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Ein Dokumentarfilm deckt systemische Gewalt im Kindersport auf
Tägliche Tränen, Schmerzen ohne Ende
Gewalt ist im Leistungssport, aber auch im Breitensport ein unterschätztes Problem. Die bestehenden Schutzkonzepte und Reformprogramme greifen zu kurz.
Es ist schwer, die Bilder zu vergessen. Zum Beispiel die der jungen französischen Kunstturnerin Coline Weber, die jeden Abend verzweifelte Hilferufe aus dem Leistungszentrum an ihre Mutter schickt, zusammen mit Fotos ihrer blutigen, mit Blasen übersäten Hände.
Als Pierre-Emmanuel Luneau-Daurignac den Arte-Dokumentarfilm »Kinder im Spitzensport« (2024) dreht, ist sie 17 Jahre alt und hat gerade mit anderen Betroffenen erfolgreich gegen ihren damaligen Trainer geklagt. »Man durfte nicht sagen, wenn was wehtut«, schildert sie im Rückblick. Als sie vor Schmerzen kaum noch habe laufen können, habe er gesagt: »Das ist normal, stell dich nicht so an.« Mit 14 Jahren wog sie 34 Kilo. Gedemütigt habe er sie vor den anderen, und als irgendwann die Mutter einschritt, habe er versucht, das zu verhindern: »Das ist was zwischen Turnerin und Trainer, die Eltern haben damit nichts zu tun.«
Mininder S. Kocher vom Boston Children’s Hospital zufolge erleiden immer jüngere Patienten und Patientinnen immer schwerer wiegende Verletzungen. Zwischen 2004 und 2014 habe man zudem eine Verfünffachung der Kreuzbandrisse bei Kindern festgestellt.
Das Zentrum verlassen muss dann Coline, nicht der Coach. Nun haben die Jugendliche und ihre Mitstreiterinnen einen juristischen Sieg erlangt. Nach einem langen Gerichtsverfahren wurde der Trainer wegen Mobbings mehrerer Turnerinnen zu sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Doch die Jahre im Leistungssport hat Coline teuer bezahlt: Vor der Kamera sieht man sie weinen, sie leidet unter einer Wachstumsstörung, einer Essstörung, Knieproblemen, PTSD. Ähnliche quälende Bilder, ähnliche Mechanismen zeigt diese herausragende Dokumentation aus anderen Ländern und von anderen Sportarten.
Von der deutschen Eiskunstläuferin Jacqueline beispielsweise, gerade mal elf Jahre alt, die wegen Druck und Gewalt ihrer Trainerin mit Burn-out und unerträglichen Kopfschmerzen zusammenbricht. Dort die Beschwerde der Familie bleibt erfolglos, und auch dort zitiert Jacqueline abgeklärt: »Die erste Regel war: Was auf dem Eis war, bleibt auf dem Eis.« Warum sie trotz täglicher Tränen nicht früher etwas sagte? »Ich wollte meine Mama nicht enttäuschen.«
Oder die kanadische ehemalige Top-Synchronschwimmerin Gabrielle Boisvert, die nach 50 Trainingsstunden pro Woche und sechs Gehirnerschütterungen zurücktrat, als der Trainer nach einer weiteren Commotio cerebi von ihr verlangte, am nächsten Tag zu trainieren. Heutzutage leidet sie unter chronischer Migräne, verminderter Sehkraft, Gelenkschmerzen.
Sich gegen physische und psychische Gewalt wehren
Zusammen mit vier Teamkolleginnen reichte sie eine Sammelklage ein, die Tausende von Athleten und Athletinnen aus über 20 Sportarten ermutigte, ebenfalls ihre Stimme zu erheben. »Unter Sportlern spricht man über Medaillen, nie über das, was dahintersteht«, sagt sie heute. Um das, was dahintersteht, geht es in Luneau-Daurignacs Film, der pünktlich zu den Olympischen Spielen von Paris erschien; was er schildert, ist nicht neu.
In den vergangenen Jahren haben Betroffene aus unzähligen Sportarten begonnen, sich gegen physische und psychische Gewalt im Leistungssport öffentlich zu wehren. Sportler und Sportlerinnen gründen Selbstvertretungen, etwa Gymnasts for Change in Großbritannien, Athleten Deutschland e. V. oder die internationale Bewegung Global Athlete, um gegen die mächtigen Verbände für ihre Rechte zu kämpfen. Es ist eine echte Revolution, die da stattfindet – eine der wichtigsten positiven Veränderungen im Leistungssport. Und auch in der Öffentlichkeit ist ein Bewusstsein dafür entstanden, was hinter den verschlossenen Türen vieler Sporthallen passiert.
Zahlreiche Mechanismen – die kaum anfechtbare Autorität der Trainerinnen und Trainer, die grenzenlose Zurichtung junger Körper, die Wagenburgmentalität bei Anschuldigungen und die Zerrissenheit der Kinder und Jugendlichen selbst, die emotional vom Sport abhängig sind und ihre Eltern nicht enttäuschen wollen – sind oft benannt worden. Nein, neu ist das nicht. Und dennoch äußerst sehenswert.
Verlust von Autonomie
Erstens ist da die emotionale Wucht. »Kinder im Spitzensport« gibt vor allem Aktiven eine Stimme und zeigt politische Erfolge, die Hoffnung machen. Da tut sich wirklich was. In den vergangenen Jahren gab es öffentlich durchaus die Tendenz, das Gewaltproblem auf einzelne heftige Disziplinen wie den Turnsport zu reduzieren. Eben dort, wo die Sportler und Sportlerinnen besonders jung, besonders gedrillt und besonders schmerzgequält sind.
Doch der Regisseur Luneau-Daurignac erinnert mit eingespielten Stimmen wie der des ehemaligen Schwimmers Michael Phelps oder des ehemaligen Fußballers Thierry Henry daran, dass Gewalt im Leistungssport systemisch ist. »Ich habe mich lange Zeit nicht als Mensch begriffen, sondern als Sportler«, sagt Phelps, der unter Depressionen litt. Der ebenfalls an diesen erkrankte Henry erzählt, er habe den Traum seines Vaters erfüllen müssen: »Ich war auf Erfolg programmiert. Nichts anderes war wichtig. Es war absolut nicht meine Wahl.« Und Gabrielle Boisvert sagt: »Ich habe mich gefühlt wie eine Maschine, ein Produkt. Man gibt alles und am Ende ist nichts.«
Der Film eröffnet dadurch, und das ist die zweite große Stärke, einen zu wenig beachtetes Problem, das dem Leistungssport immanent ist: den Verlust von Autonomie. Geduldig seziert er die vielen Schichten von Gewalt, ohne sich jedoch zu verzetteln. Denn meist wird derzeit über Einzellösungen diskutiert.
Ist das genug?
Natürlich sind solche Lösungen wichtig. In Deutschland entstand 2022 das Zentrum für Safe Sport, eine vom Innenministerium geförderte unabhängige Anlaufstelle für jene, die Gewalt im Breiten- oder Leistungssport erfahren haben. Auch Athleten Deutschland bietet seit 2022 mit »Anlauf gegen Gewalt« eine unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt im Leistungssport, die seit ihrem Bestehen über 280 Hilfegesuche dokumentiert hat und eine hohe Zahl Betroffener auch unter Bundeskader-Athletinnen und -Athleten feststellt.
Bis 2029 muss jeder deutsche Sportverein ein Kinderschutzkonzept vorweisen, um weiter Fördermittel zu erhalten. In einer australischen Studie von 2022 über den Breitensport berichteten schwindelerregende 82 Prozent der Befragten, mindestens einmal Gewalt erfahren zu haben. Italien hat in diesem Jahr die App »Change the Game« entwickelt, um Kinder für Gewalt im Sport zu sensibilisieren.
Doch die Frage ist: Ist das genug? Reicht es aus, die sinnbildliche »gläserne Sporthalle« zu schaffen, in der sensibilisierte Kinder ihre Grenzen erkennen und Vorkommnisse melden können? Luneau-Daurignac lässt da erhebliche Zweifel erkennen.
Geld, Druck, Verletzungen
Parallel zu den persönlichen Geschichten zeichnet er die Geschichte des Leistungssports nach: Zunächst waren es die Ostblockstaaten, die im Zeichen des Kalten Kriegs begannen, systematisch Talente zu suchen, und immer jüngere Kinder für den Leistungssport vereinnahmten. Die westlichen Staaten, die über den verantwortungslosen Ostblock schimpften, kopierten zugleich dieses System – und radikalisierten es weiter. Die Folge: Kinder steigen immer früher in intensives Training ein. Das ergibt im nationalistisch-kapitalistischen Leistungssport Sinn, denn es sorgt für einen Trainingsvorsprung.
Nie gab es so viel Geld auf dem Sportmarkt, so frühe Spezialisierung, so viel Druck, so schwere und frühe Verletzungen wie heutzutage. Mehrere Ärzte kommen zu Wort, die von einer regelrechten Epidemie an Verletzungen von Kindern im Sport weltweit sprechen. Mininder S. Kocher vom Boston Children’s Hospital berichtet, man erlebe bei immer jüngeren Patienten und Patientinnen immer schwerer wiegende Verletzungen. Zwischen 2004 und 2014 habe man eine Verfünffachung der Kreuzbandrisse bei Kindern festgestellt. Längst seien Hochleistungstraining und Druck auch auf den Breitensport übergeschwappt. Und die frühe Spezialisierung führe zu einer Überbelastung der wachsenden Körper.
Wer »Kinder im Spitzensport« anschaut, dem wird schnell klar: Ansprechstellen werden dieses Problem nicht lösen. Sie können bestimmte gesellschaftlich verpönte Formen von Gewalt eindämmen, zum Beispiel sexualisierte und emotionale Gewalt. Aber der dem Leistungssport inhärenten Gewalt können sie wenig anhaben. Der Weltsport hat mittlerweile ein Marktvolumen von einer Billion US-Dollar. Niemand auf diesem Markt hat ein Interesse an sinkender sportlicher Leistung. Mit gesundem und selbstbestimmtem Training zwei Mal die Woche wird man nicht Weltmeisterin. Und die immer größere Konkurrenz, die immer höhere Investition im Sport erzeugen immer höheren Druck.
Der Weltsport hat mittlerweile ein Marktvolumen von einer Billion US-Dollar. Niemand auf diesem Markt hat ein Interesse an sinkender sportlicher Leistung.
Wie sähe ein besserer Sport aus, der Kinder nicht ständiger Gewalt aussetzt? Das ist die einzige Frage, bei der es sich »Kinder im Spitzensport« ein wenig zu leicht macht. Es fallen die üblichen Vorschläge: Mehr Kontrollen, mehr Dialog mit den Kindern, ein höheres Mindestalter bei einzelnen Disziplinen bei Olympia.
Das geschieht schon: Beim Skateboard, wo zuletzt eine Elfjährige antrat, soll ab 2028 ein Mindestalter von 14 Jahren gelten. Das Internationale Olympische Komitee hob das Mindestalter im Eiskunstlauf nach dem Fall Walijewa auf 17 Jahre an. Es sind sinnvolle Initiativen. Doch wie viel ändern sie daran, dass schon Zehnjährige wie Profis trainieren müssen?
Als einziges Beispiel, wie es besser geht, präsentiert Luneau-Daurignac eine junge norwegische Biathletin mit 20-Stunden-Woche und verständnisvollem Trainer. Da der Biathlon eine Sportart ist, in der die Athleten und Athletinnen ihren Leistungshöhepunkt ohnehin relativ spät erreichen, erscheint das ein wenig billig. Und es zeigt: An systemische Lösungen traut man sich nicht recht ran. Dafür steckt zu viel Geld in den jungen Körpern.
Der Dokumentarfilm »Kinder im Spitzensport. Siegen um jeden Preis« (F 2024) kann bis zum 24. Januar 2026 in der Mediathek von Arte gestreamt werden.
