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Im November 1978 erschien die Erstausgabe von Edward Saids Hauptwerk »Orientalism«. Mit seinen Thesen löste Said nicht nur eine bis heute nachwirkende Debatte über das westliche Verständnis des Nahen Ostens aus, sondern lieferte auch Stichwörter für diejenigen, die jüngst den Angriff der Hamas auf Israel als »dekolonialen Kampf« guthießen.
Was haben der antike griechische Dichter Aischylos, Johann Wolfgang von Goethe und der ehemalige US-amerikanische Außenminister Henry Kissinger gemeinsam? Glaubt man dem Literaturwissenschaftler Edward Said, dann sind sie allesamt Teilnehmer eines Diskurses über »den Orient«, in dem diesem die Rolle des kulturellen Gegenübers zur westlichen Kultur zukommt. In seiner gleichnamigen, 1978 erstmals erschienenen Studie bezeichnete Said diesen Diskurs als »Orientalism«, zu Deutsch »Orientalismus«.
Darin führt er aus, dass europäische Dichter, Philosophen und Wissenschaftler seit der Antike ein Bild des Nahen Ostens zeichneten, das einerseits zwar kaum der Realität der Region entspreche, sich andererseits jedoch für identitätsstiftende Projektionen sowie als Legitimationsgrundlage für allerhand Herrschaftsansprüche des Westens nützlich erweise. Weiter behauptet er, dass sich der Orientalismus als »System der Wahrheiten« im 19. Jahrhundert so stark durchgesetzt habe, dass praktisch jede Aussage eines jeden Europäers über den Orient »rassistisch, imperialistisch und fast völlig ethnozentristisch« sei.
Nach Erscheinen der englischsprachigen Originalausgabe vor 45 Jahren wurde über diese gestritten – unter anderem sprachen sich der US-amerikanischen Orientforscher und Islamwissenschaftler Bernard Lewis neben auch arabischen Intellektuellen wie dem syrischen Philosoph Sadiq al-Azm gegen das Buch von Said aus.
Tatsächlich merkte Said im Nachwort der 1994 erschienen Neuausgabe an, keine »Theoriemaschine«, sondern ein in erster Linie »parteiliches Buch« geschrieben zu haben.
Seine Kritiker warfen Said unter anderem vor, dass er aus den über 60.000 in Europa und den Vereinigten Staaten publizierten Arbeiten zum Nahen Osten selektiv nur diejenigen Beiträge für seine Analyse auswählte, die seine Orientalismus-These stützten. Dass die westlichen Wissenschaft und Kultur zweifelsohne auch rassistische und imperialistische Beiträge hevorgebracht habe, reiche noch lange nicht aus, um eine derartig allgemeingültige These wie seine aufzustellen. Denn die Darstellungen des Nahen Ostens und des Islam im Westen waren deutlich vielfältiger, als von Said behauptet. Viele jüdische Wissenschaftler schauten beispielsweise mit Bewunderung auf den Islam.
Auch meldeten sich Kritiker zu Wort, die hinter »Orientalism« eine politische Agenda Saids vermuteten. Und tatsächlich merkte Said im Nachwort der 1994 erschienen Neuausgabe an, keine »Theoriemaschine«, sondern ein in erster Linie »parteiliches Buch« geschrieben zu haben. Said verfasste »Orientalism« unter dem Eindruck des Sechstagekriegs von 1967 und der Reaktionen der US-amerikanischen Politik und Öffentlichkeit auf diesen.
Nach dem Sieg der israelischen Seite und deren daraus resultierender Kontrolle über das Westjordanland sowie den Gaza-Streifen entwickelte sich Said vom Literaturwissenschaftler zum politischen Aktivisten und Advokaten des palästinensischen Nationalismus. »Orientalism« sollte nun die immer schon dagewesenen projektiven Bedürfnisse und Herrschaftsansprüche des Westens in Bezug auf den Nahen Osten aufdecken und zusammen mit den Folgepublikationen »The Question of Palestine« (1979) sowie »Covering Islam« (1981) ein alternatives, positives Bild der Palästinenser und des Islam entwerfen.
»Orientalism« wurde zu einem internationalen Bestseller und gilt mittlerweile als kanonisches Werk der Literatur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Der Begriff Orientalismus gehört inzwischen zum Standardvokabular des angeblich »kritischen Denkens«. Zudem lieferte Said einen entscheidenden Beitrag zur Gründung der postcolonial studies. Signalwörter wie »Okkupation« oder »Narrativ« findet man bereits in »Orientalism«.
1994 sah sich Said gezwungen, gegen die Vereinnahmung seines Buches durch islamistische Kräfte anzuschreiben, die darin eine Verteidigung des Islam erkannten. Ein näherer Blick in sein Buch zeigt jedoch, dass seine Orientalismus-These tatsächlich Anknüpfungspunkte für bekannte Argumentationen der Islamisten bietet.
Seinen Erfolg hat Said nicht zuletzt dem »cultural turn« zu verdanken, der ab den frühen siebziger Jahren an den westlichen Universitäten stattfand. Saids Beitrag erwies sich in dieser Hinsicht als wegweisend. Denn an die Stelle der bisher zumeist marxistisch geprägten Theorien des Antikolonialismus setzte Said eine kulturelle Erklärung des westlichen Imperialismus und Kolonialismus. Dieser fiel Karl Marx schließlich selbst zum Opfer. Said unterstellt ihm, ein Orientalist gewesen zu sein, und entledigt sich der älteren Imperialismuskritik. Viele folgten ihm darin.
Gleichzeitig mit dem »cultural turn« fand zunächst an englischsprachigen Universitäten eine bis heute andauernde Debatte über die vermeintlich eurozentristischen Curricula und den Kanon statt, infolge derer nichtwestliche Autoren einen Bedeutungsaufstieg erfuhren. Auch hier erwies sich »Orientalism« als wegweisend. Aus der vermeintlich authentischen Sichtweise eines arabisch-christlichen Palästinensers präsentierte Said seinem westlichen Publikum die Erzählung einer ewigen Unterdrückung des Islam durch den Westen.
Damit fand Said nicht nur an westlichen Universitäten Zuspruch. Im erwähnten Nachwort von 1994 sah sich Said gezwungen, gegen die Vereinnahmung seines Buches durch islamistische Kräfte anzuschreiben, die darin eine Verteidigung des Islam erkannten. Ein näherer Blick in sein Buch zeigt jedoch, dass seine Orientalismus-These tatsächlich Anknüpfungspunkte für bekannte Argumentationen der Islamisten bietet. Dass die westliche Islam- und Orientforschung den Islam grundsätzlich falsch darstelle, wie von Said behauptet, wurde von islamistischer Seite bereits seit den dreißiger Jahren als Teil der Verschwörungstheorie eines »jüdisch-westlichen Kriegs gegen den Islam« verbreitet. Der marxistische syrische Philosoph Sadiq al-Azm warf Said deshalb vor, dass sein Buch linke arabische Aktivisten zum Islamismus führe.
Neben dem Islam waren es vor allem die Palästinenser, die Said mit »Orientalism« und anschließend »The Question of Palestine« zu romantisieren versuchte. Er erklärte sie zu Opfern des Zionismus und des Westens. Mit kruden Behauptungen munitionierte Said zu diesem Zweck seine Texte auf. In seinem nochmal schärferen und direkterem Buch »The Question of Palestine« insinuiert er, dass »zionistische Interessengruppen« im Westen dafür sorgen würden, dass jede Kritik am Zionismus als antisemitisch gälte. Folglich bestehe ein Tabu, über das zu sprechen, was die »Juden ihren Opfern antaten, im Zeitalter der genozidalen Auslöschung der Juden«.
Saids Hauptthese ist, dass der Zionismus historisch sowie praktisch an den europäischen Imperialismus anknüpft. Hierfür zieht er verschiedene vermeintliche Aussagen zionistischer Denker wie Theodor Herzl heran, die belegen sollen, dass sie die gleiche orientalistische Sichtweise auf den Nahen Osten teilten wie die europäischen Imperialisten.
Wie bereits zuvor in seinen Thesen zur westlichen Orientforschung schlägt Said bei seiner Verallgemeinerung der zionistischen Bewegung über die Stränge. So gab es mit Martin Buber, der bei Said keine Erwähnung findet, einen bedeutenden Protagonisten des Zionismus, der eine zum europäischen Orientalismus äußerst konträre, positiv besetzte Sichtweise des Nahen Ostens vertrat und gar von einer spirituellen sowie geistigen Nähe des Judentums zur arabischen Welt sprach.
Saids Verständnis von Antisemitismus beruht auf dem Trugschluss, dass dieser eine Feindschaft gegen »Semiten« per se darstelle. Aus den aus Europa geflohenen Juden, die »einst selbst Opfer« waren, sind »Unterdrücker« der palästinensischen Araber geworden, so Saids Fazit.
Said führt in »The Question of Palestine« aus, dass »die Zionisten« die »Kolonialisierung Palästinas« vorantreiben und das Land von seinen arabischen Einwohnern reinigen wollten. Den europäischen Antisemitismus und die Shoah, die zur Gründung Israels führten, blendet eine derartige Verzerrung der Geschichte komplett aus. Saids Behauptungen kulminieren schließlich in der These, dass sich durch den Zionismus die europäischen Juden mit den »weißen Europäern« vereint hätten.
Für Said gehört die Judenfeindschaft damit nicht nur der Geschichte an – viel mehr noch sind es die Araber, die als »Semiten« heutzutage vom Antisemitismus betroffen seien. Saids Verständnis von Antisemitismus beruht somit auf dem Trugschluss, dass dieser eine Feindschaft gegen »Semiten« per se darstelle. Aus den aus Europa geflohenen Juden, die »einst selbst Opfer« waren, sind »Unterdrücker« der palästinensischen Araber geworden, so Saids Fazit.
Damit nahm Said in seinen Büchern vorweg, was innerhalb der postcolonial studies mittlerweile zur Mehrheitsmeinung gehört: Wird auf den arabisch-israelischen Konflikt referiert, gelten Juden als »weiß qua Erlaubnis« (Abigail Bakan) oder schlichtweg als neue Nazis, die in Gaza nichts anderes als die »äquivalente Fortsetzung des Warschauer Ghettos« (Ramón Grosfoguel) betrieben.
Derzeitige Forderungen nach der »Dekolonialisierung Palästinas« und die damit einhergehende Umdeutung des antisemitischen palästinensischen Terrorismus zum »Akt des Widerstands« führen Saids Gedanken fort. Sie sind zudem der Beweis dafür, dass der Weg vom Postkolonialismus-Seminar dahin, zum Judenmord aufzurufen, kürzer geworden ist.