Im Reich der Narrative: Wo der Kritiker zur Stimme wird

Stimmen hören, Visionen haben

Das letzte Wort Von Uli Krug

Sprachkolumne. Journalisten verfügen neuerdings über erstaunliche parapsychologische Fähigkeiten.

Wer Visionen hat, solle besser zum Arzt gehen, lautet ein bekanntes Bonmot des ketterauchenden Ex-Bundeskanzlers Helmut Schmidt. Was Schmidt dazu gesagt hätte, dass jemand Stimmen hört, kann man sich leicht denken.

Unter diesem für ­einen nüchternen Pragmatiker der Macht bedenklichen Zustand leiden deutsche Journalisten mittlerweile allerdings umfassend. Kritiker oder Oppositionelle beispielsweise haben sich in ihrer leiblichen Existenz ­sozusagen verflüchtigt, sie existieren nur noch als kritische beziehungsweise oppositionelle Stimmen – jedenfalls in den Texten, die über sie geschrieben werden. Nicht mehr Kritiker und Oppositionelle machen sich bemerkbar oder werden zum Schweigen gebracht, sondern ihr ätherisches Wesen, ihre Stimmen also.

Das Stimmengewirr hat nun einmal die Eigenschaft, dass am ehesten gehört wird, wer am lautesten schreit.

Zweierlei ist an dieser Sprachmode bemerkenswert: Zum einen werden Aufbegehren und Unterdrückung auf rein sprachliche Phänomene heruntergebracht; dass es sich bei beidem um in letzter Instanz physische Phänomene handelt, die mit Angst, Schmerz und schlimmstenfalls Tod einhergehen, verschwindet in der gesäuberten Rede von den Stimmen.

Zum anderen haftet dieser Redensart immer schon an, dass die Inhalte beliebig sind. Der Begriff »Stimmen« stand auch im journalistischen Deutsch ursprünglich für Einschätzungen und Kommentare, die irgendjemand, ein Experte oder Beteiligter vorzugsweise, zu einem Ereignis abgibt, Äußerungen, die als durch und durch subjektiv zu gelten haben.

Kritik zur kritischen Stimme bagatellisiert

Bei Missständen aller Art aber geht es nicht darum, über sie zu mutmaßen, sondern sie zu beschreiben und zu analysieren, in der Absicht, diese Missstände abzuschaffen. Wird solche Kritik zur kritischen Stimme bagatellisiert, begibt man sich nolens volens ins Reich der sogenannten Narrative, in dem es nicht mehr darum geht, ob etwas zutrifft oder nicht, sondern nur darum, ob es dem Sprecher beziehungsweise Hörer gefällt oder nicht. Und das Stimmengewirr hat nun einmal die Eigenschaft, dass am ehesten gehört wird, wer am lautesten schreit.

Der Spuk ist mittlerweile so weit gediehen, dass Journalisten Stimmen sogar sehen, wie unlängst der Moderator einer Sportsendung: »Ich sehe da noch eine Stimme auf dem Platz«, meinte der, um das ­laufende Interview zu unterbrechen. Diese Art visionärer Synästhesie hätte wohl selbst den bärbeißigen Schmidt erstaunt.