Angriff auf eine Gedenkstätte für das NS-Massaker in dem sachsen-anhaltinischen Ort

Der Holocaust von Gardelegen

Im Februar entwendeten Unbekannte in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe mehrere Tafeln. Die Tat fügt sich in eine ganze Reihe von Angriffen auf Erinnerungsorte für NS-Opfer.

Die Liste der Angriffe auf KZ-Gedenkstätten, Gedenkorte an Opfer des Nationalsozialismus, Stolpersteine oder Erinnerungstafeln in den letzten Jahren ist lang. Es vergeht kaum ein Monat in Deutschland, in dem keine Sachbeschädigungen, Verhöhnung oder Beleidigung von Ermordeten oder Verherrlichung der NS-Verbrechen stattfinden. Dem NDR zufolge gab es in den vergangenen sechs Jahren über 100 Angriffe aus rechtsextremen Motiven auf NS-Gedenkorte. Die tatsächliche Zahl sei aber wohl noch deutlich höher, weil die Taten nicht bundesweit zentral erfasst würden.

Das Problem ist nicht auf den Osten beschränkt, es besteht in der ganzen Bundesrepublik. Oft werden Gedenk- oder Informationstafeln mit Hakenkreuzen oder anderen NS-Symbolen beschmiert. Tafeln oder Skulpturen werden zerstört. Zahlreiche Stolpersteine wurden in den vergangenen Jahren entwendet. Immer wieder posieren Rechtsextreme an Orten der NS-Verbrechen. Erst im Januar wurden in Gardelegen in Sachsen-Anhalt zwei Männ­er zu Bewährungs- und Geldstrafen verurteilt. Sie hatten dreieinhalb Jahre zuvor Fotos veröffentlicht, auf denen sie auf dem Gelände der Gedenkstätte den Hitlergruß zeigten, sich auf Gräber von Ermordeten legten und dabei das Victory-Zeichen zeigten und so taten, als würden sie am Mahnmal urinieren.

Knapp einen Monat später, im Fe­bruar, entwendeten bisher unbekannte Täter:innen an gleicher Stelle, in der Gardelegener Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe, mehrere Gedenktafeln und einen Informationsständer. »In den vergangenen Jahren gab es in der Gedenkstätte mehrere Fälle von Schändungen, Störungen der Totenruhe und andere Übergriffe, etwa Diebstähle von Widmungstafeln und technischer In­stal­lationen sowie Sachbeschädigungen«, sagt Gedenkstättenleiter Andreas Froese im Gespräch mit der Jungle World.

Bereits im Jahr 2019 war eine polnische Widmungstafel in der Gedenkstätte gestohlen worden. Seit Februar fehlen nun auch eine französische, eine US-amerikanische und eine deutsche Tafel. Auf den Tafeln wird der Opfer des Massakers in der Feldscheune Isenschnibbe gedacht. Die französische Tafel war von der Vereinigung der Über­lebenden des KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora gestiftet worden; die US-amerikanische von der Division, die 1945 den Ort des Massakers entdeckte.

Am Abend des 13. April 1945 wurden die über 1 000 Häftlinge in die Feldscheune Isenschnibbe gepfercht, die Türen verriegelt und das Gebäude in Brand gesetzt.

Im April 1945 räumten die SS-Wachmannschaften mit Unterstützung der Wehrmacht und Angehöriger des Volkssturmes die Außenlager zahlreicher Konzentrationslager in Mitteldeutschland. Auf Todesmärschen und Transporten in Güterwaggons waren zu Ende des Zweiten Weltkrieges mindestens 5 000 KZ-Häftlinge im Altmarkkreis rund um Gardelegen und Salzwedel unterwegs. Viele von ihnen starben aufgrund der Strapazen oder weil sie bei den Märschen ermordet wurden.

Etwa 1 100 Häftlinge kamen am 13.April 1945 in einer Kaserne in Gardelegen an. Die ursprünglichen Ziele der Transporte und Märsche waren aufgrund des Heranrückens alliierter Streitkräfte nicht mehr erreichbar. Der NSDAP-Kreisleiter und SS-Obersturmbannführer Gerhard Thiele ordnete die Ermordung der Häftlinge an. Noch am Abend des 13. April wurden die Häftlinge in die Feldscheune Isenschnibbe gepfercht, die Türen verriegelt und das Gebäude in Brand gesetzt. Wer versuchte zu fliehen, wurde erschossen.

Direkt nach der Tat begannen NSDAP-Funktionäre, SS- und SA-Männer, Wehrmachtssoldaten, Angehörige der Hitlerjugend sowie des Volkssturms und einzelne Zivilisten mit der Beseitigung der Spuren. Dies gelang jedoch nicht mehr vollständig, da die 102. Infanteriedivision der US-Armee bereits in weniger als 24 Stunden nach dem Massenmord Gardelegen erreichte. Der Hauptverantwortliche, Gerhard Thiele, konnte jedoch untertauchen und lebte mit falscher Identität bis zu seinem Tod im Jahr 1994 unentdeckt in Düsseldorf.

Mindestens 1 016 Menschen waren bei dem Massaker in der Feldscheune Isenschnibbe zu Kriegsende getötet worden. Nur bei 305 Ermordeten konnte die Identität festgestellt werden. Die Opfer stammen aus zwölf unterschiedlichen Ländern, unter ihnen waren zahlreiche Juden. Die US-amerikanischen Truppen sorgten für ihr Begräbnis auf einem Ehrenfriedhof.

Das US-amerikanische Magazin Life berichtete am 7. Mai 1945 von dem Massenmord und bezeichnete ihn als »The Holocaust of Gardelegen«. Im September 2020, mehr als 75 Jahre nach dem Massaker, wurde am historischen Ort ein Besucher-und Informationszentrum eröffnet. Die Gestaltung der Gedenkstätte aus DDR-Zeiten war obsolet geworden, sie folgte auch inhaltlich den ideologischen Vorgaben, dass es sich um ein Verbrechen des Faschismus an sich und bei den Opfern um Widerstandskämpfer gehandelt habe.

Bei den jüngsten Sachbeschädigungen an der Gedenkstätte fällt auf, dass »insbesondere Widmungs- und Informationstafeln entwendet wurden, die an die Ermordeten des Massakers erinnerten, die explizit ihren Biographien und ihrem Andenken gewidmet waren«, sagt Andreas Froese der Jungle World. Er begrüßt es daher, dass die Polizei mögliche politische Motive als Tathintergrund bei den Ermittlungen berücksichtigt.

Eine entwendete Informationstafel wurde in einem Gebüsch in der Nähe der Gedenkstätte wiedergefunden. Die Gedenktafeln bleiben vorerst verschwunden. Die Erfahrung aus der Vergangenheit zeige, dass die Medienberichterstattung zu solchen Vorfällen manchmal dazu führe, dass die Taten aufgeklärt und die Täter:innen ermittelt werden, sagt Rikola-Gunnar Lüttgenau im Gespräch mit der Jungle World. Lüttgenau leitet in der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Öffentlichkeitsarbeit. Er ist seit fast 30 Jahren in der Gedenkstätte tätig und blickt auf ebenso viele Jahre von Schändungen der Gedenkstätten zurück. Die Art und Weise der Straftaten habe sich verändert. »Bis vor fünf Jahren machten den Bodensatz der Taten eher heimlich eingeritzte Hakenkreuze oder andere Zeichen und Symbole aus dem NS aus. In den letzten Jahren haben jedoch sehr gezielte Zerstörungsaktionen zugenommen«, stellt er fest.

Die Formen der Straftaten seien auch in der Gedenkstätte Buchenwald sehr unterschiedlich. Das reiche vom Aufhängen von AfD-Plakaten mit dem Slogan »Mut zur Wahrheit« auf dem Gelände über das Beschmieren von Gedenktafeln bis hin zur Zerstörung von Gedenkbäumen, die einzelnen KZ-Häftlingen gewidmet sind. Neben diesen gezielten Straftaten findet immer wieder auch eine Störung der Totenruhe statt, die laut Lüttgenau »von einer unfassbaren Gedanken-und Rücksichtslosigkeit« geprägt sei. So nutzten ihm zufolge Biker die Mahnmalsanlage zu Abfahrten. Andere führen mit Schlitten in die Gruben der Massengräber. Zuletzt geschah das vor zwei Wochen, als Unbekannte auf einem Massengrab rodelten.