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Im Juni 2017 kam es zu einem Großbrand im Londoner Grenfell Tower mit 72 Todesopfern. Ein Untersuchungsbericht gibt Einblicke in das staatliche Versagen, das zu der Katastrophe in dem Hochhaus führte.
Seit mehreren Jahren überragen große grüne Herzen den Londoner Stadtteil North Kensington. Sie wurden an der verhüllten Ruine des Grenfell Tower angebracht. Daneben der Schriftzug: »Grenfell – für immer in unseren Herzen.« Die Installation dient als provisorisches Denkmal für eines der schlimmsten Desaster in der jüngeren britischen Geschichte. In den frühen Stunden des 14. Juni 2017 brach in einer Wohnung auf der vierten Etage des 24stöckigen Sozialwohnungskomplexes ein Feuer aus, das sich innerhalb kürzester Zeit über die Außenfassade ausbreitete. 72 Menschen starben infolge des Großbrands. Zahlreiche Überlebende erlitten teils schwere körperliche und psychische Schäden.
In einem Interview bezeichnete der Labour-Abgeordnete David Lammy den Großbrand als »ein Verbrechen gewaltigen Ausmaßes« und führte ihn auf die kommunale Unterfinanzierung zurück.
Das Feuer entwickelte sich schnell zu einem Politikum. Oppositionspolitiker:innen sowie Vertreter:innen von Gewerkschaften und Zivilgesellschaft machten vor allem die konservativ-liberale Austeritätspolitik der vorherigen Jahre für das Desaster verantwortlich. Besonders scharfe Worte wählte der heutige britische Außenminister David Lammy, seit 2000 Abgeordneter der Labour-Partei für Tottenham, der eines der Todesopfer persönlich kannte. In einem Interview mit dem Guardian-Kolumnisten Owen Jones 2017 bezeichnete er den Großbrand als »ein Verbrechen gewaltigen Ausmaßes« und führte ihn auf eine Politik der Unterfinanzierung kommunaler Infrastruktur zurück: »Diese ausgebrannte Hülle zeigt, wohin wir in Sachen Austerität gelangt sind.«
Andere Kritiker:innen sahen in der Brandkatastrophe ein Paradebeispiel für die Diskriminierung vulnerabler Gruppen. In einem Gastbeitrag für die Wochenzeitung The Observer sprach die Bürgerrechtlerin Doreen Lawrence von einer »institutionellen Gleichgültigkeit« gegenüber den Bewohner:innen, die auch durch Rassismus geprägt sei. Tatsächlich befanden sich unter den Todesopfern mehrheitlich Menschen mit Migrations- und Fluchtgeschichte.
Es hatte Warnungen gegeben, wie schlecht es um die Gebäudesicherheit im Grenfell Tower bestellt sei. Die 2010 gegründete Bewohner:inneninitiative Grenfell Action Group machte wiederholt auf die Brandrisiken im Gebäude aufmerksam. Angaben der Gruppe zufolge ignorierten Repräsentanten des kommunalen Eigentümers – dem seit jeher von der Konservativen Partei geführten Stadtrat Kensington and Chelsea London Borough Council – und dessen Hausverwaltung diese Warnungen weitgehend. Unmittelbar nach dem Brand gründeten sich weitere lokale Gruppen und Kampagnen, allen voran die Betroffeneninitiative Grenfell United. Diese warf den örtlichen Behörden und der britischen Regierung unter anderem vor, die Betroffenen nicht angemessen unterstützt zu haben.
Den damals regierenden Konservativen gelang es, dem öffentlichen Druck größtenteils standzuhalten. Nach lokalen Protesten traten der Vorsitzende und der Geschäftsführer des Kensington und Chelsea Council zurück. Weitere personelle Konsequenzen gab es nicht. Dazu trug sicherlich bei, dass Premierministerin Theresa May bereits am 15. Juli 2017 eine öffentliche Untersuchung des Brands ankündigte.
In Großbritannien verfügen die Kommissionen, die mit solchen Untersuchungen betraut werden, über besonders umfangreiche rechtliche Befugnisse, sie können beispielsweise Zeug:innen verbindlich vorladen. Der ehemalige Richter Martin Moore-Bick wurde mit der Leitung der Untersuchung beauftragt.
Wegen einer mieter:innenfeindlichen Gerichtsentscheidung aus dem Jahre 2014 war dieser bei Betroffenen jedoch nicht sonderlich beliebt. Nach öffentlichem Druck sah sich die Regierung im Mai 2018 dazu genötigt, die Untersuchungskommission um zwei Expert:innen zu erweitern.
Im Oktober 2019 veröffentlichte die Untersuchungskommission ihren ersten Bericht, der sich in erster Linie mit den Ereignissen am Tag des Großbrands beschäftigte. Sie kam zu dem Schluss, dass die hochentzündliche Fassadenverkleidung, die im Rahmen einer Grundsanierung 2015/2016 angebracht worden war, maßgeblich zur rapiden Ausbreitung des Feuers beigetragen hatte. Außerdem warf sie der Londoner Feuerwehr schwere Versäumnisse vor, wie das Fehlen eines Evakuierungsplans für das Gebäude.
Vergangene Woche wurde nun der lange erwartete Abschlussbericht veröffentlicht. Dieser setzt sich zum Ziel, den »Weg zum Desaster« aufzuklären. Die zentrale Schlussfolgerung lautet, der Großbrand sei das Ergebnis »von Jahrzehnten des Versagens der Zentralregierung sowie anderer Körperschaften, die Verantwortung im Bauwesen tragen«. Bereits seit den neunziger Jahren hätten Expert:innen vor der Verwendung brennbarer Baustoffe gewarnt, was von staatlicher Seite aber ignoriert worden sei.
Den Herstellern dieser Baustoffe wurde »systematische Unehrlichkeit« vorgeworfen. Sie hätten demnach die Brandrisiken verheimlicht und Testergebnisse manipuliert; die staatlich beauftragten Zertifizierungsstellen wiederum hätten diese Ergebnisse unzureichend geprüft. Insgesamt habe es ein »schwaches Regulierungsregime« gegeben, das Unternehmen ausgenutzt worden sei.
Das Verhalten der lokalen Behörden und der Hausverwaltung des Grenfell Tower sei durch »beständige Gleichgültigkeit beim Brandschutz und insbesondere bei der Sicherheit vulnerabler Menschen« gekennzeichnet gewesen. Der umfangreiche Katalog an Handlungsempfehlungen, die der Bericht gibt, fordert vor allem die Regierung auf, den Bau- und Wohnsektor effektiver zu regulieren, vorzugsweise in Form einer zentralen Kontrollbehörde.
Der seit Juli amtierende Premierminister Keir Starmer (Labour) entschuldigte sich »im Namen des britischen Staats« bei den Betroffenen und versprach, alle Handlungsempfehlungen »im Detail zu prüfen«. Die Führungsriege von Starmers Regierung gehört zum wirtschaftsliberalen Flügel der sozialdemokratischen Labour-Partei.
Die Entfernung brennbarer Außenfassaden läuft sehr schleppend.
Nun besteht die Aufgabe darin, umfangreiche staatliche Eingriffe in der Bauindustrie durchzusetzen und das Problem der strukturellen Unterfinanzierung der Kommunen in Angriff zu nehmen. Dabei müssen die Versäumnisse der konservativen Vorgängerregierungen behoben werden. Die Entfernung brennbarer Außenfassaden beispielsweise läuft sehr schleppend. Offiziellen Angaben zufolge wurden bis Ende Juli 2024 lediglich 29 Prozent der insgesamt 4.630 Gebäude, die als brandgefährdet eingestuft wurden, entsprechend renoviert.
Grenfell United zeigte sich mit den Ergebnissen der öffentlichen Untersuchung weitgehend zufrieden, forderte aber weitere Schritte. In einer Pressemitteilung nannte die Betroffeneninitiative den Bericht und seine Reformvorschläge ein »bedeutsames Kapitel auf dem Weg zu Wahrheit, Gerechtigkeit und Veränderung«. Sie machte aber auch deutlich, dass sie die Verantwortlichen vor Gericht und im Gefängnis sehen will, wie es auch die reißerische Rhetorik der Presseerklärung nahelegt. In dieser war unter anderem von »Gaunern« und »Mördern« die Rede. In den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob die Strafverfolgungsbehörden dieser Forderung nachkommen werden. Ein Sprecher der Londoner Metropolitan Police teilte vorige Woche mit, dass Anklagen frühestens in zwölf bis 18 Monate erhoben werden könnten.