Die Migrantifa Berlin schwört auf die »Community« und will bestimmen, wer dazugehört

Wer die Gemeinschaft stört

Von Tom Uhlig

Der Migrantifa Berlin wird vorgeworfen, die Neuköllner Integrations-beauftragte Güner Balcı in einer Videobotschaft bedroht zu haben. Eine direkte Bedrohung lässt sich aus dieser jedoch nicht ableiten. Fragwürdig ist hingegen das Gemeinschaftsbedürfnis der Migrantifa.

»Zu Recht haben Leute wie du Angst«, heißt es kämpferisch in einem Video der Migrantifa Berlin. Gemeint ist Güner Balcı, die Integrationsbeauftragte des Berliner Bezirks Neukölln, die der Gruppe Migrantifa zufolge an der Repression gegen Migrant:innen mitwirke. Mittlerweile hat sich der Staatsschutz eingeschaltet. Balcı sei einer »konkreten Gefährdungslage« ausgesetzt, berichtete der Tagesspiegel. Aus dem Video der Migrantifa lässt sich das aber kaum ableiten.

Diese zeigt eher die typische theatralische Selbstüberschätzung der Gruppe, als eine körperliche Bedrohung anzukündigen. Auf ihrem Twitter-Ka­nal stellt die Gruppe klar: »Wir haben keinerlei Interesse daran, Frau Balcı einer realen Gefahrenlage auszusetzen.« Gemeint sei die »politische Angst«, die Balcı vor der Gruppe habe, weil die Migrantifa ihre Arbeit mehr oder we­niger obsolet mache. Denn sie sei es, die benötigte Strukturen aufbaue und sich tatsächlich für die Menschen interessiere.

Die Migrantifa denunziert Balcı als »Erfolgsrassistin«. Dafür muss ihre Arbeit allerdings ziemlich zurechtgebogen werden.

Balcı denunziert die Gruppe als »Erfolgsrassistin«. Dafür muss die Arbeit Balcıs allerdings ziemlich zurechtgebogen werden. So wirft die Migrantifa Balcı vor, im Magazin Cicero den Islam als »geladene Waffe« bezeichnet zu haben. Nun kann man ja kritisieren, dass Balcı in einer dezidiert konservativen Zeitung publiziert. Doch die Aus­sage, die der eigentliche Gegenstand der Kritik ist, wird hier dem Skandal zuliebe allerdings verkürzt. Aus dezidiert muslimischer Perspektive schrieb Balcı im Kontext der Gräueltaten des sogenannten Islamischen Staats nämlich: »Religion kann eine Waffe sein – der Islam, so wie er heute von vielen interpretiert wird, ist aufgrund des Mangels an kritischer Auseinandersetzung eine geladene Waffe.«

Ausgangspunkt der Auseinandersetzung war die zum Fastenbrechen ausgesprochene Einladung des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Martin Hikel (SPD). Aktivist:innen der Migrantifa verteilten vor Ort Flugblätter, in denen sie die Veranstaltung kritisierten, zu ihrer eigenen Essensausgabe einluden und für die »Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration« warben. Der Vorwurf: Hikel habe zu seinem öffentlichen Fastenbrechen keine Neuköllner Moscheegemeinden eingeladen. Für die Mi­grantifa ein Beweis, dass er »die Moscheen und Muslim:innen eigentlich verachtet«. Balcı, die auch auf der Veranstaltung war, sei daraufhin auf eine der Aktivist:innen losgegangen, habe sie mit Flugblättern beworfen.

Dem Tagesspiegel zufolge waren Moscheegemeinden, denen eine Nähe zu den islamistischen Muslimbrüdern nachgesagt wird oder die der von der türkischen Regierung gelenkten Ditib angehören, organisatorisch tatsächlich nicht eingebunden. Der Text der Mi­grantifa übergeht das. Gleichzeitig scheint die Migrantifa, die am Ende ihres Flugblatts zur »Revolutionären 1.-Mai-Demonstration« aufrief, die Beteiligung der Gruppe Samidoun an dieser kein Problem darzustellen. Samidoun, nach eigener Beschreibung ein internationales Solidaritätsnetzwerk für palästinensische Gefangene, wurde 2012 von Mitgliedern der terroristischen Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) gegründet. Die Berliner Ortsgruppe des internationalen Netzwerks fiel jüngst auf, als auf einer Demonstration, zu der sie aufgerufen hatte, ein Teilnehmer »Tod den Juden« rief, wie die Monitoring-Gruppe Democ berichtete (»Von Berlin bis Teheran«, Jungle World 16/2023). Beim 1.Mai stellte sie einen eigenen Block, um noch vor Demonstrationsbeginn den Boykott Israels und ein freies Palästina »from the river to the sea« zu fordern, wie ein Video des Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus belegt. Die Sprechchöre blieben unwidersprochen. Auch die Migrantifa hat sich bislang nicht distanziert.

Die vermeintliche Bedrohung Balcıs verstellt den Blick auf die Widersprüchlichkeit der Auseinandersetzung. Die notwendige Kritik an den ständigen Repressalien, denen migrantische Personen ausgesetzt sind, und der Law and Order-Politik geht bei der Migrantifa Berlin mit einer Homogenisierung der »Community« einher, die die Migrantifa zu vertreten meint. Es wird ausgeschlossen, was nicht dazugehören darf, und gleichzeitig werden Ausschlüsse bei anderen moniert.

Balcı ist »keine von uns« – aber die nicht näher spezifizierten Moscheegemeinden und offenbar auch Samidoun gehören dazu. Wer dieses Wir-Gefühl allerdings stört, indem etwa auf Pro­bleme innerhalb der eigenen »Community« hingewiesen wird, gilt als Nestbeschmutzer und wird des Rassismus bezichtigt. Dass die migrantischen »Communitys« in Wahrheit genauso atomisiert sind wie der Rest der Gesellschaft, blendet die Gruppe aus, um sich als Verfechter der Interessen der Mehrheit der Minderheiten inszenieren zu können.