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Rund um Birmingham haben sich viele Hongkonger angesiedelt

Exil in den Midlands

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Seit der Einführung eines chinesischen Gesetzes in Hongkong 2020, das Kritik an der Volksrepublik unter Strafe stellt, sind Hundert­tausende Bürger der Sonderverwaltungszone nach Großbritannien ausgewandert. Viele haben sich in der Umgebung Birminghams niedergelassen.

Als Rory Chu 2021 mit seiner Familie aus Hongkong ins beschauliche Solihull bei Birmingham zog, hatte er vor allem an seine Kinder gedacht. »Was ist, wenn sie eines Tages aus der Schule kommen und behaupten, die jahrelangen Demokratieproteste seien von ­gewalttätigen Chaoten angezettelt worden?« fragt er sich. »Soll ich dann mit ihnen streiten und riskieren, dass sie von Lehrern oder Mitschülern denunziert werden, wenn sie mir glauben?« Die Angst vor staatlicher Indoktrination habe ihn und seine Familie schließlich zur Ausreise bewogen.

Die kleineren Städte der Midlands haben viele Hongkonger:innen angezogen. Solihulls Gemeinderat schätzt, dass allein hier, in einer Stadt mit gut 120.000 Einwohnern, bis zu 5.000 Neuankömmlinge leben – aufgrund der niedrigen Lebenshaltungskosten, Sicherheit, guten Schulen und bereits ­bestehenden Communitys. Kirchen und Behörden helfen beim Verbessern des Englisch oder der Wohnungssuche.

Solihulls Gemeinderat schätzt, dass allein hier, in einer Stadt mit gut 120.000 Einwohnern, bis zu 5.000 Neuankömmlinge leben – aufgrund der niedrigen Lebenshaltungskosten, Sicherheit, guten Schulen und bereits ­bestehenden Communitys.

Chu organisiert wöchentliche Treffen, die »852 Spaces Cafés«. Benannt nach der Telefonvorwahl Hongkongs bieten sie den Immigrant:innen einen Ort zum Austausch, um Freundschaften zu schließen und sich gegenseitig zu unterstützen. Vom Hundecafé »The Snooty Pooch« in Solihull ausgehend, gab es ähnliche Treffpunkte bald in Pubs in Birmingham und anderen britischen Städten.

Auch die ehemalige Investmentbankerin Eunice Wun ließ sich in der Gegend nieder. Sie eröffnete im Birminghamer Vorort Acocks Green das Restaurant »Café by Hongkongers« und betreibt einen Youtube-Kanal, in dem sie über das Leben in Großbritannien berichtet. »Fast alles hier ist anders als in Hongkong«, sagt sie. Dass sie wegen ihres öffentlichen Auftretens wohl nicht mehr nach Hongkong reisen kann, nimmt sie in Kauf.

Rory Chu vor einem Pub

Zog 2021 mit seiner Familie aus Hongkong ins beschauliche Solihull bei Birmingham: Rory Chu 

Bild:
Margit Hildebrand

1997 hatte Großbritannien die damalige Kolonie an China zurückgegeben. Der Vertrag versprach nach dem Prinzip »Ein Land, zwei Systeme« für mindestens 50 Jahre ein hohes Maß an Autonomie und demokratischen Rechten. Doch bald wurde klar, dass China die zugesagten Freiheiten aushöhlen würde. »Die meisten von uns haben etwas, das wir nicht vergessen können, das wir auch nicht vergessen sollten. Es ist ein Trauma«, sagt Chu.

Hunderttausende demonstrierten 2019 gegen ein Auslieferungsgesetz und den wachsenden Einfluss Chinas. Dessen Antwort folgte 2020 mit dem Nationalen Sicherheitsgesetz (NSL). Es stellt Sezession, Subversion oder »Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften« unter Strafe, Hongkonger können dafür nach China vor Gericht und ins Gefängnis gebracht werden. Mehr als 300 Menschen sind seitdem festgenommen worden.

Im März 2024 erließ die Regierung die »Verordnung zum Schutz der nationalen Sicherheit«, Tatbestände wie Hochverrat, Aufruhr oder Sabotage kamen hinzu. Zivilgesellschaftliche Organisationen, demokratische Parteien und kritische Medien haben sich aufgelöst. Im Juni stellte die League of Social Democrats ihre Arbeit ein, die letzte oppositionelle Partei, die noch gelegentlich auf der Straße protestiert hatte.

Das prominenteste Opfer der Repression ist Jimmy Lai. Der 77jährige Gründer der 2021 eingestellten Zeitung Apple Daily und britische Staatsbürger sitzt seit fast vier Jahren in Einzelhaft. Ihm droht lebenslange Haft wegen angeblicher Aufwiegelung und Kollaboration. Sein Prozess dauerte mehr als 160 Tage, ein Urteil wird in Kürze erwartet. Die britische Regierung, US-Präsident Donald Trump sowie Parlamentarier aus aller Welt haben jüngst seine Freilassung gefordert.

Spezielles Visaprogramm

Während Aktivist:innen in Hongkong drangsaliert werden, hat Großbritannien vielen eine neue Perspektive eröffnet. 2021 hat die damalige konservative Regierung unter Premiermi­nister Boris Johnson als Reaktion auf das NSL ein spezielles Visaprogramm für Inhaber:innen des Status British National Overseas (BNO) eingeführt; als BNO gelten Hongkonger ohne andere Staatsangehörigkeit. Das Programm ermöglicht fünf Jahre Aufenthalt in Großbritannien samt Arbeits- und Studienerlaubnis, anschließend eine dauerhafte Niederlassung und nach weiteren zwölf Monaten die Einbürgerung. Über 160.000 Menschen haben davon bereits Gebrauch gemacht.

Allerdings ist der Neustart im Vereinigten Königreich nicht frei von Hürden. Viele Zuwanderer verfügen über hohe Qualifikationen, finden aber kaum entsprechende Arbeitsplätze. Hongkonger müssen wie Ausländer Studiengebühren und hohe Krankenkassenbeiträge entrichten. Rund 40.000 Euro habe er gezahlt, damit seine Familie in Solihull leben und studieren kann, berichtet Chu. Außerdem seien viele Vermieter und Arbeitgeber anfangs skeptisch gewesen. »Aber inzwischen hat sich herumgesprochen, dass wir nicht nach einem halben Jahr wieder weggehen, sondern gekommen sind, um hier zu leben.«

Einige, die in Großbritannien Zuflucht gefunden haben, leben weiter in Angst vor chinesischen Schikanen. ­Bekannte Dissidenten haben über Drohungen und Übergriffe nach ihrer Übersiedlung berichtet.

Einige, die in Großbritannien Zuflucht gefunden haben, leben weiter in Angst vor chinesischen Schikanen. ­Bekannte Dissidenten wie Nathan Law, Finn Lau oder Tony Chung, der im ­August Asyl erhalten hat, haben über Drohungen und Übergriffe nach ihrer Übersiedlung berichtet.

Auch der Plan Chinas, ein ­historisches Gebäude in London in die größte Botschaft Europas umzuwandeln, sorgt seit Wochen für Proteste. Umstritten ist an dem Bauantrag unter anderem, dass Teile des Gebäudeplans ausgegraut wurden, wodurch die geplante Nutzung der Räume unbekannt bleibt. Dissidenten befürchten, dass sie zur Vernehmung von Gegnern des chinesischen Regimes genutzt werden könnten.

Im Mai legte die britische Regierung ein Strategiepapier vor, dem zufolge die Zeit zwischen der Ansiedelung und der frühestmöglichen Erlangung der Staatsbürgerschaft von sechs auf elf Jahre verlängert werden soll. Ob die Änderungen auch für Inhaber von BNO-Visa gelten würden, ist unklar. Gleichzeitig liegt die migrationsfeindliche Partei Reform UK in Umfragen vorn. Das besorgt die Hongkong­er:innen. »Ich bin hergekommen, weil ich der chinesischen Regierung nicht vertrauen kann«, sagt Eunice Wun. »Und jetzt will uns die britische Regierung im Stich lassen«, fürchtet sie.