https://jungle.world/artikel/2024/32/es-ist-wenig-von-einem-rechtsstaat-uebrig
Anfang des vergangenen Jahres gab es in Peru riesige Proteste und Straßenblockaden. Die Demonstranten forderten Neuwahlen und die Absetzung der Interimspräsidentin Dina Boluarte. Dazu kam es nicht, stattdessen wurden die Unruhen mit Gewalt niedergeschlagen. Die »Jungle World« sprach mit der Anwältin Ana María Vidal über Menschenrechtsverletzungen in Peru und die bisherige Bilanz der Regierung Boluarte.
In Peru ist die Lage angespannt. Proteste gegen die unbeliebte Präsidentin Dina Boluarte nehmen wieder an Fahrt auf. Zugleich hat es rechtsextreme Einschüchterungsversuche gegen Jennie Dador Tozzini gegeben, die Koordinatorin der Dachorganisation der Menschenrechtsorganisationen. Wie beurteilen Sie die Situation?
Die Lage ist kompliziert. Wir haben eine Regierung, die für den Großteil der Bevölkerung und vor allem für die indigene Bevölkerung keine Legitimität hat. Das ist sicherlich ein Grund, weshalb es starke Repression seitens der Regierung gibt. Die hat zwar nicht das Niveau wie bei den Protesten vom Dezember 2022 und Januar 2023, als, je nach Quelle, zwischen 50 und 70 Menschen von Armee und Polizei erschossen wurden. Es wurden damals gezielt Schusswaffen eingesetzt. Das ist derzeit nicht der Fall, aber die Ordnungskräfte gehen gegen jede Form von Protesten überaus martialisch vor. Wir haben es mit einer permanenten Repression auf kleiner Flamme zu tun.
»Es gibt etliche Abgeordnete, die mit der illegalen Goldförderung im peruanischen Amazonasgebiet in Verbindung gebracht werden – nicht nur in einer Partei, sondern in mehreren.«
Ende 2022 wurde gegen die Amtsenthebung und Verhaftung des damaligen linken und indigenen Präsidenten Pedro Castillo protestiert. Wie reagiert die Zivilgesellschaft nun auf die Repression?
Die Angst geht um, denn niemand weiß, ob die Ordnungskräfte nicht doch zur Schusswaffe greifen wie damals. Das dämpft die Bereitschaft, auf die Straße zu gehen – nicht nur in Lima, mehr noch auf lokaler Ebene. Immerhin wurden vier Menschen kürzlich zu Haftstrafen verurteilt, nur weil sie protestiert haben. Auf der anderen Seite kommen die Ermittlungen gegen diejenigen nicht voran, die damals den Schießbefehl gaben und ihn ausführten. Und ein weiteres Beispiel: Wegen Protesten gegen die Kupfermine Las Bambas des Rohstoffkonzerns MMG Limited, der mehrheitlich einem chinesischen Staatsunternehmen gehört, wurden neun Indigene verurteilt. Das sorgt für ein wenig vorteilhaftes Bild der Justiz.
Könnte sich das mit dem kürzlich von Amnesty International in Lima veröffentlichten Menschenrechtsbericht ändern, wonach Boluarte strafrechtlich für die Toten und Verletzten bei den Protesten verantwortlich gemacht werden könnte?
Die Justiz ist bisher ihrer Aufgabe kaum nachgekommen. Sie hat die Fälle – die Mehrheit der Opfer sind Indigene – nicht oder nicht ausreichend untersucht. Die Untersuchung geht der zentralen Frage nach, wer den Schießbefehl gab, und weist nach, dass Boluarte an Treffen mit der Polizei und den Militärs teilnahm. Dem Bericht zufolge gibt es »zahlreiche Beispiele für wichtige Befehle und Entscheidungen von hochrangigen Polizei- und Militärkommandanten, der Präsidentin und von Ministern, die schweren Menschenrechtsverletzungen Tür und Tor öffneten«.
Welche Folgen hat diese Studie – reagiert die Justiz, reagieren Politiker?
Bislang nur sehr verhalten. Aus der Politik kommen zudem ablehnende Kommentare, nach der Devise, man werde sich nicht von einer Menschenrechtsorganisation vorschreiben lassen, wie man zu reagieren habe. Das hat sinngemäß Ministerpräsident Gustavo Adrianzén gesagt. Gegen Boluarte ermittelt aber die peruanische Staatsanwaltschaft wegen mutmaßlicher Verbrechen des »Völkermords, qualifizierter Tötung und schwerer Körperverletzung«.
Boluarte hat Umfragen zufolge nur die Zustimmung von fünf Prozent der Bevölkerung – trotzdem schließt sie einen Rücktritt aus?
Sie hat nach wie vor Mehrheiten im Kongress und dort setzen Parteien ihre jeweiligen Interessen durch, im Austausch für ihre Zustimmung in anderen Bereichen. Die politische Realität in Peru folgt perversen Parametern, denn illegale Bergbauprojekte im Amazonas, aber auch in anderen Bereichen existieren genauso wie Drogenanbau in zahlreichen Regionen des Landes. Die Regierung lässt diese Strukturen unangetastet, weil sie sich so Mehrheiten beschaffen kann. Diese Logik bestimmt in Peru die Politik und es gibt zahlreiche Beispiele für erfolgreiche Interessenpolitik – auch im Bildungssektor.
Welche Parteien fördern im Amazonasgebiet de facto den illegalen Bergbau und den Anbau von Kokasträuchern, aus deren Blättern neben Nahrung auch Kokain gewonnen werden kann?
Es sind nicht nur Parteien, es sind auch Kabinettsmitglieder, die diese Politik durchsetzen. Innenminister Juan José Santiváñez war für einen Geschäftsmann aktiv, gegen den wegen Drogendelikten ermittelt wird: Carlos Kiyan Oyama. Natürlich streitet Santiváñez alle Vorwürfe ab, aber die Indizien verdichten sich. Zudem gibt es etliche Abgeordnete, die mit der illegalen Goldförderung im peruanischen Amazonasgebiet in Verbindung gebracht werden – nicht nur in einer Partei, sondern in mehreren. Die rechtskonservative Provinzpartei Alianza para el Progreso des Unternehmers César Acuña Peralta, der 1991 eine Privatuniversität im nordwestlichen Trujillo gegründet hat, ist eher ein Instrument, mit dem Acuña Einfluss auf die Bildungspolitik der Regierung nehmen will, als eine Partei mit Profil. Beispielweise wurde das Niveau für die Prüfung zum Mediziner abgesenkt – auf Druck dieser Partei.
Der Parteivorsitzende Acuña ging 2021 auf Wahlkampftour, um für Castillos Gegenkandidatin bei der Präsidentschaftswahl, Keiko Fujimori, zu werben, die Tochter des ehemaligen Diktators Alberto Fujimori. Der wurde im Dezember auf gerichtliche Anweisung aus der Haft entlassen. Wird der mittlerweile 86jährige 2026 für die Präsidentschaft kandidieren, wie es jüngst hieß?
Ja, die Partei seiner Tochter Keiko, Fuerza Popular, hat das im Juli mitgeteilt. Keiko Fujimori muss sich wegen Korruption verantworten – ihr droht eine 30jährige Haftstrafe wegen des Verdachts der Bestechlichkeit im Rahmen der umfassenden Schmiergeldzahlungen an lateinamerikanische Politiker durch den brasilianischen Konzern Odebrecht. Obendrein versucht Alberto Fujimori eine staatliche Rente einzuklagen, weil diese ihm als ehemaligem Präsidenten angeblich zusteht – obwohl er wegen Korruption und Menschenrechtsverletzungen verurteilt wurde. Die Verhältnisse in Peru spotten jeder Beschreibung.
Ist Peru in die Hände korrupter Netzwerke gefallen?
Peru ist in eine politische Glaubwürdigkeitskrise gerutscht, die sich seit Jahren abgezeichnet hatte und sich nicht nur bei der Korruption in den staatlichen Institutionen zeigt. Es ist wenig von einem Rechtsstaat übrig.
Dazu passt, dass es neue Proteste gegen große Bergbauprojekte gibt, da sie Ackerflächen und die Trinkwasserversorgung bedrohen. Spitzt sich die Lage dort wieder zu?
Ja, aber die Proteste gegen umstrittene Bergbauprojekte der derzeitigen Regierung gibt es in zahlreichen Regionen des Landes – beispielsweise wegen der Kupfermine Tía María in der Region Arequipa. Das produziert Konflikte in oftmals mehrheitlich von indigenen Gemeinden bewohnten Regionen.
Wird es neue breite Proteste geben?
Aus meiner Perspektive ja, denn internationale Empfehlungen wie von der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte, aber auch Urteile vom Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte werden nicht befolgt. In Peru ist das Justizsystem geschwächt, Institutionen wie die Defensoría del Pueblo, ein autonomes Verfassungsorgan, das grundlegende Rechte schützen soll, funktionieren nicht mehr so wie vor zehn Jahren. Wir befinden uns in einer Abwärtsspirale. Wie unter diesen Voraussetzungen faire und transparente Präsidentschaftswahlen 2026 abgehalten werden sollen, weiß ich nicht.