhielt.