Streifzüge durch Marseille

Platten, Comics, Kioske à la Marseillaise

Rund um den Cours Julien liegt das Szeneviertel von Marseille. Hier findet man Plattenläden, die ausschließlich Metal vertreiben, Kulturzentren, in denen nicht nur eine Musikrichtung gespielt wird, und Comiczeichnerinnen und -verleger an jeder Ecke.

»Wollen wir da mal rein?« fragt Max. Auf dem Weg durch die schmalen Gassen Marseilles zum Punk- und Metal-Plattenladen »Sabre-Tooth« stolpern wir über einen weiteren Plattenladen namens »Lollipop«. Draußen ist es heiß und schwül, drinnen umso mehr. Plattenladenbesitzer Paul Milhaud begrüßt uns freundlich. Ich frage nach neuer Musik aus der Region. »Wo seid ihr her?« »Aus Berlin. Wir sind zu Besuch. Wir reisen mit zehn Journalisten, einem Kollektiv, blablabla.«

Paul zeigt mir verschiedene neue Alben von Marseiller Bands: Avee Mana, Pleasures und Parade. Auch seine eigene, No Jazz Quartet, ist dabei. Die Alben von Pleasures und Parade hat Paul im vergangenen Jahr auf seinem eigenen Label Lollipop herausgebracht. Les Lullies aus dem zwei Autostunden entfernten Montpellier haben 2023 sogar ein Album beim US-amerikanischen Label Slovenly veröffentlicht. Ich nehme alle.

Hier steht schwitzend ein lebendiges Stück französischer Punkrock-Geschichte vor uns und könnte nicht bescheidener wirken.

»Was hören wir da?« frage ich, in die Luft zeigend. »Seb Radix«, antwortet Paul. Eine poppige One-Man-Band aus Lyon, das Album »1977« läuft gerade. Auch gekauft. Wir sind am Tresen angekommen. »Marseille ist ja unheimlich arm. Die jungen Leute kaufen keine Platten mehr. Und junge Bands machen höchstens CDs«, sagt er und zeigt hinter sich auf ein kleines Regal.

Allrounder Paul macht trotzdem weiter, er gehört zu einer vitalen lokalen Szene. Er ist Musiker, Verleger, Plattenladenverkäufer und hat unlängst sogar sein erstes Buch geschrieben und veröffentlicht: »Nous étions de jeunes punks innocents«, seine persönliche Punk-Geschichte. Das Buch verkauft sich überraschend gut, Max und ich sind beeindruckt. Hier steht schwitzend ein lebendiges Stück französischer Punkrock-Geschichte vor uns und könnte nicht bescheidener wirken.

Am Schluss legt er mir noch eine Single in die Tüte. »Meine Band damals, 1984. Savage Circle aus Aix-en-Provence!« »Hä? Ist das eine Nachpressung? Die sieht noch so neu aus.« »Nein, nein, das ist das Original. Als ich das Buch geschrieben und recherchiert habe, weil die Musiker von Savage Circle ja nicht mehr alle leben, da haben wir diese alte Plattenkiste gefunden. Und aus der Kiste ist die.«

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Eine Abwandlung des Maskottchens von Motörhead prangt an der Wand. Aus Snaggletooth wird Sabre-Tooth, so nämlich heißt der Plattenladen. Worum es hier geht, ist auf den ersten Blick ersichtlich. Metal! Besitzer Phil Stryker begrüßt uns. Eingerahmte Fotos von ihm mit Rockmusikern wie Lemmy Kilmister oder Mike Muir hängen überall im Geschäft an den Wänden. »Max, guck mal, da ist Köfte!« sagt Andreas aufgeregt. » … von der Berliner Psychobillyband Mad Sin!« fügt Phil ungefragt hinzu.

Ein schwarzer Metal-Plattenladenbesitzer in Marseille, der Deutsch spricht

Ein schwarzer Metal-Plattenladenbesitzer in Marseille, der Deutsch spricht? Stark! Schnell entsteht ein Fachgespräch über Musiker:innen, Konzerte und Veröffentlichungen, als würden wir uns schon Jahre kennen. »Hast du in Deutschland gelebt?« fragt Andreas. »Nein, nie«, antwortet Phil. Er sagt, Deutsch sei seine erste Fremdsprache gewesen und er spreche es vor allem mit den deutschen Punk- und Metal-Touristen, die in den Laden kommen.

Mit dem Plattenhändler Phil Stryker (links) von »Sabre-Tooth«

Mit dem Plattenhändler Phil Stryker (links) von »Sabre-Tooth«

Bild:
Jungle World

Wie immer fragt Andreas nach lokalen Platten. Phil muss nicht lange nachdenken. Er spielt uns Quartiers Nord vor. Die Band besteht seit Ende der Siebziger, ihr aktuelles Album »Full Metal Marseille« ist gut produzierter Thrash mit tollen Melodien, Gitarrensoli, die nicht nerven, und französischen Vocals. Hammer, Pflichtkauf! Phil weist uns darauf hin, dass hier im Marseiller Akzent gesungen wird, und zeigt uns, dass im Booklet sogar Marseiller Slang-Ausdrücke ins Französische übersetzt werden. Wir bekommen noch einen Tipp, wo es die beste Lasagne der Stadt geben soll, und er bestätigt unsere Vermutung, dass Bouillabaisse Touristenmist ist, den kein Einheimischer jemals im Restaurant essen würde. Einen T-Shirt-Kauf und ein paar Photos später ziehen wir weiter und fühlen uns, als hätten wir mal kurz bei einem alten Kumpel vorbeigeschaut.

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Als wir am selbstverwalteten Kulturzentrum »La Dar« ankommen sind, ist es noch leer. Der Laden wird von schwarzen Franzosen betrieben. Wir erhalten eine Clubkarte, den Eintrittspreis können wir selbst bestimmen. Drinnen tanzen ein paar Jungs vor der Bühne. Der erste DJ hat sein Set begonnen. Wir gehen raus und treffen ein paar Punks aus Dortmund und eine junge französische Studentin, die Deutsch spricht und in Französisch-Guayana aufgewachsen ist. »Da um die Ecke von Brasilien«, sagt sie.

Vor dem Kulturzentrum »La Dar«

Vor dem Kulturzentrum »La Dar« 

Bild:
Jungle World

Vor dem Haus stehend, sieht es so aus wie vor einem besetzten Haus in den achtziger Jahren, die Fassaden sind genau so unrenoviert und von Graffiti übersät. Als wir wieder reingehen, hat sich der Raum gefüllt. Es läuft ein Mix aus orientalischem Funk, französischem Reggae, HipHop und elektronischer Musik. Alles tanzt, überwiegend junge Leute.

Dann kommen die Punks und machen Pogo, rocken aber wenig später auch zum mitreißenden Post-Punk der Toulouser Nightwatchers ab. Auch bei der nächsten Band, der noch heftigeren Toulouser Raw-Punk-Band Nohz, wird groovend mitgetanzt. Das migrantisch geprägte Kulturzentrum mischt scheinbar mühelos Punk mit Dance Culture. Ein inspirierendes Erlebnis in Marseille, das mit nichts in Berlin zu vergleichen wäre.

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Wer den Boulevard Théodore Thurner hinaufläuft, bemerkt einen dunkelgrün gestrichenen Zeitungskiosk, wie es ihn an so vielen Ecken in Marseille gibt. Es läuft lauter HipHop, und beim genauen Hinsehen fällt auf, dass hier nicht wie erwartet aktuelle Ausgaben gängiger Zeitungen und Tabakprodukte verkauft werden. Stattdessen besteht das Angebot aus Graffiti-Art, Comics und gebrauchten Schallplatten. Mathieu Pinède, der Zeichner besagter Graffiti, betreibt das »Matoony’s House« und nimmt sich Zeit, mit Kunden zu sprechen und ihnen wertvolle Tipps zu der Comic-Szene in Marseille zu geben.

Zeitungskioske werden zu Schuhmacher-Shops, Handyreparaturgeschäften oder Fast-Food-Läden

Verkauft werden neben klassischen französischen Publikationen auch von einem lokal Verlag herausgebrachte Comics – der Verlag wird sofort vorgemerkt. Die Plattenkisten sehen auf den ersten Blick ziemlich schrummelig aus, doch sowohl An­dreas als auch ich finden hier jahrzehntealte Scheiben, die keiner von uns stehenlassen kann. Madness, Specials, Captain Sensible … Klassiker, die in keinem Berliner Plattenladen lange im Regal stehen würden, gehen hier für zwei Euro über den dunkelgrünen Tresen.

Mathieu erzählt, wie durch die schwindende Nachfrage nach Printmedien und Tabakprodukten viele der alten Zeitungskioske nicht mehr überleben können und daher alternativ bewirtschaftet werden. Zum Beispiel von Schuhmachern, als Handyreparaturgeschäft oder Fast-Food-Laden. Er entschied sich allerdings, Kunst in Form von Comics und Musik in diesem Rahmen an den interessierten Einheimischen wie Touristen zu bringen.

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Irgendwie scheint alles, was cool ist, beim Cours Julien zu liegen, um den herum sich das Marseiller Alternativviertel etabliert hat. Nicht weit von Philippe Strykers Plattenladen »Sabre-Tooth« kommen wir am Comicladen »Même Pas Mal« vorbei. Même Pas Mal ist vor allem ein Independent-Comicverlag, der internationale, französische und Zeichnerinnen und Zeichner aus Marseille verlegt. Als wir ankommen, sitzen die drei Betreiberinnen gerade gemütlich vor dem Laden an einem Tisch und frühstücken in der Sonne. Als ich nach Büchern der Marseiller Comic­zeichner Benoit Carbonnel und der Comiczeichnerin Tanx frage, werden wir gleich fachkundig bedient.

Kein Kiosk, sondern der Comic- und Plattenladen »Matoony’s House«

Kein Kiosk, sondern der Comic- und Plattenladen »Matoony’s House«

Bild:
Jungle World

Ursprünglich hatte Mathieu Pinède, der Betreiber von »Matoony’s House«, uns zu Même Pas Mal geschickt, als wir ihn nach frisch erschienenen Comics aus Indie-Verlagen gefragt hatten. Gleichzeitig war mir die Außenwerbung des Kiosks aufgefallen, weil sie so gut illustriert war. Signiert war sie von einem gewissen Loïs. Wer ist dieser Loïs? Noch nie von ihm gehört.

Olivier Gilles, der Besitzer von »Galette Records«, freut sich, als ich gleich mehrere der von Julien Loïs opulent illustrierten Alben auf den Tresen lege. »Das sind meine Freunde«, sagt er. 

Auf der Verlagsseite von Même Pas Mal stieß ich auf Loïs’ bisher einzigen, 2012 veröffentlichten Comic »(Pas de) panique à Sonic City«. Leider ist der Comic ausverkauft. Dann erfahre ich auch, dass Loïs der Zeichner des Marseiller HipHop-Labels Chinese Man Records ist. Also geht es von »Même Pas Mal« ein paar Meter weiter zu »Galette Records«, einem Fachgeschäft für Soul, Reggae und HipHop.

Besitzer Olivier Gilles freut sich, als ich gleich mehrere der von Julien Loïs opulent illustrierten Alben auf den Tresen lege. »Das sind meine Freunde«, sagt er. Und ich freue mich, die wahrscheinlich am besten illustrierten HipHop-Platten der Gegenwart zu erwerben. Der Kreis schließt sich. »Kommt am Freitag mal wieder vorbei, da ist hier vor dem Laden ein HipHop-Konzert«, verabschiedet uns Olivier. Wir versprechen es.