Die Bundeswehr rekrutiert immer mehr Minderjährige

Von der Schulbank zur Armee

Die Zahl Minderjähriger bei der Bundeswehr steigt. Dabei hatte die Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, nur noch Volljährige an der Waffe ausbilden zu lassen.

Eine »Fortschrittskoalition« werde sie sein, hatte das Regierungsbündnis von SPD, Grünen und FDP bei Dienstantritt im Dezember 2021 angekündigt. Dazu gehörte auch das Versprechen, eine höchst umstrittene Praxis zu beenden. So schrieben die Ampelparteien auf Seite 149 ihres Koalitionsvertrags: »Ausbildung und Dienst an der Waffe bleiben volljährigen Soldatinnen und Soldaten vorbehalten.« Doch umgesetzt haben sie ihre Willenserklärung, die irreführenderweise wie eine Ist-Beschreibung klingt, bis heute nicht. Stattdessen steigt seit rot-grün-gelbem Regierungsbeginn die Anzahl der rekrutierten unter 18jährigen.

Das ergibt sich aus einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Kleine Anfrage der Gruppe der Linkspartei im Bundestag. Danach wuchs die Anzahl Minderjähriger, die ihren Dienst bei der Bundeswehr antraten, von 1.239 im Jahr 2021 über 1.773 im Jahr 2022 auf 1.996 im vergangenen Jahr. Bei insgesamt rund 18.800 Sol­dat:innen, die 2023 nach Bundeswehrangaben neu eingestellt wurden, macht das einen Anteil von mehr als 10,6 Prozent nach 9,4 Prozent im Vorjahr. »Die Bundesregierung scheint den Schutz von Minderjährigen vor Militarisierung inzwischen völlig aufgegeben zu haben«, empörte sich Nicole Gohlke, die bildungspolitische Sprecherin der Linkspartei im Bundestag.

Die Minderjährigen erhalten das gleiche militärische Training wie volljährige Soldat:innen.

Mit 17 Jahren darf man zwar noch nicht den Bundestag mitwählen, aber mit Einwilligung der Eltern bei der Bundeswehr das Töten von Menschen lernen. Die Minderjährigen erhalten das gleiche militärische Training wie volljährige Soldat:innen und werden auch mit diesen zusammen untergebracht. Der einzige Unterschied: Sie dürfen nicht »außerhalb der militärischen Ausbildung Funktionen ausüben, in denen sie mit dem Gebrauch der Waffe konfrontiert sein könnten«. Minderjährige dürfen also zum Beispiel keine Wachdienste schieben und nicht auf Auslandseinsätze geschickt werden.

Deutschland bewege sich mit seiner Einstellungspraxis »vollständig im Einklang mit den eingegangenen völkerrechtlichen Abkommen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen«, rechtfertigt sich das Verteidigungsministerium. Das stimmt leider. Denn nach der UN-Kinderrechtskonvention gilt zwar jeder Mensch, der das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, als Kind und entsprechend als besonders schutzwürdig.

Zivilisatorische Grundstandards 

Aber laut einem Zusatzabkommen, dem »Fakultativprotokoll zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten«, dürfen sogar bereits 16jährige mit Einwilligung der ­Erziehungsberechtigten freiwillig zum Militär – obwohl sie per UN-Definition noch als Kinder und nach dem deutschen Jugendschutzgesetz als Jugendliche gelten. Das zeigt allerdings nur, wie schwer es ist, sich auf internationaler Ebene auf zivilisatorische Grundstandards zu verständigen.

Die deutsche Einstellungspraxis wird schon lange nicht nur von der Linkspartei, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft oder von Menschenrechtsorganisationen wie Terre des hommes kritisiert. So kam die Bundestagskommission zur Wahrnehmung der Belange der Kinder, kurz Kinderkommission, bereits vor acht Jahren nach einer umfangreichen Expert:in­nen­anhörung zu dem Ergebnis, die ­Anhebung des Rekrutierungsmindestalters für die Streitkräfte auf 18 Jahre zu fordern. Außerdem solle Werbung für die Bundeswehr, die an Minder­jährige gerichtet ist, verboten werden.

Das steht im vollständigen Einklang mit den Empfehlungen des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, der Deutschland bereits mehrfach in den zurückliegenden Jahren aufgefordert hat, »seine Haltung in Bezug auf das Mindestalter für die freiwillige Rekrutierung in die Streitkräfte zu überdenken«. Zuletzt forderte der UN-Ausschuss im Oktober 2022 von der Bundesregierung, »das Mindestalter für die freiwillige Rekrutierung in die Streitkräfte auf 18 Jahre anzuheben und jede Form von Werbung und Marketing für den Militärdienst, die sich an Kinder richtet, insbesondere in Schulen, zu verbieten«.

Bundeswehr wirbt offensiv um Jugend­liche

Geschehen ist jedoch nichts dergleichen. Im Gegenteil, die Regierung der Ampelkoalition macht einfach dort weiter, wo die schwarz-rote Vorgängerregierung aufgehört hat. Ob mittels Tiktok-Werbekampagnen, auf der Computerspielemesse Gamescom und der Jugendmesse You oder durch mehr als 3.400 Schul- und Hochschulbesuche im vergangenen Jahr: Die Bundeswehr wirbt weiterhin offensiv um jugend­lichen Nachwuchs.

In ihrem Bericht vom September 2016 konstatierte die Kinderkommission des Bundestags, dass die übergroße Anzahl der Staaten auf dieser Welt inzwischen das Rekrutierungsalter für ihr Militär auf mindestens 18 Jahre festgelegt hat. Demgegenüber stehe die Bundesrepublik mit ihrer Praxis »in einer Reihe mit Ländern wie Bangladesh, Aserbaidschan, China, Saudi-Arabien, Algerien, Turkmenistan und der Russischen Föderation«.

Das Verteidigungsministerium verweist hingegen lieber auf Australien, Frankreich, die Niederlande, die USA und Großbritannien als Beispiele dafür, dass die Bundeswehr aus seiner Sicht »mit der aktuellen Praxis keine Sonderstellung« einnehme. Tatsächlich haben sich inzwischen über 150 Länder weltweit zur Einhaltung des sogenannten straight 18-Standards verpflichtet, darunter 24 Nato-Staaten. Innerhalb der Europäischen Union re­krutieren nur noch sechs der 27 Staaten Minderjährige als Soldat:innen.