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Mit repressiven Methoden sorgt der tunesische Präsident Kaïs Saïed dafür, dass er nicht um seine Wiederwahl fürchten muss.
Paris. Einer der drei Präsidentschaftskandidaten betreibt seinen Wahlkampf aus einer Gefängniszelle heraus. Gegen den 46jährigen Ayachi Zammel – er hatte in biologische Landwirtschaftsprojekte investiert und 2022 die Kleinpartei Azimoun (Die Entschlossenen) gegründet – hat die Staatsanwaltschaft vorsorglich nicht nur einen, sondern gleich fünfHaftbefehle erlassen. Am 2. September ordnete sie Zammels Inhaftierung an, angeblich hatte er Unterschriften zur Wahlzulassung gefälscht.
Das Verwaltungsgericht betrachtet die gerichtliche Kontrolle als obligatorisch und ordnete am Samstag vergangener Woche an, die drei von der Wahlbehörde abgelehnten Kandidaten auf die Stimmzettel aufzunehmen. Damit ist ein offener Machtkampf zwischen Staatsorganen ausgebrochen.
Um zur Präsidentschaftswahl am 6. Oktober in Tunesien antreten zu können, werden die Unterschriften von zehn Parlamentsmitgliedern oder 10.000 Bürgerinnen und Bürgern benötigt. Nach Einschätzung des Verwaltungsgerichts der Hauptstadt Tunis konnten sechs Bewerber diese Hürden nehmen, die oberste Wahlbehörde Instance supérieure indépendante pour les élections (Isie) erkannte dies hingegen nur für drei Bewerber an. Neben dem im Oktober 2019 gewählten parteilosen Amtsinhaber Kaïs Saïed, der sich selbst im Juli 2021 mit erweiterten Vollmachten ausgestattet hat, handelt es sich um Zouhair Maghzaoui von der Volksbewegung (Mouvement du peuple) – er und seine Kleinpartei unterstützten den von vielen so genannten »amtlichen Putsch« Saïeds – und den offenkundig missliebigen Zammel. Die diversen Oppositionskräfte halten Maghzaoui für ebenso wenig wählbar wie das amtierende Staatsoberhaupt.
Die drei vom Gericht akzeptierten, aber von der Isie abgelehnten Kandidaten vertreten relevante politische Kräfte: Abd al-Latif Mekki die islamistische Partei al-Nahda (Wiedergeburt), Imed Daïmi die Anhänger des von 2011 bis 2014 amtierenden Präsidenten Moncef Marzouki sowie Mondher Zenaïdi die Gefolgschaft der 2011 gestürzten Diktatur Zine al-Abidine Ben Alis. Zenaïdi war unter Ben Ali Gesundheitsminister.
Insgesamt, berichtete Amnesty International am 20. August, wurden acht der ursprünglich 17 Bewerber um eine Präsidentschaftskandidatur inhaftiert oder mit Strafverfolgung belegt. Die juristischen Konflikte dauern an. Die Isie erklärte ihre Entscheidungen für »juristisch nicht anfechtbar«. Das Verwaltungsgericht betrachtet die gerichtliche Kontrolle jedoch als obligatorisch und ordnete am Samstag an, die drei von der Wahlbehörde abgelehnten Kandidaten auf die Stimmzettel aufzunehmen. Damit ist ein offener Machtkampf zwischen Staatsorganen ausgebrochen. Die Mitglieder der Isie werden von Kaïs Saïed ernannt, zuletzt änderte er durch ein Präsidialdekret vom 9. Mai 2022 die Zusammensetzung der Behörde.
Am Freitag voriger Woche demonstrierten gut 1.000 Menschen in Tunis, wo Protestieren heutzutage wieder gefährlich sein kann, gegen den »Diktator« Saïed. Unterdessen wurde am Samstag der Wahlkampf offiziell eröffnet, bislang mit nur drei Bewerbern. Al-Nahda hatte am Dienstag voriger Woche bekannt gegeben, mehrere Dutzend ihrer Aktivisten und Parteifunktionäre seien verhaftet worden.
Saïed trifft seine Entscheidungen autokratisch. Werden sie nicht befolgt oder zeitigen sie nicht die gewünschten Ergebnisse, führt er das gern auf Verschwörungen zurück. Mehrfach erzürnte er sich zudem darüber, dass die tunesische Flagge nicht oder nicht in geziemender Weise präsent sei – etwa Anfang Mai, als die tunesische Sportlerin Habiba Belghith bei der Afrikameisterschaft im Schwimmen in Angola antrat, eine Bronzemedaille gewann, aber die Fahne ihres Landes nicht gehisst werden durfte. Der Grund war eine Sanktion der Welt-Anti-Doping-Agentur, die verhängt worden war, weil das tunesische Sportministerium internationale Vorgaben trotz vormaliger Aufforderung und der Setzung einer Frist nicht erfüllt habe.
Als dann am 9. Mai auch noch bei einem Wettkampf im Schwimmbecken von Radès, einem Vorort von Tunis, ebenfalls die Staatsflagge mit einem Tuch abgedeckt werden musste, witterte Saïed einen Skandal, eilte an Ort und Stelle, küsste eine Flagge, beschwor für dieselbe vergossenes »Märtyrerblut« und inszenierte einen präsidialen Wutanfall. Am übernächsten Tag wanderten neun Personen, darunter die Vorsitzenden des Schwimmverbands und der nationalen Agentur zur Dopingbekämpfung, wegen Teilnahme an einem »Komplott gegen die Staatssicherheit« in Untersuchungshaft.
Saïeds Methoden stellen in gewisser Weise auch eine autoritäre Antwort auf die Probleme im Staatsapparat dar, welche die Vorgängerregierungen hinterlassen haben. Schon unter dem 2011 durch Massenproteste gestürzten Präsidenten Ben Ali, der seit 1987 regiert hatte, entschied oftmals nicht Kompetenz, sondern Loyalität über eine Einstellung im Staatsdienst. In der Regierungszeit von al-Nahda, die von 2011 bis 2014 als Koalitionsmitglied in führender und danach bis 2019 in Minderheitsposition den regierenden Kabinetten angehörte, wurden die Probleme jedoch noch potenziert.
Unter der Diktatur Ben Alis aus politischen Gründen verfolgte, oftmals inhaftierte und mitunter gefolterte al-Nahda-Mitglieder wurden nun begünstigt, unter anderem indem man ihnen Posten im Staatsdienst garantierte und dabei rückwirkend ihre Haftzeit auf die Pension anrechnete. Das Hauptproblem dabei war, folgt man Sarah Ben Néfissa und Pierre Vermeren, die im Januar das Buch »Les Frères musulmans à l’épreuve du pouvoir. Égypte, Tunisie (2011–2021)« (in etwa: Die Muslimbrüder in der Machtprobe) über die Regierungsbilanz der ägyptischen Muslimbruderschaft sowie von al-Nahda in Tunesien veröffentlicht haben, dass massenhaft Parteianhänger, die oft keine hinreichende Qualifikation hatten, eingestellt wurden und auch in Führungspositionen kamen. Es seien Lehrkräfte eingestellt worden, die man dann in den Schulen nie zu Gesicht bekommen habe.
Saïed wählte die autoritäre Methode und versuchte, sich mit Befehlen und Dekreten durchzusetzen. Dies ergänzte er durch populistische Kampagnen, mit dem Beschwören des arabischen Nationalismus und des Islam und im vorigen Jahr auch mit rassistischer Hetze gegen subsaharische Migranten.
Der offenkundige Klientelismus minderte die Popularität al-Nahdas. Zudem verfolgte al-Nahda eine offen reaktionäre Politik, international insbesondere in Zusammenarbeit mit den der Muslimbruderschaft nahestehenden Regierungen in der Türkei, Katar und bis 2013 Ägypten; innenpolitisch ließ sie unter anderem mit Schrot auf streikende Gewerkschafter schießen und begünstigte die Ausreise tunesischer Jihadisten nach Syrien.
Der Präsident muss also mit oft nach Parteibuch rekrutierten und inkompetenten Staatsangestellten zurechtkommen. Saïed wählte die autoritäre Methode und versuchte, sich mit Befehlen und Dekreten durchzusetzen. Dies ergänzte er durch populistische Kampagnen, mit dem Beschwören des arabischen Nationalismus und des Islam und im vorigen Jahr auch mit rassistischer Hetze gegen subsaharische Migranten. Das brachte die politischen und sozialen Probleme einer Lösung nicht näher. Da Saïed mit repressiven Methoden dafür gesorgt hat, dass er keine Konkurrenz fürchten muss, kann seine Wiederwahl dennoch als sicher gelten.