Die Heimat fühlen

Japanische Rechte wollen ein neues Bildungsideal etablieren, das ein altes ist. von hans martin krämer

Die wachsende Jugendkriminalität, Gewaltverbrechen, die von immer Jüngeren begangen werden, der Zusammenbruch des Unterrichts schon in den unteren Klassen der Grundschulen, der Niedergang der Leistung in den Schulen, die Zunahme der Zahl junger Menschen, die nicht arbeiten – die Bevölkerung richtet ihre größte Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Verfall des Erziehungswesens.« Wenn konservative PolitikerInnen wie hier die japanische Oberhausabgeordnete Takaichi Sanae von der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP) solcherart dramatisch den Niedergang der Gesellschaft beklagen, dann ist die Absicht, Gesetze zu verschärfen, meist nicht fern.

Tatsächlich entstammt das Zitat einer Beschlussvorlage zur Revision des Erziehungsgrundgesetzes, die Takaichi im vorigen Oktober gemeinsam mit einer Reihe führender PolitikerInnen der LDP veröffentlichte. Das Erziehungsgrundgesetz trat 1947, ein Jahr nach der Verfassung, in Kraft und ist neben ihr das einzige japanische Gesetz mit einer Präambel.

Dass nicht nur die US-Besatzungsmacht, sondern auch die politische Klasse Japans 1947 ein mit der besonderen Weihe eines Vorwortes versehenes Gesetz ausgerechnet im Bildungsbereich für nötig hielt, hat seinen eigenen historischen Hintergrund. Bis 1945 bestimmte das Kaiserliche Erziehungsedikt von 1890, was Bildung in Japan bedeuten sollte. Dieses Edikt nannte in konfuzianischer Tradition als höchstes Ziel aller Bildung und Erziehung in Japan die Erfüllung von Pflichten und eine angemessene Untertänigkeit gegenüber dem väterlichen Tenno. Kopien des Dokumentes mussten in allen Schulgebäuden aufbewahrt werden, der Text wurde an Nationalfeiertagen in den Schulen verlesen.

Die Abschaffung des Erziehungsediktes allein schien im Rahmen des Reeducation-Programms von 1947 nicht zu genügen, ein ähnlich symbolträchtiger Ersatz musste her. So heißt es denn auch weit ausholend in Artikel 1 des Erziehungsgrundgesetzes: »Die Erziehung (…) muss der Absicht dienen, einen Staatsbürger zu erziehen, der als Gestalter eines friedlichen Staats und einer friedlichen Gesellschaft die Wahrheit und die Gerechtigkeit liebt, die Würde des Individuums achtet und Achtung vor der Arbeit und einen tiefen Sinn für Verantwortung besitzt.«

Die einseitige Betonung der Friedensliebe, das Fehlen der Nation als Bezugspunkt und die Definition der Hauptaufgabe staatlich finanzierter Bildung als Erziehung von mündigen und verantwortlichen Bürgern stieß Konservativen schon bald sauer auf.

Die Friedenspassagen im Erziehungsgrundgesetz sind ein Echo jenes berühmten Artikels 9 der japanischen Verfassung, in dem Japan darauf verzichtet, Kriege zu führen und eine Streitkraft zu unterhalten. Wenn Takaichi und ihre Verbündeten eine Änderung des Erziehungsgrundgesetzes anstreben, so die Befürchtung vieler japanischer Linker, dann haben sie als Fernziel die Revision der Verfassung im Sinn. Gegen eine Änderung des Artikels 9 spricht sich in Umfragen zwar eine beständige Bevölkerungsmehrheit aus. Das Erziehungsgrundgesetz, so die Überlegung der Rechten, dürfte aber eher zu revidieren sein; die Änderung der Verfassung könnte dann in einem geänderten Diskussionsklima auch leichter fallen.

Unter der Regierung Koizumi sind diese Bemühungen in die heiße Phase getreten. Der dem Bildungsministerium als Beratungsgremium zugeordnete und mit Beratungen über das Gesetz betraute Zentrale Erziehungsrat empfahl in seinem Zwischenbericht im November des letzten Jahres, die Formulierungen in Artikel 1 zu ergänzen. Als Ideal solle nunmehr auch die »Identität als Japaner (Achtung von Tradition und Kultur und Liebe zur Heimat und zum Land)« explizit genannt werden. Dieser Versuch, Patriotismus gesetzlich als Ziel von Bildung zu verankern, wurde in den Medien recht kritisch aufgenommen.

Auch die LehrerInnengewerkschaften verschafften ihrer Ablehnung der Änderungspläne noch erfolgreich Gehör. So kritisierten 7 000 TeilnehmerInnen einer Protestversammlung der größten LehrerInnengewerkschaft am 14. Januar in einem Appell den »Versuch, Bildung nach den Prinzipien eines engstirnigen Nationalismus, der Eliteförderung und des Rechts des Stärkeren zu gestalten«.

Seit dem Beginn dieses Jahres ist die Sorge derjenigen, die das Gesetz in seiner ursprünglichen Form bewahrt wissen wollen, noch akuter. Eine Umgruppierung im Lager der konservativen Parteien sorgte für eine Belebung der Debatte um die Revision der Verfassung und des Erziehungsgrundgesetzes.

Bereits im November des vergangenen Jahres hatte es parteiinterne Unruhen bei den Wahlen zum neuen Parteivorsitz der größten Oppositionspartei, der Demokratischen Partei Japans, gegeben. Hatoyama Yukio, der Führer des rechten Flügels der Partei, die selbst eine erst fünf Jahre alte Neugründung von abtrünnigen Abgeordneten der mittlerweile aufgelösten Sozialistischen Partei und der LDP ist, war zunächst als Vorsitzender bestätigt worden. Doch die Kritik an seiner Amtsführung nahm auch Wochen nach der Wahl noch nicht ab, sodass er entnervt aufgab.

Sein Nachfolger wurde die Galionsfigur der Parteilinken, Kan Naoto. Das wiederum nahmen Ende Dezember einzelne Mitglieder des rechten Flügels, darunter der stellvertretende Vorsitzende Kumagai Hiroshi, zum Anlass, die Partei zu verlassen und zusammen mit der an der Regierungskoalition beteiligten Konservativen Partei eine neue Partei zu gründen, die Neue Konservative Partei Japans.

Noch vor diesem Zusammenschluss hatten jedoch führende Mitglieder der alten Konservativen Partei, u.a. deren Vorsitzender Noda Tsuyoshi, ihre Partei verlassen, um der LDP beizutreten.

Während das Hin und Her der einzelnen Abgeordneten wohl vor allem der Absicht entsprach, durch neue Allianzen die Chancen auf eine Wiederwahl beim nächsten Parlamentsvotum zu erhöhen, hat es doch auch Folgen für die Debatte um die Verfassungsrevision. Zum einen wurde das konservative Lager insgesamt gestärkt, zum anderen gibt es mit der Neuen Konservativen Partei Japans erstmals eine an der Regierung beteiligte Partei, die die »Revision der Verfassung und des Erziehungsgrundgesetzes« explizit zu ihren Zielen zählt.

Dass Änderungen der Formulierungen zu Beginn des Gesetzestextes auch Anlass zu tatsächlichen Änderungen der Schul- und Unterrichtspraxis sein könnten, zeigt der Fall der Millionenstadt Fukuoka. Dort wurde an der Hälfte der Grundschulen eine neue Bewertungskategorie in den Zeugnissen für die sechste Klasse eingeführt. In drei Stufen müssen LehrerInnen dort nun »die patriotischen Gefühle und das Bewusstsein, JapanerIn zu sein« beurteilen.