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Südafrikas Abtreibungsgesetz gehört zu den progressivsten der Welt. Trotzdem findet mehr als die Hälfte der Schwangerschaftsabbrüche illegal statt.
Gaopalelwe Phalaetsile war 19, als sie vergewaltigt wurde. Es war ihr erstes Jahr an der Uni, der Mann deutlich älter als sie. Ein paar Wochen darauf bestätigte ein Schwangerschaftstest, wovor sie sich am meisten fürchtete. Zwei Dinge waren Gaopalelwe sofort klar: dass sie eine Abtreibung will und dass sie ihre Situation vor ihrer Familie geheimhalten muss. »Mein Vater und meine Familie hätten mich verurteilt und mir nicht geglaubt«, sagt sie.
Wenig später fand sich die Studentin in einem Gebäude in Hillbrow wieder, einem Johannesburger Stadtteil, der für Armut, eine besonders hohe Kriminalitätsrate und illegale Prostitution bekannt ist. Wie sie die Adresse bekommen hat, weiß Gaopalelwe nicht mehr. Nur, dass ihr Schwangerschaftsabbruch traumatisch war: »Wir wurden durch einen Hintereingang in die Klinik geschleust und behandelt wie eine Herde Tiere.« Unter den wartenden Mädchen waren viele minderjährig. Als Gaopalelwe den Raum betrat, in dem ihr kurz darauf in einigen schmerzhaften Minuten der Embryo entfernt wurde – so erzählt sie –, fiel ihr Blick auf einen Eimer neben dem OP-Stuhl, in dem die blutigen Überreste eines vorigen Eingriffs schwammen.
»Konservative und spirituelle Überzeugungen verschiedener Kulturen verbinden sich in vielen Fällen zu einem patriarchalen Denkmuster.« Gaopalelwe Phalaetsile
Szenen wie diese sind weltweit nach wie vor nicht ungewöhnlich. In Ländern, die Abtreibungen als Straftat einstufen, boomt das Business mit illegalen Schwangerschaftsabbrüchen. In Südafrika sind Abtreibungen allerdings seit 1997 legal und sogar kostenlos. Genauer gesagt wird der Schwangerschaftsabbruch im Rahmen des Choice on Termination of Pregnancy Act von 1996 innerhalb der ersten zwölf Wochen rechtlich als reproduktive Gesundheitsleistung eingeordnet. Damit gehört die Gesetzeslage in Südafrika zu den progressivsten der Welt.
Einer Schätzung der South African Government News Agency zufolge finden dennoch zwischen 52 und 58 Prozent der jährlichen circa 260 000 Abtreibungen in Südafrika illegal statt. Warum sehen sich Frauen und Mädchen noch immer gezwungen, für Geld das Risiko einer sogenannten backstreet abortion auf sich zu nehmen?
Stadt und Land
Legale Abtreibungen werden in öffentlichen Krankenhäusern oder in privaten Kliniken von Ärzt:innen, Hebammen und anderem ausgebildeten Pflegepersonal mit einer entsprechenden Registrierungsnummer bei dem Healthcare Professions Council of South Africa (HPCSA) angeboten. So die Theorie. Doch eine Behandlung in öffentlichen Krankenhäusern ist nicht garantiert: Ärzt:innen haben das Recht, Schwangerschaftsabbrüche aus moralischen oder religiösen Gründen zu verweigern. Das Gesetz verpflichtet sie in solchen Fällen zwar, Patientinnen an eine andere Klinik zu verweisen. Doch häufig ist das nächste Krankenhaus zu weit entfernt und der Schwangeren fehlen die Mittel für die Fahrtkosten.
Simone van der Merwe, Ärztin an der Cape Town Mediclinic, weiß: »In ländlichen Gegenden ist es fast unmöglich, an eine Abtreibung zu kommen – sowohl legal als auch illegal.« Im urbanen Raum seien die Möglichkeiten vielfältiger.
Scham und Mythen
Wie das Beispiel Gaopalelwes zeigt, sind ungewollte Schwangerschaften oft das Resultat von geschlechtsspezifischer Gewalt. 2012 bezeichnete Interpol Südafrika als die »Welthauptstadt der Vergewaltigung«. Seitdem hat sich wenig verändert; nationale Kriminalitätsstatistiken aus dem Jahr 2022 zeigen, dass im Durchschnitt täglich 115 Vergewaltigungen gemeldet werden. Und die Dunkelziffer ist hoch: Es ist davon auszugehen, dass nur jeder neunte sexuelle Missbrauchsfall zur Anzeige gebracht wird.
Die Opfer, oft noch im Teenageralter, sind meistens schlecht aufgeklärt und fürchten sich vor den Konsequenzen. Scham und Mythen über ungewollte Schwangerschaften und Abtreibungen halten sich hartnäckig. »Konservative und spirituelle Überzeugungen verschiedener Kulturen verbinden sich in vielen Fällen zu einem patriarchalen Denkmuster, das Frauen systematisch unterdrückt«, sagt Gaopalelwe. Nicht selten bestehe der Glaube, dass »ein Mann stirbt, sobald er eine Frau heiratet, die in der Vergangenheit schon mal eine Schwangerschaft beendet hat«. Besonders weit verbreitet ist außerdem die Annahme, Frauen könnten nach einer Abtreibung nie wieder Kinder bekommen.
Liberale Gesetze sind eine Sache – der tatsächliche Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ist eine andere.
Ungewollt Schwangere, die in einem öffentlichen Krankenhaus Hilfe suchen, werden vor allem in ländlichen Gegenden auf Basis solcher Überzeugungen vom Personal immer wieder respektlos behandelt und vor ihrer Familie bloßgestellt.
In privaten Kliniken, wie beispielsweise denen der Non-Profit-Organisation Marie Stopes, besteht kein Risiko einer erniedrigenden Zurückweisung. Doch so einen sicheren und diskreten Schwangerschaftsabbruch können sich die wenigsten leisten. Je nach Organisation beginnen die Kosten bei 2 000 südafrikanischen Rand (umgerechnet 100 Euro) für den einfachsten Eingriff. Zum Vergleich: Eine aktuelle Studie des Bureau of Market Research ergab, dass 73 Prozent der Bevölkerung monatlich weniger als 6 000 Rand (300 Euro) verdienen. Mehr als 32 Prozent der über 15jährigen haben gar kein Einkommen. Unter den Erwerbstätigen liegt der Gender Pay Gap bei 30 Prozent.
Epidemisches Ausmaß
Der einzige Ausweg scheint ein Versprechen auf vergilbten DIN-A4-Zetteln zu sein, die in größeren Städten an Straßenschildern, Bahnhöfen und alten Litfaßsäulen kleben: »Pain-free abortion, 10 minutes, R200«. Nicht selten werden unter der dort angegebenen Telefonnummer auch love powder oder Dienstleistungen wie Penisvergrößerungen angeboten.
Wer die Nummer auf dem Poster anruft, bekommt sofort eine Antwort, meistens funktioniert die Kommunikation auch per Whatsapp. Es folgen oft zwielichtige Treffen in dunklen Gassen, bei denen Frauen Pillen zugesteckt werden, deren Wirkstoff sie nicht kennen. Für operative Eingriffe nutzen Pflegekräfte manchmal heimlich Räumlichkeiten einer Klinik, in der sonst legale Schwangerschaftsabbrüche stattfinden, und machen damit gutes Geld. So wahrscheinlich auch in Gaopalelwes Fall.
Van der Merwe hat im Laufe ihres Berufslebens viele Verletzungen infolge illegaler Abtreibungen behandelt: »Das waren zum Teil schreckliche Szenen.« Wenn Frauen so eine Tortur überleben, verlieren sie oft ihre Gebärmutter und damit die Möglichkeit, sich jemals für eigene Kinder zu entscheiden. »Es ist eine stille Epidemie«, sagt die Ärztin.
Die Rolle von NGOs
Sichere Schwangerschaftsabbrüche werden seit dem Choice on Termination of Pregnancy Act insbesondere von NGOs ermöglicht. Eine davon ist Abortion Support South Africa, die Gaopalelwe 2016 gegründet hat.
Ihr Weg dorthin war nicht leicht: Nach ihrer Abtreibung kämpfte die junge Frau jahrelang mit Schuldgefühlen und der Gewissheit, ihr Geheimnis für immer hüten zu müssen – bis sie eher zufällig an einer Aufklärungsveranstaltung teilnahm und sich ihre Perspektive für immer änderte. Sie entschied, ihre Geschichte öffentlich zu machen und sich mit anderen Frauen zu vernetzen.
Organisationen wie Abortion Support South Africa vermitteln Hilfesuchende an registrierte Kliniken und bieten Unterstützung durch sogenannte teleabortions, bei denen Ärzt:innen online sichere Abtreibungspillen verschreiben. Sie zeigen Fehlverhalten in Krankenhäusern an, rufen zu Protestaktionen auf und versuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Im Notfall stellen sie zumindest sicher, dass es sich bei bereits illegal gekauften Pillen auch tatsächlich um das benötigte Medikament handelt.
Aber das reicht nicht aus, um die Situation in Südafrika dauerhaft zu verbessern. Van der Merwe spricht von einem »Pflaster auf einer offenen Wunde« und betont: »Der Fokus muss mehr auf Prävention liegen.«
Aufklärung tut not
Seit dem offiziellen Ende der Apartheid 1994 kann Südafrika als demokratischer Staat bezeichnet werden. Die Partei African National Congress (ANC) gewann im selben Jahr unter Nelson Mandela die Parlamentswahlen und regiert bis heute; im Jahr 1996 unterstützte der ANC die Reform für legale Abtreibungen. Allerdings hat sich seitdem wenig getan, das Recht wird fast drei Jahrzehnte später kaum politisch verteidigt. Andere Parteien, zum Beispiel die African Christian Democratic Party, sprechen sich nach wie vor explizit dagegen aus.
Ein großes Problem bestehe darin, dass junge Frauen oft überhaupt nicht von ihrem Recht auf eine Abtreibung wüssten, berichtet van der Merwe. »Wir brauchen bessere Aufklärung, auch über Themen wie sichere Verhütung.« Dadurch könne beispielsweise der Großteil ungeplanter Teenagerschwangerschaften verhindert werden.
Armut und Gewalt
Die Wurzeln des Problems liegen tief. Auch wenn das Apartheidregime schon lange zurückliegt, ist die soziale Realität hart: In kaum einem Land der Welt sind Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt. Besonders arme Gegenden werden nach wie vor hauptsächlich von schwarzen Südafrikaner:innen bewohnt, die über 80 Prozent der Bevölkerung des Landes stellen. Auch die Bevölkerungsgruppe, die in Südafrika als Coloureds bekannt ist und grob gesagt jene umfasst, die Vorfahren aus verschiedenen ethnischen Gruppen haben, ist überdurchschnittlich stark von Armut betroffen.
Die sogenannten Townships, in denen Tausende, oft Zehntausende eng platzierte Wellblechbuden ganze Stadtteile bilden, sind von hohen Kriminalitätsraten geprägt. »Je ärmer die Personen, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen sind, keine Krankenversicherung haben und nicht ausreichend aufgeklärt sind«, sagt van der Merwe. Es trifft – wie so oft – die ohnehin schon gesellschaftlich Benachteiligten.
Südafrikas Situation ist beispielhaft für eine Erkenntnis, die global für den Sektor reproduktiver Gesundheit gilt: Liberale Gesetze sind eine Sache – der tatsächliche Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen ist eine andere. Ohne einen tiefgreifenden politischen und gesellschaftlichen Wandel können illegale Abtreibungen kaum bekämpft werden.
»Wir können Frauen nur helfen, wenn sie sich selbst helfen wollen«, fasst Gaopalelwe die Situation zusammen. Und dafür müssen sie ihre Rechte kennen. Es fehlt an Aufklärung in Schulen und Communitys. Es fehlt an Beschwerdestellen, bei denen illegale Kliniken gemeldet werden können. Und es fehlt an Öffentlichkeit: »Wir brauchen mehr Menschen, die ihre Geschichte erzählen – auch wenn sie dabei anonym bleiben wollen.«
Gaopalelwe hat mittlerweile zwei Kinder. Ihren Schwangerschaftsabbruch hat sie keine Sekunde bereut: »Das Einzige, was ich heute ändern würde, wäre, mein Recht auf eine sichere Abtreibung stärker einzufordern.« Dabei hilft sie jetzt anderen Frauen in Südafrika. Im Juni wurde sie für ihre Arbeit mit dem 200 Young South Africans Award 2023 der südafrikanischen Wochenzeitung Mail & Guardian in der Kategorie »Zivilbevölkerung« ausgezeichnet. Und ihr Kampf geht weiter, denn: »Egal was Leute von Abtreibungen halten – es wird sie immer geben.«