Die Netanyahu-Regierung hat kein ­Konzept für die Zukunft des Gaza-Streifens

Der Feuerring um Israel

Auch ein Jahr nach Kriegsbeginn hat die israelische Regierung kein Zukunftskonzept für den Gaza-Streifen. In den nördlichen Grenz­gebieten Israels sind die Kämpfe zwischen Armee und Hizbollah weiter eskaliert, auch im Westjordanland geht Israel stärker gegen bewaffnete islamistische Gruppen vor.

Für Israelis fühlt sich das Leben seit dem 7. Oktober an, als ob sie in einer Zeitschleife gefangen wären, in einem Drama ohne absehbares Ende. Immer noch befinden sich etwa 100 israelische Geiseln in der Gewalt der Hamas. Die Armee ist weiterhin in Kämpfe im Gaza-Streifen verwickelt und Israels Norden steht unter Beschuss der Hizbollah.

Nach der israelischen Geheimdienstoperation der vergangenen Woche, bei der Pager und andere Geräte von Tausenden Hizbollah-Mitgliedern im Libanon explodierten, haben sowohl Israel als auch die Hizbollah-Führung erklärt, dass die Kämpfe in eine »neue Phase« eingetreten seien. Israel weitete sein Bombardement von Hizbollah-Stellungen im Libanon stark aus.

Dabei hatte Ministerpräsident Benjamin Netanyahu unmittelbar nach Beginn der Militäroffensive Ende Oktober einen »totalen Sieg« über die Hamas versprochen. Nur so könnten die Sicherheit Israels wiederhergestellt und die Geiseln befreit werden, wiederholt er seither unentwegt. Auch sei dieser Sieg bereits »in Reichweite«, behauptete er noch im Februar im US-Fernsehsender CBS. Alles sei nur eine Frage von »wenigen Wochen, nicht Monaten«. Aber auch das liegt nun schon über ein halbes Jahr zurück.

Für den Hamas-Führer im Gaza-Streifen, Yahya Sinwar, sind die Geiseln eine Art Lebensversicherung und zugleich das letzte Mittel, um Israel unter Druck zu setzen.

Tatsächlich ist eines der beiden Ziele fast erreicht. »Als militärische Organisation existiert die Hamas nicht mehr«, sagte Israels Verteidigungsminister Yoav Gallant am 10. September auf einer Pressekonferenz. Mohammed Deif, einer der Drahtzieher des 7. Oktober, Ismail Haniya, der Leiter des Hamas-Politbüros, sowie zahlreiche militärische Anführer sind tot und die Terrororganisation stellt keine Gefahr für die israelische Armee mehr dar.

Der 2020 getötete Kommandeur der al-Quds-Brigaden, Qasem Soleimani, hatte als Strategie der Islamischen Republik Iran ausgegeben, um Israel einen »Ring aus Feuer« zu errichten, indem sie die Hamas, den Islamischen Jihad, aber auch die Hizbollah und die Houthis aufrüstet. Das ist nun an einer Front gescheitert.

Doch das andere Ziel Israels, die Befreiung der Geiseln, ist noch nicht erreicht. Jeder Anlauf, mit Vermittlung der USA, Ägyptens und Katars zu einer Einigung zu kommen, scheiterte bis jetzt, und zwar aus mehreren Gründen. Für den Hamas-Führer im Gaza-Streifen, Yahya Sinwar, sind die Geiseln eine Art Lebensversicherung, die er nicht so einfach aus der Hand geben will – und zugleich das letzte Mittel, um Israel unter Druck zu setzen.

Sinwar Meister der psychologischen Kriegsführung

Wie er dabei vorgeht, zeigte sich Anfang September, als die Hamas sechs Geiseln ermordete, kurz bevor sie von der israelischen Armee befreit worden wären. Nachdem ihre Leichen nach Israel gebracht worden waren, veröffentlichte die Hamas Videos mit »letzten Botschaften« der sechs Opfer, in denen diese Netanyahu für die Fortführung des Kriegs verantwortlich machten.

Sinwar zeigte sich damit erneut als skrupelloser Meister der psychologischen Kriegsführung. In seinen vielen Jahren im israelischen Gefängnis lernte er perfekt Hebräisch und verschlang unzählige Bücher über die israelische Geschichte und Gesellschaft. Er kennt die Schwachstellen seiner Gegner und weiß, welche Hebel er ansetzen muss.

Mit den Videos will die Hamas die Angehörigen der Geiseln dazu bringen, weiter gegen die Regierung zu protestieren, damit diese einer Waffenruhe und einem Austausch von Geiseln gegen Palästinenser in israelischen Gefängnissen zustimmt. Doch ohnehin gehen seit Monaten immer wieder Hunderttausende auf die Straße, um genau das zu fordern. Dabei wissen sie, wie gleich mehrere Umfragen aus jüngster Zeit belegen, die Mehrheit der Israelis hinter sich.

»Netanyahu hat ein Gilad-Shalit-Trauma«

»Wer Geiseln ermordet, will keinen Deal«, lautete dagegen Netanyahus Reaktion. Doch der Ministerpräsident selbst verhindert jede Einigung, auch den seit Monaten bei den Verhandlungen diskutierten Plan, in drei Phasen alle Geiseln heimzubringen als Gegenleistung für eine dauerhafte Waffenruhe, einen Rückzug aus dem Gaza-Streifen sowie die Freilassung von etwa 1.000 inhaftierten Palästinensern, dar­unter allein 100 wegen Mord zu lebenslanger Haft Verurteilte.

Als treibende Kräfte hinter Netanyahus Zögerlichkeit werden stets Finanzminister Beza­lel Smotrich und der Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, benannt. Sie drohen damit, die Koalition ihrer Parteien – der Nationalreligiösen Partei und Otzma Yehudit – mit Netanyahus Likud-Partei platzen zu lassen, wenn sich der Ministerpräsident auf einen solchen Handel einlässt. Zudem droht eine Waffenruhe die Gelegenheit zu bringen, eine Untersuchungskommission einzusetzen, die die Verantwortlichen für das Sicherheitsdesaster vom 7. Oktober ermitteln soll. Auch das ist von Netanyahu nicht gewollt.

Doch es gibt noch ein weiteres Motiv, glaubt Gisela Dachs, eine Journalistin und Professorin am DAAD Center for German Studies an der Hebräischen Universität in Jerusalem. »Netanyahu hat eine Art Gilad-Shalit-Trauma«, sagt sie der Jungle World. 2011 ließ die israelische Regierung unter Netanyahu im Austausch für den 2006 entführten Soldaten 1.027 palästinensische Häftlinge frei. »Einer davon war Yahya Sinwar, Mitinitiator des 7. Oktober.« Deshalb würde sich der Ministerpräsident so zögerlich in dieser Frage verhalten.

Neue Einheitsregierung?

Manche im Kabinett stellen sich gegen Netanyahu, allen voran Verteidigungsminister Gallant, der ebenfalls dem Likud angehört. »Israel sollte ein Abkommen erzielen, das eine sechswöchige Pause bewirkt und die Geiseln zurückbringt«, sagte Gallant der Presse. Nun ist sein eigener Posten in Gefahr.

Netanyahu, dessen rechtsextreme Koalitionspartner schon lange Gallants Rücktritt fordern, würde ihn Medienberichten zufolge gerne entlassen und durch seinen früheren innerparteilichen Rivalen, Gideon Sa’ar, ersetzen. Das wäre sehr umstritten, nicht zuletzt deshalb, weil es bedeuten würde, mitten im Krieg einen erfahrenen Minister durch eine Person auszutauschen, die im Gegensatz zum ehemaligen Generalmajor Gallant nicht über militärische Expertise verfügt.

Aber es tut sich noch mehr hinter den Kulissen. Dem Fernsehsender Kanal 12 zufolge soll Staatspräsident Isaac Herzog bereits daran arbeiten, eine neue Einheitsregierung zustande zu bringen, die Rechtsextreme wie Smotrich und Ben-Gvir außen vor lässt. Berichten zufolge habe Herzog bereits mit Vertretern von Opposition und Koalition gesprochen. Auch der skandalumwitterte Vorsitzende der sephardisch-ultraorthodoxen Shas-Partei, Aryeh Deri, wäre demnach für ein derartiges Projekt zu gewinnen, ebenso Benny Gantz, der Vorsitzende der Partei Nationale Einheit, und Yair Lapid von der größten Oppositionspartei Yesh Atid.

Die USA wollen die Autonomiebehörde mit an Bord holen und perspektivisch einen palästinensischen Staat – für Netanyahu absolut inakzeptabel.

Noch etwas steht einer Vereinbarung mit der Hamas entgegen, nämlich dass Netanyahu kein realistisches Konzept für den »Tag danach« in der Schublade hat. Denn kommt eine Waffenruhe zustande, wird die Frage dringlicher, wer das Sagen in einem Nachkriegs-Gaza-Streifen haben soll. Bis dato gab es seitens der Regierung nur vage Äußerungen dazu. »Lokale Persönlichkeiten« ohne Hamas-Vergangenheit sollten Verantwortung in einem »total demilitarisierten« Gaza-Streifen übernehmen, die Bevölkerung solle »deradikalisiert« werden.

Die USA möchten etwas anderes: Sie wollen die Autonomiebehörde mit an Bord holen und perspektivisch einen palästinensischen Staat – für Netanyahu absolut inakzeptabel. Andere Politiker wie Gantz oder Lapid wären womöglich bereit, für die Befreiung der Geiseln eine solche Kröte zu schlucken.

Derzeit aber hat Israel nur zwei Optionen, argumentiert Professor Eitan Shamir, der Direktor des Begin–Sadat Center for Strategic Studies an der Bar-Ilan-Universität, in einer Analyse: »Die erste besteht in Gesprächen zur Beendigung des Kriegs und zum Rückzug aus dem Gaza-Streifen.« Aber es gebe auch Risiken: »Der Rückzug der IDF aus dem Gaza-Streifen und die Freilassung von Tausenden von Terroristen wäre faktisch eine israelische Kapitulation und ein Verzicht auf die meisten Errungenschaften des Kriegs. Für die Hamas und die gesamte sogenannte Widerstandsfront wäre dies ein enormer Sieg.«

Die zweite Option lautet: weitermachen wie bisher. »Israel wäre dann gezwungen, eine Einigung im Norden zu erzielen.« Wenn das nicht auf diplomatischen Wege gelingt, heißt das Krieg gegen die Hizbollah. »Auch diese Option birgt enorme Risiken.« Israel könnte sich in einer längeren militärischen Auseinandersetzung mit der Schiitenmiliz wiederfinden und zugleich in einem Guerillakrieg im Gaza-Streifen. »Ihr Vorteil aber wäre die Auslöschung der Hamas und die Garantie, dass sie nicht an die Macht zurückkehrt.«

Im Westjordanland droht eine dritte Front zu entstehen

Die Zeit drängt. Nach den schweren Schlägen gegen die Hizbollah der vergangenen Woche geht die israelische Luftwaffe verstärkt gegen Hizbollah-Stellungen nördlich der Grenze vor, und selbst über einen Einmarsch in den Libanon wird wieder spekuliert. Auch im Westjordanland kam es in den vergangenen Wochen vermehrt zu Kämpfen zwischen der israelischen Armee und bewaffneten palästinensischen Gruppen wie dem Islamischen Jihad und der Hamas.

Trotz zahlreicher Appelle der Hamas unmittelbar nach dem 7. Oktober an die Palästinenser im Westjordanland, in den Krieg gegen Israel einzutreten, hatte dort lange relative Ruhe geherrscht. Damit ist jetzt Schluss – nicht zuletzt weil dort immer wieder extremistische jüdische Siedler in Dörfer einfallen, Häuser niederbrennen und Menschen ermorden.

Auch werden über die israelisch-jordanische Grenze Waffen und Gelder aus dem Iran hineingeschmuggelt. Fast täglich kommt es zu Anschlägen auf israelische Soldaten und Zivilisten, weshalb das Militär Ende August die größte Antiterroroffensive seit 2002 begann. Kurzum, neben der Eskalation im Norden droht hier eine dritte Front zu entstehen; der »Ring aus Feuer« wäre dann wieder geschlossen.

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Bild:
stories.bringthemhomenow.net

Über 250 Geiseln verschleppte die Hamas am 7. Oktober. Das Titelblatt dieser Ausgabe zeigt die Gesichter einiger der etwa 100 Geiseln, die immer noch in der Hand der Hamas sind. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist unbekannt. Die Initiative »Hostages and Missing Families Forum – Bring them home now«, die sich nach dem 7. Oktober gegründet hat, um sich für die Geiseln und ihre Angehörigen einzusetzen, stellt auf ihrer Website Poster mit Porträts der Geiseln zum Download bereit, um der Forderung nach ihre Freilassung Nachdruck zu verleihen. (Die Red.)