In »That ’90s Show« entfaltet sich das Genre der Sitcom ein letztes Mal

Glückliche Tage

»That ’90s Show«, die Nachfolgeserie von »That ’70s Show«, ist seit kurzem bei Netflix zu sehen. Sie verneigt sich vor dem Genre der Sitcom – und zeigt gleichzeitig deren Ende an.

An das piepsende, fiepsende, rauschende, knarzende, scheinbar schier endlos währende Einwählgeräusch eines Internetmodems erinnern sich wohl alle, die in den neunziger Jahren aufgewachsen sind – deswegen darf es nicht in einer Fernsehserie fehlen, die sich »That ’90s Show« nennt und jene Jahre wiederauferstehen lassen will. Sich einen Computer anzuschaffen, das hat für das ­ältere Ehepaar Forman, das in ­einer Kleinstadt im US-amerikanischen Bundesstaat Wisconsin lebt, überhaupt nur den Zweck, sich endlich ins World Wide Web einzuklinken. Denn die große weite Welt war hier eigentlich noch nie zu Gast.

Letzteres galt schon für die erfolgreiche Sitcom »That ’70s Show« (»Die wilden Siebziger«, 1998–2006) und ist immer noch wahr in dessen vor kurzem bei Netflix erschienener Fortsetzung, zu Deutsch: »Die wilden Neunziger«. Der Lauf der Zeit hat es nur mit sich gebracht, dass die Formans, Vater Red (Kurtwood Smith) und Mutter Kitty (Debra Jo Rupp), nun im Ruhestand sind, ein paar Möbel ausgetauscht haben, Sohn Eric (Topher Grace) längst aus dem Haus ist – und mit ihm sein Freundeskreis, der in »That ’70s Show« den heimischen Keller zum jugendlichen Refugium werden ließ. Der letzte vergessene Beutel Haschisch liegt unentdeckt unter Kisten.

Ihn hervorzukramen kommt in »That ’90s Show« einer neuen Schar von Teenagern zu, die das Haus der Formans alsbald in Beschlag nimmt. Leia (Callie Haverda), Erics Tochter, verbringt einen langen Sommer bei ihren Großeltern in der Provinz und findet schnell Anschluss an eine Handvoll ortsansässiger Kids. Man kifft, man knutscht, man rauft sich, man verknallt sich, geht in die Videothek, in den Diner, steigt auf die Aussichtsplattform eines Wasserturms. Man hängt ab, und man hängt rum.

Das ähnelt dem zwischen Lust und Langeweile oszillierenden Zeittot­schlagen der Teenager aus der Vorgängerserie. Versprechen die deutschen Titel beider Sitcoms das Auf­regende und Transgressive, bilden die englischsprachigen Originaltitel in ihrer Lakonie viel wahrhaftiger nicht nur das kleinbürgerliche Ennui ab, sie verhalten sich auch lässiger zum jeweiligen Jahrzehnt, dessen Zeitkapsel sie sein wollen. Was nicht heißen soll, dass beide Sitcoms keine nostalgischen Gefühle wecken wollten: Sie tun das mit Tapetenmustern, Elek­trogeräten, Mahlzeiten, Bands, Postern, Klamotten und allen anderen Dingen, über die die Zeit und der Konsum hinweggegangen sind.

Das Betörende aber insbesondere der alten Serie war, dass sie über ganze Folgen und ganze Staffeln hinweg schlechterdings von nichts bis gar nichts handelte. Nun mag es für das Gros des Sitcom-Genres gelten, dass freudige Überraschungen und nervige Scherereien in der Familie, im Freundeskreis oder am Arbeitsplatz spätestens nach den etwas mehr als 20 Minuten einer Episode sich als so nichtig offenbaren, wie sie meist schon von Beginn an waren. Gleichzeitig aber gilt, dass etliche der herausragendsten Vertreter des Genres (beispielsweise »I Love Lucy«, »All in the Family«, »M.A.S.H.«, »The Mary Tyler Moore Show«, »Taxi«, »Cheers«, »The Golden Girls«, »Roseanne«) über Jahrzehnte hinweg diejenigen Fernsehsendungen waren, die am beißendsten linksliberale Gesellschaftskritik übten oder einen sozialen Wandel anzeigten.

»That ’70s Show« gehörte kaum in diese Reihe, ohne aber umgekehrt zu den konservativer gesinnten Sitcoms zu zählen. Stattdessen gab sich die Serie von ganzem Herzen dem hin, was alle Serien strukturell bedingt und sie stets einholt: einerseits der unaufhaltsame Lauf der Dinge, das Verstreichen der Zeit, das Älterwerden des Ensembles, und andererseits der Zwang zur Wiederholung bis hin zur Redundanz. Das Gewitzte von »That ’70s Show« war gerade, Pointen gezielt und in vollem Bewusstsein ihrer Repetition zu wiederholen. Darin, nicht im Dekor, lag ihre wirklich nostalgische Haltung, nämlich zum Genre selbst.

Zwar lagen in jüngerer Zeit Fortsetzungen von ruhmreichen Serien im Trend, das Genre der Sitcom jedoch ist unterdessen aus der Mode gekommen.

Und dazu gehörten vor allem auch die Ironie und gleichzeitig der Esprit, mit dem das Ensemble von »That ’70s Show« Stereotype des Sitcom-Genres wiederaufführte: das Verschmitzte, das Drollige, das Abgeklärte, das Zeternde, das Dämliche. Oder das Burschikose, das die noch junge Laura Prepon ihrer Figur Donna mit so geringen Mitteln wie leicht spöttischen Mundwinkeln oder hochgezogenen Augenbrauen auf ganz umwerfende Art verlieh. Wie sie wurden auch einige der anderen Darsteller aus »That ’70s Show« zu Stars, die weit über die Serie hinaus erfolgreich waren. Dieser Umstand führt nicht nur zu frenetischem Applaus, wenn die alte Riege Gastauftritte in »That ’90s Show« hat, es erlegt dem neuen Ensemble eine gewisse Bürde auf. Denn abseits von ulkigen Anspielungen auf die neunziger Jahre – etwa eine Persiflage von »Beverly Hills, 90 210« oder der Besuch eines Techno-Raves – hängt auch die Neuauflage nicht zuletzt von der Spielfreude und dem Charme der jungen Darsteller ab.

Tatsächlich meistern sie diese ­Herausforderung im Großen und Ganzen, und doch steht das Sequel vor einerm grundsätzlicheren Pro­blem: Zwar lagen in jüngerer Zeit Fortsetzungen von ruhmreichen Serien im Trend (»Twin Peaks«, »The ­X-Files«, »Gilmore Girls«), das Genre der Sitcom jedoch ist unterdessen aus der Mode gekommen. »That ’70s Show« hingegen wurde zu einer der Hochzeiten des Genres produziert. Das Schwinden von dessen Popu­larität korreliert mit dem Niedergang des linearen Fernsehens und dem Aufstieg von Streaming-Plattformen.

Die Sitcom, obwohl häufig vor Studiopublikum aufgezeichnet und so der Tradition von Volks- und Boulevardtheater verbunden, war dasjenige Format, welches das Medium Fernsehen am adäquatesten pars pro toto verkörperte, weil die meisten seiner Vertreter das heimische Wohnzimmer zum zentralen Schauplatz machten. Dass das Fernsehgerät in den fiktionalen Wohnzimmern der Sitcoms zuallermeist unsichtbar auf der Seite der vierten Wand stand (zum Beispiel in »Roseanne«, »The Golden Girls«, »Frasier«, »The Big Bang Theory«, »The Cosby Show«, »The Nanny«, »Who’s the Boss?«, »Married With Children«), unterstreicht nur, dass es den gängigen Platz der Apparate in den tatsächlichen Wohnzimmern der langen Nachkriegszeit widerspiegelte. So auch im Wohnzimmer der Formans und in ihrem Keller.

Auch die Rezeption von Serien hat sich grundlegend gewandelt. Da ­ausgerechnet Netflix die neue Serie ausstrahlt, muss solche Wertschätzung der Fernsehgeschichte dem Streamingdienst hoch angerech­net werden. Zu deren akkurater Pflege gehört auch das Detail, das F-word, ansonsten kein Problem für die Plattform im Unterschied zu den Richtlinien der US-amerikanischen Networks, von lauter Musik übertönen zu lassen. Allerdings steht die simultane Veröffentlichung einer Staffel von insgesamt lediglich zehn Folgen der »’90s Show« auch in deutlichem Kontrast zur Sitcom-Tradition. Dass es früher pro Woche nur eine Folge zu sehen gab, bedingte aber maßgeblich das liebevolle Verhältnis zum Ensemble und zu running gags. Die Möglichkeit zum binge watching hingegen – und Selbstkontrolle bei Süßwaren fällt bekanntlich sehr schwer – legt das kulturindustrielle Gerüst ­gerade einer Sitcom oft etwas zu würdelos offen zutage.

Wenn also in einer der Folgen von »That ’90s Show« ein PC ins Haus einzieht und auch noch prominent auf dem Wohnzimmertisch arrangiert wird, dann klingt nicht nur der Sound eines Modems an, zu vernehmen ist vielmehr die Frühgeschichte der Gegenwart – nicht mehr der Fernseher steht im Mittelpunkt, sondern der Computer. Und wenn im neuen Vorspann im Unterschied zu dem des Vorgängers nicht mehr im Auto lauthals der Titelsong mitgegrölt wird, sondern verwackelte ­Aufnahmen einer Videokamera zu sehen sind, die die Räume des Hauses der Formans zeigen, dann wird deutlich, dass die Nostalgie sich nicht länger daran festmacht, wie Teenager ziellos durch die Gegend fahren, sondern ihr objet fixe im verlorengegangenen Ritual des Fern­sehens findet. Aufgehoben ist darin aber schon der Vorschein heutiger Smartphonevideos.

»That ’90s Show« kann bei Netflix ­gestreamt werden.