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Eine Welt, in der man einzigartig und zugleich Teil des großen Ganzen ist, scheint im Fantasy-Universum von »Baldur’s Gate« möglich. Warum das Computerrollenspiel die Community in Begeisterungsstürme ausbrechen lässt.
Mit dem Erfolg der Science-Fiction-Mysteryserie »Stranger Things« 2016 wurde auch das Pen & Paper-Rollenspiel »Dungeons & Dragons« populär. So wie die im Hobbykeller versammelte Nerd-Clique die abendlichen Spiele nutzt, um die unheimlichen Vorgänge in der fiktiven Kleinstadt Hawkins zu lenken, dienen Rollenspiele grundsätzlich dazu, das Schicksal der Welt in die eigene Hand zu nehmen: als Held, Retter und Abenteurer. Dieser Tage feiert ein solch klassisches Computerrollenspiel einen beachtenswerten Massenerfolg: das Computerspiel »Baldur’s Gate 3«.
Kennern der Spieleserie ist klar, dass es sich dabei nicht um einen x-beliebigen Erfolgstitel handelt. »Baldur’s Gate«, benannt nach der fiktiven Großstadt an der Schwertküste der Vergessenen Reiche, ist ein Meilenstein des Rollenspiels. 1998 veröffentlicht, setzte es neue Maßstäbe hinsichtlich Spieltiefe und Erzählweise für ein eigentlich totgeglaubtes Spielgenre.
Es basiert auf einer stark auf Charaktere und deren Entwicklung konzentrierten Handlung – dem heldenhaften Ringen um das Schicksal der Welt, der in einem rundenbasierten Kampfsystem ausgetragen wird. Statt in schnellen Auseinandersetzungen aufeinander einzuhauen, kommt jede Partei Zug um Zug an die Reihe und setzt ihre Fähigkeiten strategisch ein. Durch gesammelte Erfahrungspunkte steigen die Figuren stufenweise auf, erhöhen ihre Statuswerte und erhalten neue oder bessere Fertigkeiten.
Es sind zwei Aspekte, die das Spiel attraktiv machen: zum einen das Eintauchen in ein komplexes und mythisches Universum und zum anderen die Möglichkeit, diese Welt durch Selbstoptimierung und Entscheidungsfreiheit umfassend zu manipulieren.
Sechs Jahre ist es her, dass die belgische Entwicklungsfirma Larian Studios die neue Folge angekündigt hatte. Mit dem Erfolg des im September erschienen Spiels hatte aber sicherlich niemand gerechnet. »Baldur’s Gate 3« ist »eines der besten Rollenspiele« überhaupt, wie die Community mehrheitlich behauptet: Bis zu 200 Spielstunden kann ein Durchgang dauern, der sich je nach Charakter und dessen Spielweise verändert. In den ersten zehn Tagen nach der Veröffentlichung hielten sich die User allein im Menü der Charaktererstellung zusammengerechnet 88 Jahre auf. Allein die filmischen Zwischensequenzen des Spiels kommen zusammen auf 170 Stunden.
Seine Zeit verbringt der Spielende zum Beispiel als Mensch, Zwerg, Elfe, drachenreitender Githyanki oder als Tiefling, eine Art notorischer Underdogs, und durchstreift den Kontinent Faerûn. Die außerordentliche Spieltiefe und Entscheidungsfreiheit wurde von Fans in höchsten Tönen gelobt. Spieleexperten dämpften bereits Hoffnungen, dass »Baldur’s Gate 3« die Standards für den Computerspielemarkt insgesamt heben könnte. Es sei schlicht zu gut, weil unverhältnismäßig aufwendig produziert, ein gewinnorientierter Spielemarkt könne Derartiges nicht auffahren.
Das Spiel ist darauf angelegt, einen zu verschlingen. Und es sind im Groben zwei Aspekte, die dies attraktiv machen: zum einen das Eintauchen in ein komplexes und mythisches Spieleuniversum und zum anderen die Möglichkeit, diese Welt durch Selbstoptimierung und Entscheidungsfreiheit umfassend zu manipulieren. Es macht für die Handlung einen großen Unterschied, ob man etwa einen Druidenhain selbst als Druide betritt und entsprechend heil wieder verlässt, oder ob man beispielsweise als verhasster Hexenmeister ungewollt ein ganzes Massaker anrichtet. Nahezu jeder Dialog lässt unterschiedlichste Ausgänge zu, vom Finden eines neuen Verbündeten bis zur bitteren Feindschaft.
Die Handlung von »Baldur’s Gate 3« ist 120 Jahre nach der Epoche angesiedelt, in der der Vorgängerspielt. Tentakelköpfige »Gedankenschinder«, alte Bekannte aus dem Universum von »Dungeons & Dragons«, auf dem das Spiel basiert, beginnen eine Invasion. Sie unterwerfen die Bewohner des Kontinents, indem sie der Bevölkerung Larven in den Kopf pflanzen und sie in ihresgleichen verwandeln. Die bösartigen Kreaturen sind die Ausgeburt einer rätselhaften Infektion, die es im Spielgeschehen abzuwenden gilt – ein gigantisches Komplott.
Tatsächlich ist die Verschwörung ein klassischer Topos des Rollenspiels. Die von Phantasiewesen wie Goblins, Drachen und Trollen bevölkerte Welt wird künstlich komplexer durch finstere Machenschaften, Prophezeiungen und Machtspielchen. Die Charaktere erhalten Tiefe durch ihre Doppelgesichtigkeit.
Es scheint, als finde die gedankenkontrollierende Weltverschwörung des Spiels ihre Entsprechung in der Projektion enttäuschter bürgerlicher Subjektivität und ihrer Souveränitätsphantasien in der Gegenwart. Das kennt man aus dem echten Leben, schließlich raunt die libertär rebellierende Mittelschicht vom »Great Reset«, von »Plandemie« und kontrollierten Medien. Diesem Plot liegt ein Ambivalenzkonflikt zugrunde, wie ihn auch »Baldur’s Gate 3« ausagiert: So wie man als ideell freier Bürger frei genug ist, um zur Lohnarbeit zu gehen, ist der imaginierte Held des Rollenspiels zwar omnipotent, aber nur um sein Schicksal zu erfüllen.
Das Motiv, dass individuelle Freiheit am besten eingesetzt ist, wenn man darüber zu seiner Bestimmung findet, ist gewissermaßen kulturindustrielles Einmaleins. So wie jede Liebesgeschichte von den Reibereien der Individuen erzählt, die am Ende endlich »wissen, was sie wollen« (nämlich einander heiraten), enden auch die meisten Biographien nach dem »Austoben« in den vorgeschriebenen Lebensmodellen der bürgerlichen Gesellschaft (worüber man dann in der krisengeschüttelten Welt auch noch froh sein soll).
Durch Interesse an der Figur, Intimität und gemeinsam verbrachte Zeit können romantische Beziehungen aufgebaut und sogar angedeutete Sexszenen erspielt werden; mit dem Hauptcharakter wählt man ein Geschlecht, bestimmt sein Pronomen und gestaltet seine Geschlechtsteile.
Die innere Verbindung von Schicksal und Romantik, in der die einzigartige eigene Persönlichkeit wie der Topf seinen Deckel findet, trifft man entsprechend auch in »Baldur’s Gate 3«, das als Interaktionsmöglichkeit zwischen den Charakteren sogenannte »Romance-Options« enthält. Durch Interesse an der Figur, Intimität und gemeinsam verbrachte Zeit können romantische Beziehungen aufgebaut und sogar angedeutete Sexszenen erspielt werden; mit dem Hauptcharakter wählt man ein Geschlecht, bestimmt sein Pronomen und gestaltet seine Geschlechtsteile.
Die Community begrüßt die nonbinäre und transinklusive Komponente, die jeder erdenklichen Figur Flirt, Sex, Romantik und Pärchenbildung ermöglicht. Das Rollenspiel übernimmt tradierte Liebes- und Schicksalsideologien in derart abstrahierter Form, dass es maximal eskapistisch wirken kann, in der Fantasy-Welt die Mechaniken des Alltags nachzuspielen.
Entsprechend tritt dieses »Schicksal« in der Rollenspielmechanik in seiner neutralsten Form auf, nämlich als Zufall, quasi als unsichtbare Hand. Alle handlungsrelevanten Aktionen werden durch Zufallswürfe entschieden. Um etwa in einem der zahlreichen Dialoge eine Figur zu überzeugen oder zu beklauen, muss man nicht nur über das entsprechende Geschick oder Charisma verfügen, sondern auch mit einem 20seitigen Würfel auf die geforderte Augenzahl kommen. In diesem Sinne ist der Zufall eine Vermittlungsinstanz im Widerspruch von Autonomie und Abhängigkeit, eine höhere Macht, die das Fantasy-Universum zusammenhält.
Genau darin liegt das spezifisch Anziehende an dieser Rollenspielwelt. Sie ist weder lineare Handlung noch eine Fortführung des Freiheitsgrößenwahns maximal offener Spielwelten, sondern verspricht eine Art Versöhnung: Es gibt eine Welt, in der die Einzigartigkeit des mühsam gecrafteten Charakters und ein höherer Sinn der Existenz keinen Widerspruch darstellen. Der stille Wunsch, irgendetwas dieser höheren Macht möge auch in der profanen Wirklichkeit am Werke sein, ist der Kern der nostalgischen Faszination dieses Fantasy-Rollenspiels.