01.06.2017
Inland Die Bundesregierung tut wenig, um den inhaftierten Deniz Yücel freizubekommen

Eskalation von ganz oben

Seit über 100 Tagen sitzt Deniz Yücel in der Türkei im Gefängnis. Die Bundesregierung belässt es in der Sache des inhaftierten Journalisten bei mahnenden Worten, wie auch beim neuesten Affront der türkischen Regierung.

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Claudia Roth (Die Grünen) zeigt auf Auslandsreisen üblicherweise großen Respekt für die örtlichen Gepflogenheiten und die Wünsche der Gastgeber. Setzte sie im Iran bisher stets ohne Murren ein Kopftuch auf, so zeigte sie in der vergangenen Woche angesichts des Gebarens der türkischen Regierung keine Rücksicht mehr. Die Bundestagsvizepräsidentin sagte die Reise einer Bundestagsdelegation in die Türkei ab, zu der neben ihr der SPD-Außenpoli­tiker Niels Annen, der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses, Matthias Zimmer (CDU), und die Grünen-Abgeordnete Luise Amtsberg gehören sollten. Die türkische Seite habe weder ­offizielle Gespräche in Aussicht gestellt noch einen Besuch im türkischen Par­lament vorgesehen. Zudem habe sie keine Sicherheitsbegleitung für die deutschen Gäste zur Verfügung stellen wollen, so die Begründung Roths für die Absage. Die Bedingungen für den Besuch in der Türkei seien »von höchster Stelle« angeordnet worden, für die deutsche Delegation allerdings unannehmbar gewesen. Es handele sich um eine »neue Eskalationsstufe«, so Roth.

Es scheint, als wolle die Bundesregierung in Ermangelung einer Strategie den Konflikt aussitzen. Für Yücel und Çorlu bedeutet das die Zermürbung in der Haft.

Der erste Affront, den sich die türkische gegenüber der deutschen Regierung leistet, ist es allerdings nicht. Seit dem vergangenen Sommer hat sich das Verhältnis zwischen der Bundesrepublik und der Türkei drastisch verschlechtert. Im Juni 2016 bezeichnete der Bundestag die Verbrechen des ­Osmanischen Reichs an den Armeniern im Ersten Weltkrieg als Völkermord, was zu wütenden Reaktionen der Türkei führte. Die Einschränkung von Bürgerrechten und die immer deutlicher zu­tage tretenden diktatorischen Züge der türkischen Regierung verschärften die Spannungen zwischen den beiden Staaten. Als wenige Wochen nach dem gescheiterten Militärputsch vom Juli 2016 etwa 30 000 Türken in Köln ihren Führer Erdoğan bejubelten und lauthals die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei forderten, waren deutsche Politiker und Medien schockiert. Bundestagsabgeordneten wurde der Besuch von Bundeswehrsoldaten untersagt, die auf der türkischen Luftwaffenbasis İncirlik stationiert waren. Das zeigt, wie schlecht es bereits im Sommer 2016 um die deutsch-türkischen Beziehungen bestellt war. Die Türkei untersagt Bundestagsabgeordneten weiterhin den Besuch von Bundeswehrsoldaten in İncirlik.

Mittlerweile ist die Stimmung zwischen beiden Ländern regelrecht vergiftet. Im türkischen Referendumswahlkampf überschüttete die türkische Regierung die Bundesrepublik mit ­Nazivorwürfen und hetzte Deutschtürken auf. Deniz Yücel, Türkei-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt und Mitherausgeber der Jungle World, sitzt seit über 100 Tagen in der Türkei in Haft. Lange erlaubten die Behörden nicht einmal dem deutschen Konsulat, ihn zu betreuen, weil sie Yücel, der ­sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, als Türken ansah, um den sich die deutschen Behörden nicht zu kümmern hätten. Seit Ende April sitzt auch die Übersetzerin und Journalistin Meşale Tolu Çorlu in der Türkei im Gefängnis. Ihr wird vorgeworfen, »Terrorpropaganda« betrieben zu haben. Dass sie deutsche Staatsbürgerin ist, hat die türkischen Behörden nicht dazu veranlasst, diesen Fall diplomatischer zu handhaben.

Die Bundesregierung verhält sich trotz all dieser Vorgänge passiv, mehr als mahnende Worte sind nicht zu hören. So sprach Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) im Zusammenhang mit der abgesagten Reise der deutschen Delegation von einem »Einreiseverbot für die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags«. Martin Schäfer, der Sprecher des Auswärtigen Amts, kommentierte den Vorfall mit den Worten: »Wir bedauern es nicht nur, sondern beklagen es.« Sollte die Bundesregierung tatsächlich Druck auf die Türkei ausüben, geschieht dies sehr diskret und zeigt bisher keinerlei Wirkung. Yücel ist immer noch in Haft, zahlreichen Bundesbürgern wird die Einreise verweigert, die türkische Regierung greift weiterhin zu Beschimpfungen, wenn auch seit dem Ende des Referendumswahlkampfs nicht mehr so häufig und heftig.

Die Bundesregierung fordert weiterhin einen fairen Prozess für Yücel. Doch damit setzt sie sich zum einen lediglich für eine Selbstverständlichkeit ein, da sich die Türkei in zahlreichen Verträgen und Abkommen mit der Europäischen Union zur Rechtsstaatlichkeit verpflichtet hat. Zum anderen sollte auch der Bundesregierung bekannt sein, dass die Türkei nach europäischen Maßstäben nie ein Rechtsstaat war – und sich seit dem Putschversuch und den Säuberungen in Justiz und Polizei von diesem Anspruch noch weiter entfernt hat. Es scheint, als habe die Bundesregierung nicht einmal annähernd eine Vorstellung davon, wie mit einem Land umzugehen ist, das alle diplomatischen Gepflogenheiten ignoriert, deutsche Staatsbürger als Geiseln nimmt und keine Gelegenheit auslässt, die Bundesrepublik zu beleidigen und die hier lebenden Türken aufzuhetzen.
In einem in der Taz veröffentlichten offenen Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) schrieb Doris Akrap, ebenfalls Mitherausgeberin der Jungle World und eine enge Freundin Yücels, in der vergangenen Woche: »Aber jetzt interessiert mich natürlich brennend, wie Ihre 100-Tage-Bilanz aussieht. Sie haben immer wieder gesagt, dass Sie alles tun, was in Ihrer Macht steht, damit Deniz freikommt. Können Sie uns verraten, was Sie bisher unternommen haben? Ich, wir alle fangen nämlich an zu zweifeln, ob wirklich schon alle politischen Mittel ausgeschöpft sind.«

Diese Aussage ist eine höfliche Untertreibung. Der Bundesregierung stünden erheblich stärkere Mittel zur Verfügung als mahnende Worte und Diplomatie im Hintergrund. Die Türkei ist auf finanzielle Unterstützung Deutschlands und der Europäischen Union angewiesen. Das Land steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die Arbeitslosenquote steigt, die Zahl der Touristen ist stark rückläufig und Kredite sind für die Türkei teurer geworden, seit Rating-Agenturen die Kreditwürdigkeit des Landes auf Ramschniveau herabgestuft haben. Nicht eines der finanziellen Druckmittel, die der Bundesregierung zur Verfügung stehen, wurde bisher genutzt, auch wenn beispielsweise Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) und der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU) Überlegungen äußerten, Finanzhilfen zu verweigern. Gerade einmal die Verlegung der Bundeswehr von İncirlik nach Jordanien scheint die regierung in Erwägung zu ziehen. Linkspartei und Grüne, die beiden Oppositionsfraktionen im Bundestag, haben beantragt, die Bundeswehr aus der Türkei abzuziehen. Eine Entscheidung des Verteidigungsausschusses steht noch aus. Die Verlegung nach Jordanien könnte auch den Abzug der im türkischen ­Konya stationierten Awacs-Aufklärungsflugzeuge zur Folge haben. Allerdings gestattet die türkische Regierung Bundestagsabgeordneten seit vergangener Woche wieder, deutsche Soldaten in Konya zu besuchen.

Es scheint, als wolle die Bundesregierung in Ermangelung einer Strategie den Konflikt aussitzen. Für Yücel und Çorlu bedeutet das die Zermürbung in der Haft. Zwar bietet der Bundestagswahlkampf derzeit die Möglichkeit, Gabriel und Merkel öffentlich unter Druck zu setzen und die öffentliche Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Sind die Wahlen gelaufen und hat sich eine neue Bundesregierung gebildet, besteht die Gefahr, dass Yücel und Çorlu allmählich aus den Schlagzeilen in Deutschland verdrängt werden – und mit ihnen alle anderen politischen Häftlinge in der Türkei. Die Zeit läuft also ab.

27.04.2017
Homestory

Homestory #17

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»Mensch, der war doch sonst nicht so leutselig«, wundert man sich. Aufgeschlossen, in sich ruhend – ja, er sei neuerdings sogar zu Kompromissen bereit, munkelt man. Die berüchtigte kurze Lunte, die pochenden Schläfen, all das sei Schnee von gestern. Da geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu! Also: »Wer zur Hölle sind Sie und was haben Sie mit unserem alten Kollegen gemacht?«

Eine Auszeit kann Wunder bewirken. Man reist (am besten nach Nepal oder Indien), speist (möglichst gesund) und sieht den Nervenenden dabei zu, wie sie sich erholen (allmählich). Nerven wachsen in der gleichen Geschwindigkeit wie Bärte. Zumindest in der richtigen Höhen- und Gemütslage, wo alles plötzlich Sinn ergibt und auf wundersame Weise miteinander zusammenhängt. Erst kurz vor dem Abstieg, dem Rücksturz in den Alltag, stellt sich die entscheidende Frage: Werden mit den Barthaaren auch die Nervenenden gekappt?

Ja, das werden sie. Die Gelassenheit des frisch rasierten Kollegen hielt nur wenige Tage an. Zwei Wochen und etliche Liter dieser schwarzen Säure, die wir hier Kaffee nennen, später, ist er wieder fast der Alte. Duldsamkeit und Gemütsruhe sind der alten Schärfe und dem Sarkasmus gewichen. Ein Glück! Denn anders hätte man ihn kaum gebrauchen können. Nicht in diesem Job. Nicht, wenn man ihn ernst nimmt.
Woanders wird man für diese Arbeit weggesperrt. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden weit über 100 Journalisten in der Türkei verhaftet. Deniz Yücel, Mitherausgeber der Jungle World, ist einer von ihnen. Am 27. Februar hat ein Richter Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet – wegen Aufwiegelung der Bevölkerung und Terrorpropaganda. Deniz ist in Einzelhaft, isoliert, die Zelle misst etwa sechs Quadratmeter.

Am 3. Mai, dem internationalen Tag der Pressefreiheit, wird es deshalb eine Kundgebung auf dem Pariser Platz in Berlin geben. Die Antilopen Gang, The Notwist, Die Sterne, Sultan Tunc, Christiane Rösinger, Andreas Dorau und viele andere mehr werden auftreten; Ilkay Yücel wird darüber sprechen, wie es ihrem Bruder im Gefängnis geht; unter anderem Oliver Welke und Udo Lindenberg werden Grußbotschaften über eine Videoleinwand senden. »#FreeDeniz. Meinungsfreiheit – ein Menschenrecht« ist eine Initiative von Amnesty International, Reporter ohne Grenzen und #FreeDeniz. Mitorganisiert wird die Kundgebung von seinen (ehemaligen) Arbeitgebern Welt, Taz und Jungle World.

Hier geht es zum Facebook-Event  »Auf die Presse! - Konzert mit Message«

13.04.2017
Thema Die Pressefreiheit in der Türkei geht uns alle an

Das Faustpfand

Die in der Türkei und anderswo inhaftierten Kolleginnen und Kollegen sitzen stellvertretend für alle Journalisten ein. Die Pressefreiheit ist kein nationales Gut, sie muss daher auch über alle Grenzen hinweg verteidigt werden.

Kommentar von Silke Burmester
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Vergangene Woche wurde bekannt, dass Deniz Yücel mit einem Sonderpreis des Theodor-Wolff-Preises ausgezeichnet wird. Theodor Wolff war Chefredakteur des Berliner Tageblatts, bis er – als Jude – 1933 von den Nazis vertrieben wurde. Der Preis gilt als bedeutendster der Zeitungsbranche. Wenn er am 21. Juni in Berlin zum Überreichen bereitsteht, wird der Ausgezeichnete rund 2 200 Kilometer entfernt in der Zelle eines Istanbuler Hochsicherheitsgefängnisses sitzen, höchstwahrscheinlich in Einzelhaft, seit Wochen isoliert von den Mitgefangenen, ohne die Möglichkeit, Post zu verschicken und die an ihn adressierte zu lesen. Einen winzigen Hof hat er vor der sechs Quadratmeter großen Zelle, ein Austritt, um durch den engmaschigen Draht etwas Himmel zu erspähen, und, immerhin, rauchen darf er.

Deniz Yücel, türkischer und deutscher Staatsbürger, sitzt ein, weil er als Journalist seine Arbeit machte, weil er Fragen stellte und Sachverhalte aufschrieb, wie es in jedem Land möglich sein sollte, das die Freiheit der Presse als eine Grundlage seiner Demokratie begreift. Weil Recep Tayyip Erdoğan jedoch seinen Allmachtsanspruch und das »Klappehalten« der Türken durch so eine Bericht­erstattung bedroht sieht, ließ er Yücel einsperren. Man darf das als großes Kompliment für Yücels Arbeit werten. Bemerkenswert ist: Yücel schreibt als Korrespondent für Die Welt ausschließlich für ein deutsches Medium. Er veröffentlicht seine Texte nicht in der Türkei. Auch nicht auf Türkisch. Aber das spielt für Erdogan keine Rolle. Ein Feind seiner Herrlichkeit ist ein Feind zu allen Seiten des Bosporus.

Seit Erdoğan den Schafspelz abgelegt hat und sehr offensichtlich die Türkei zum Erdoğanschen Reich umbaut, sind systematisch kritische Medien mit Vorwürfen wie denen, PKK-nah zu sein und damit Terror zu unterstützen, zunächst diffamiert worden, bis sie in großem Stil durch den Staat geschlossen wurden – und ihre Journalisten verhaftet. Allein in einer Woche im vergangenen Sommer wurden 16 Fernsehsender, 23 Radiosender, 45 Tageszeitungen und drei Nachrichtenagenturen dichtgemacht. Derzeit sind mindestens 140 Journalistinnen und Journalisten in türkischen Gefängnissen, etliche in Silivri, dem Knast, in dem auch Deniz Yücel sitzt.
Wir Journalistinnen und Journalisten in Deutschland haben darüber berichtet. Wir haben berichtet, wie man berichtet, wenn ­irgendwo ein Erdrutsch zehn Menschen unter sich begräbt oder ein Reisebus verunglückt. Eine leichte Bestürzung im Ton der Nachricht. Ruhe in der Darstellung der Fakten und der Ursache und wieder mehr Dramatik bei der Frage, wie es weitergeht. Und das war es dann auch. Berichten. Ruhe. Kein Aufschrei. Keine kollektive Verbrüderung. Keine Solidarität.

Viele Journalisten verstecken sich hinter der Pflicht zur Neutralität und dem Anspruch, sich mit keiner Sache gemein zu machen, auch nicht mit einer guten. Und übersehen, dass die Pressefreiheit der anderen auch unsere Pressefreiheit ist.
Das patenteste Mittel, einen Staat in eine Diktatur zu wandeln, ist, die Presse und die Justiz auszuschalten. Entsprechend wurden in der Türkei auch keine Bäcker oder Hundezüchter verhaftet, sondern Journalistinnen und Journalisten. Aber wir Satten in Deutschland, wir Redaktionssitzer, deren größtes Problem es ist, dass der Rechner ausgerechnet dann nicht funktioniert, wenn der Systemadministrator in der Mittagspause ist, spalten das Geschehen in der Türkei ebenso von uns ab wie das in Ungarn und Polen, um in der Nachbarschaft zu bleiben. Dass wir uns nicht angesprochen fühlen, wenn in Myanmar Kollegen für ihre Berichterstattung in den Knast gehen, ist das eine. Aber das wir uns nicht einmal angesprochen fühlen, wenn in unseren Nachbarländern Kolleginnen und Kollegen an ihrer Arbeit gehindert oder für diese bestraft werden, sollte die Frage nach der charakterlichen Eignung von Journalistinnen und Journalisten als Wächter der Demokratie aufwerfen.

Vor allem das vergangene Jahr, Pegida und das Erstarken der AfD haben sehr deutlich gemacht, welch fragiles und eben nicht in Beton gegossenes Konstrukt die Demokratie auch in diesem Land ist. Und auch, welchen elementaren Beitrag die Medien zu ihrer Sta­bilität zu leisten haben. Diejenigen, die nicht begreifen, dass die in der Türkei inhaftierten Kolleginnen und Kollegen stellvertretend für sie im Gefängnis sind, dass es morgen unsere Demokratie sein kann, die Rechten und Populisten zum Opfer fällt, und die deshalb weiter so tun, als ginge sie das alles nichts an, müssen mit dem Klammersack gepudert sein.

Der Theodor-Wolff-Preis, mit dem Deniz Yücel im Juni ausgezeichnet wird, ist der x-te Preis, die x-te Auszeichnung, die er dieser Tage erhält. All diese Auszeichnungen sind ein Zeichen von Menschen, für die erst ein deutscher Journalist verhaftet werden musste, bis sie begreifen, dass Pressefreiheit kein nationales Gut ist. Dass in einer globalisierten Welt Pressefreiheit nicht auf Landesgrenzen beschränkt sein kann, damit die Idee eines Miteinanders, und sei es eines europäischen, funktioniert.
Man darf die Auszeichnung als Akt der Hilflosigkeit verstehen. So ein Preis, der nützt ja nichts. Keinen Tag früher wird Erdoğan Deniz Yücel aus der Haft entlassen lassen. Erdoğan wird ihn genau so lang in Haft behalten, wie er ihm als Faustpfand gegenüber der Bundesregierung nützlich sein kann. Eventuell sind das Jahre.

Jede einzelne Auszeichnung aber, die Deniz dieser Tage bekommt, jeder Marathon, der in seinem Namen gelaufen wird, jede Buchmessen-Mottoveranstaltung, jeder Autokorso, jeder Tanzabend kann zwei elementare Dinge bewirken: erstens den Blick darauf lenken, dass weit mehr Journalisten als nur ein einzelner deutscher unter Erdoğans Unrechtsregime gefangen gehalten werden. Und es kann zweitesns den Blick darauf lenken, dass Journalismus kein Beruf ist wie jeder andere. Sondern einer, der mit Demokratieerhalt zu tun hat und der Verpflichtung, mehr als nur hübsche Texte zu schreiben.

23.03.2017
Inland Notizen aus Neuschwabenland

Carl Schmitt gegen Yücel

Notizen aus Neuschwabenland, Teil 20: Deniz Yücel, Erdoğan und die deutsche Rechte

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Ende 2012 wurde Billy Six in Syrien vermisst. Der als »Abenteurer« gepriesene Finanzberater publizierte seit Jahren in der neurechten Wochenzeitung Junge Freiheit (JF). Nun war er nach einem illegalen Grenzübertritt von Assad-treuen Einheiten in Zentralsyrien bei Hama verhaftet worden. Auswärtiges Amt, BKA und deutsche Auslandsredaktionen machten sich auf die Suche und fanden Six in einem syrischen Gefängnis. Das russische Außenministerium arrangierte schließlich die Freilassung, wobei die Assad-freundliche Linie der JF sicher kein Nachteil war. Nach seiner glücklichen Heimkehr schrieb die Zeitung, dass sich ihr Autor illegal in Syrien aufgehalten und riskant verhalten habe. Vor allem aber bedankte sie sich für die »Unterstützung von vielen Seiten«. Das »Tröstliche« sei gewesen, »wie unglaublich viele Journalisten unterschiedlicher Couleur und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen sich darum bemühten, bei der Suche nach unserem Reporter zu helfen. Es waren Kollegen großer Blätter dabei, mit denen wir sonst in der Berichterstattung häufig über Kreuz liegen.« Die JF war so erleichtert, dass sie ihre heftige Abneigung gegen NGOs und »Lügenpresse« vergaß.
Die damalige Solidarität sollte man sich bei den Kommentaren rechter Medien zur Inhaftierung Deniz Yücels in Erinnerung rufen, der nicht als »Abenteurer« unterwegs war, sondern als Türkei-Korrespondent der Tageszeitung Die Welt. Sein Schicksal ließ selbst gewöhnlich antitürkische Kreise in offenen Jubel ausbrechen, für die Yücel, der auch Mitherausgeber der Jungle World ist, durch seinen Spott über nationale Überspanntheiten schon lange eine Hassfigur ist. Bereits im vergangenen Jahr begann das Institut für Staatspolitik mit einer Broschüre eine Kampagne gegen ihn.  Für die Institutszeitschrift Sezession brachte der »Identitäre« Till-Lucas Wessels die Begeisterung auf einen Nenner, mit der er und seine Kameraden angesichts der Inhaftierung Yücels gen Türkei blicken: »Heute also ein High-five für Erdoğan, ab morgen heißt es dann wieder: Make Istanbul Constantinople again!«
Autoren der JF sprechen sich angesichts Yücels Haft zwar pflichtschuldig für die Pressefreiheit aus, lassen es sich aber nicht nehmen, zuvor nochmal gegen Erdoğans Geisel zu wettern. Thomas Fassbinder befand dort: »Deniz Yücel ist ein Hetzer und kein Held des freien, fairen und kritischen Journalismus.« Ein anderer Autor sieht in ihm den »Kolonistensohn«. Vor allem dient die Auseinandersetzung nun dazu, endlich gegen die ungeliebte doppelte Staatsbürgerschaft vorzugehen. Hätte Yücel nur einen deutschen Pass, so lautet die Argumentation, wäre er in der Türkei niemals eingesperrt worden. In dieses Horn stößt auch Frauke Petrys Berater Michael Klonovsky. Nach einigen wutschnaubenden Tiraden gegen Yücel sprach er sich immerhin für die Pressefreiheit aus. Im Kommentarbereich dagegen tobt der offene Hass auf den »Zugereisten«. JF-Leser wünschen ihm eine lange Inhaftierung.
Sowohl in der JF als auch der Sezession wurde umgehend eine Parallele zum Fall Akif Pirinçci gezogen. Nicht, dass dieser eingesperrt oder des Terrorismus angeklagt worden wäre, aber aufgrund seines ständigen Testosteronüberschusses will keiner (außer Götz Kubitschek) mehr mit ihm arbeiten. So sei Pirinçci irgendwie auch Verfolgungsopfer.
Überboten wurde diese Schäbigkeit noch von der NPD. Deren Berliner Vorsitzender Uwe Meenen befand, Erdoğan handele »vorbildlich, indem er sein Volk und sein Land vor Leuten wie Deniz Yücel schützt«. In der Türkei seien »Gefängnisse noch Gefängnisse« und »keine Sanatorien wie in der BRD«. Wer es »mit Deutschland und mit der Türkei gut meint, kann Präsident Erdoğan und dem Staat, den er vertritt, nur dankbar sein«. Der Titel von Meenens Text lautet: »Erdoğan schützt das Recht!« Das ist eine kaum verklausulierte Anleihe bei Carl Schmitt, der mit der Formel »Der Führer schützt das Recht« die Säuberungsaktionen der Nationalsozialisten im Rahmen des sogenannten Röhm-Putsches 1934 staatsrechtlich absegnete. Hätte es noch weiterer Beweise bedurft, wie eng die Verwandtschaft von europäischen und türkischen Rechten ist, in den vergangenen Wochen wurden sie en gros geliefert.

08.03.2017
Ausland Der türkische Präsident weiß viele Medien hinter sich. Auch bei der Repression gegen Deniz Yücel und andere Journalisten

Lügen, Hass und Spionage

Die türkische Regierung unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan kann in ihrem Kampf gegen Oppositionelle und Kritiker auf die Unterstützung zahlreicher AKP-naher Medien bauen. So auch im Fall Deniz Yücel.

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Es begann scheinbar harmlos. Im Juni 2015 war Deniz Yücel mit einigen anderen Journalistinnen und Journalisten an der türkisch-syrischen Grenze unterwegs. Nach dem Ende der Schlacht um Kobanê waren der PKK nahestehende Einheiten der kurdischen YPG vorgerückt und hatten die Stadt Tell Abyad erobert. Flüchtlinge kamen über den nun nicht mehr vom »Islamischen Staat« (IS) kontrollierten Grenzübergang in die Türkei. Yücel und seine Kolleginnen und Kollegen trafen auf Flüchtlinge aus Deyr ­al-Zor, einer von Tell Ab­yad weit entfernten Stadt. Sie erzählten, sie seien vor den Bomben der USA und dem IS geflohen.
Kurz darauf hielt der Gouverneur von Urfa, İzzettin Küçük, eine Pressekonferenz ab. Der Gouverneur sagte, die Flüchtlinge flöhen vor den Bomben der Amerikaner und der PKK/YPG. Yücel fragte nach: »Flüchtlinge, mit denen wir gesprochen haben, haben uns das so nicht erzählt. Können Sie uns sagen, woher Sie Ihre Informationen haben?« Küçük antwortete nicht, sondern brach die Pressekonferenz ab. Seinen Leuten bedeutete er, sie sollten Yücel festnehmen: »Schnappt ihn euch!«
Die Festnahme endete ohne Anklage, doch von nun an war Yücel für regierungsnahe Medien »der Journalist, der dem Gouverneur die provozierende Frage gestellt hat«. Doch Yücel machte weiter von seinem Recht Gebrauch, Fragen zu stellen. Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz von Angela Merkel mit dem damaligen türkischen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu fragte Yücel die Bundeskanzlerin, wie sie zu den Vorwürfen stehe, sie ignoriere die Missstände in der Türkei. An Merkel perlte die Frage ab, doch in türkischen Medien sorgte sie für Empörung. Deniz Yücel sei kein Journalist, sondern ein agent provocateur, schrieb die Boulevardzeitung Star. Sie gehört dem Geschäftsmann und AKP-Funktionär Ethem Sancak und der staatlichen aserbaidschanischen Erdölgesellschaft SOCAR. Auf ihrer Titelseite bezeichnet sie sich als »Stimme des nationalen Willens«. Den Ausdruck »nationaler Wille« führt auch Recep Tayyip Erdoğan ständig im Mund. Als Kolumnist bei Star arbeitet unter anderem Yiğit Bulut, der von Erdoğan zu seinem Chefberater ­ernannt wurde, nachdem er im Fernsehen die Polizei dazu aufgerufen hatte, den Gezi-Demons­tranten die Schädel einzuschlagen.
Ein einheimischer Journalist wäre nun wohl vorsorglich entlassen worden oder es wäre hoch oben über Istanbul, dort, wo im neuen Justizpalast von Çağlayan die Abteilung der Staatsanwaltschaft für Pressevergehen eine riesige Etage für sich hat, eine Akte über ihn angelegt worden. Einem ausländischen Korrespondenten wäre die Pressekarte nicht verlängert worden. An die Pressekarte ist die Aufenthaltsgenehmigung geknüpft, also muss der Betreffende die Türkei verlassen, wie es unter anderem Hasnain Kazim vom Spiegel passiert ist.
Doch wegen seiner doppelten Staatsbürgerschaft kann man Yücel den Aufenthalt in der Türkei nicht verwehren. Es blieb also zunächst bei öffent­lichen Angriffen gegen den angeblichen »Religionsfeind«, »PKK-Anwalt« und dergleichen. Zugleich wurde versucht, ihn lächerlich zu machen. Schon Davutoğlu hatte amüsiert geantwortet, wie es denn möglich sei, dass Yücel der Türkei vorwerfe, auf dem 195. Platz der Rangliste der Pressefreiheit zu ­stehen, wo es doch nur 193 Länder gebe. Der Regierungsdolmetscher hatte die Zahlen in der an Merkel auf Deutsch gestellten Frage einfach falsch übersetzt. Doch nur die Handvoll oppositioneller Medien berichtete über diesen Fehler.
Yücel führte für die Welt  im August 2015 auch ein Interview mit dem PKK-Kommandanten Cemil Bayık, und zwar so kritisch, dass der Gouverneur von Urfa es vermutlich nach wenigen Fragen abgebrochen hätte. Doch das erfährt die Leserschaft von Star, Yeni Şafak, Yeni Akit, Sabah, Milliyet und anderen AKP-nahen Zeitungen ja nicht.
Erdoğan pflegt die Medien nach Gutsherrenart zu behandeln. Da hatte er doch vor wenigen Tagen bei einem Flug nach Pakistan bei der mitreisenden Reporterin des Star ein Päckchen Zigaretten entdeckt: Frauen und Rauchen – geht nicht. Der Präsident beschlagnahmte das Päckchen höchstpersönlich und nötigte die Journalistin zu ­unterschreiben, dass sie am 28. Februar das Rauchen aufgegeben habe. Eine andere Journalistin musste Erdoğan einmal versprechen, Kinder zu gebären.
Gelegentlich tobt er auch vor laufender Kamera wegen eines Artikels, wie jüngst, als die Zeitung Hürriyet darüber berichtete, dass Militärangehörige wegen Erdoğans Umgangsformen ungehalten seien. »Ungezogen« nannte er den Artikel und sagte, »sie werden teuer bezahlen«. Die Hürriyet entschuldigte sich umgehend, der Herausgeber Sedat Ergin wurde abgelöst und der Autorin und Moderatorin Hande Fırat droht ein Strafverfahren. Dabei hatte man wohl angenommen, ihr könne nichts passieren. In der Putschnacht im Juli 2016 hatte Erdoğan sie während ­einer Sendung bei CNN Türk über ein Videochatprogramm auf ihrem privaten Handy angerufen; sie hatte ihr Handy mit Erdoğans Bild in die Kamera gehalten, damit er die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Putschisten aufrufen konnte. Es war ein Wendepunkt im Putschgeschehen. Doch Fırat ist nicht die erste, die erfahren muss, dass Erdoğan selbst großzügige Dienste vergisst.
Wie bei einem echten Gutsherren erstreckt sich die Sphäre der Unantastbarkeit auch auf Erdoğans Familie. ­Wikileaks hatte E-Mails des Energieministers Berat Albayrak veröffentlicht, der auch Erdoğans Schwiegersohn ist. Es ging in ihnen unter anderem um Ratschläge, wie Trolle in sozialen Medien die Gezi-Proteste unterlaufen könnten. Obwohl Erdoğan selbst keine Probleme damit hat, sich auf Wikileaks zu berufen, mussten drei türkische Journalisten wegen Berichten über die E-Mails in Untersuchungshaft, drei weitere saßen längere Zeit in Polizeigewahrsam. 
Auch Deniz Yücel hatte über die ­E-Mail-Affäre geschrieben und war nach der Festnahme seiner Kolleginnen und Kollegen zunächst untergetaucht. Nachdem er sich schließlich gestellt hatte, wartete der Staatsanwalt 13 Tage mit der Vernehmung, interessierte sich dann aber mehr für das Interview mit Cemil Bayık. Offenbar war die angebliche Verbindung zur PKK als Anklagegrund politisch opportuner als die Affäre um Erdoğans Schwiegersohn.
Im Star konnte man nun lesen, Yücel habe Erdoğan als »Despot und Frauenfeind« beleidigt, »Lügenberichte« verfasst, »seinen Hass gegen die Türkei ­erbrochen«. Außerdem verbreitete die Zeitung, dass er ein deutscher Spion sei. Nachdem der Vorwurf der Spionage ganz ohne Quellenangabe gestreut war, konnte ihn Erdoğan am folgenden Tag öffentlich wiederholen. Nun sei wohl auch dem letzten klar, warum sich die deutsche Regierung so um Yücel reiße.

09.03.2017
Inland Erdoğans Propagandafeldzug und die deutsch-türkischen Beziehungen

Alles Nazis außer Erdoğan

Die AKP kämpft um die Zustimmung der 1,4 Millionen wahlberechtigten Deutschtürken zur türkischen Verfassungsreform. Die deutsch-türkischen Beziehungen sind wegen der Inhaftierung Deniz Yücels und Erdoğans Propagandafeldzug auf dem Tiefpunkt. Die türkische Community ist gespalten.

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Türkische Politiker versuchen zurzeit hartnäckig, in Deutschland für ein Ja zur Verfassungsänderung in der Türkei zu werben. Trat Ministerpräsident Binali Yıldırım im Februar in Oberhausen noch vor 8 000 Anhängern auf, bescheidet sich die zweite Garde der türkischen Regierung mit deutlich kleineren Hallen und muss sich mit den Tücken des deutschen Ordnungsrechts auseinandersetzen. Ein geplanter Auftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdağ vor einigen Hundert Anhängern im baden-württembergischen Gaggenau scheiterte an mangelnden Parkplätzen. Seinem Kabinettskollegen, dem Wirtschaftsminister Nihat Zeybekçi, gelang es erst nach zwei gescheiterten Versuchen in Köln und Frechen, am Sonntag in Leverkusen einem Konzert beizuwohnen und schließlich im Kölner Senatshotel für das Referendum zu werben. Stimmt eine einfache Mehrheit der Wahlberechtigten im April zu, steht der Einführung einer Präsidialdiktatur nichts mehr im Weg.
Der erste vorgesehene Auftritt Zeybekçis in Köln scheiterte, weil die Union der türkisch-europäischen Demokraten, eine Lobbyorganisation der AKP, das Bezirksrathaus Porz für ein Frauentheater angemietet hatte und nicht für eine Werbeveranstaltung für das Referendum. In Frechen zog der deutschtürkische Besitzer eines Hochzeitssaals seine Zusage zurück, weil er in seinen Räumen keine politischen Veranstaltungen beherbergen wollte.
Zeybekçi sprach schließlich vor knapp 300 Besuchern im Festsaal des Senatshotels mit der Verve eines städtischen Beamten der Wasserbehörde vor den Mitgliedern eines Anglervereins. Nur selten unterbrach Applaus seine Rede. Nur wenn er den Namen Erdoğan erwähnte, kam bei den AKP-Anhängern im Saal so etwas wie Stimmung auf. Dass die Türkei wirtschaftlich schlecht dasteht und ohne die Hilfe Deutschlands und der Europäischen Union nicht aus dieser Krise kommen dürfte, sagte er nicht. Auch dass die türkische Exportwirtschaft, die bislang vor allem Textilien und sogenannte weiße Ware wie Kühlschränke ausführte, zurzeit von der Konkurrenz aus Asien von den Märkten gedrängt wird, war nicht sein Thema.
Zeybekçi beschrieb die Türkei als ein wirtschaftlich starkes Land, das seit der Regierungsübernahme der AKP im Jahr 2002 unabhängig von fremden Mächten geworden sei, die die Türkei immer noch bedrohten. Um welche Mächte es sich handelt, erwähnte Zeybekçi nicht. Das ist für Verschwörungstheorien dieser Art ja auch nicht nötig.
Sollte die Abstimmung über die Verfassungsreform in der Türkei im April ohne Manipulationen ablaufen, kann sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan nicht sicher sein, ob er gewinnt. Selbst unter den Anhängern der AKP hält sich die Begeisterung über die Aussicht in Grenzen, Erdoğans Macht stark auszubauen und die Rechte des Parlaments zu beschneiden: 30 Prozent der AKP-Wähler sind gegen die Verfassungsänderung, die die Türkei in eine Präsidialdiktatur verwandeln würde. Erdoğan ist deshalb besonders auf die Unterstützung der faschistischen MHP, der Partei der »Grauen Wölfe«, angewiesen. Und auf die im Ausland lebenden Türken.
Mit 1,4 Millionen Wahlberechtigen kommt den in Deutschland lebenden Menschen mit türkischer Staatsangehörigkeit eine wichtige Rolle zu. Sie stellen die größte im Ausland lebende Wählergruppe und sind deutlich überzeugter von Erdoğan als die Wähler in der Türkei. Fast 60 Prozent der in Deutschland abgegeben Stimmen bei der Parlamentswahl 2015 gingen an die AKP. In der Türkei erhielt Erdoğans Partei nach einem Wahlkampf, der ­geprägt war von Repressionen gegen Regierungskritiker, hingegen nur 49,5 Prozent. Nirgendwo in Europa sind die türkischen Wähler so begeistert von Erdoğan wie in Deutschland. In Großbritannien erhielt die AKP 2015 gerade einmal 20 Prozent der abge­gebenen Stimmen.
Reden wie die von Zeybekçi dürften in Deutschland besser ankommen als in der Türkei. Hier hören AKP-Anhänger gerne die Geschichte vom Erfolg und Aufstieg des Landes. Wer in der Türkei keinen Job mehr hat und nicht weiß, wie er die Rechnungen bezahlen soll, dürfte nicht so gutgläubig zuhören. Das Gute für Erdoğan ist, dass seine Wähler in Deutschland das Versagen seiner Regierung ebenso wenig am eigenen Leib zu spüren bekommen wie die Konsequenzen des autoritären Wandels. Erdoğan wird aus einer Mischung aus Nationalstolz und Religiosität gewählt.
Eine Quelle dieses Stolzes ist auch das Auftreten Erdoğans und anderer AKP-Politiker gegenüber der Bundesregierung: Der Journalist und Jungle World-Mitherausgeber Deniz Yücel sitzt als Geisel in Untersuchungshaft in der Türkei, Erdoğan hat deutschen Behörden »Nazipraktiken« vorgeworfen. Er tönt, er werde nach Deutschland kommen, wann er wolle. Wenn man ihn daran hindere, werde er »die Welt aufstehen lassen«. Sein Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu will Deutschland gar Benehmen beibringen. Die Bundesregierung reagiert auf all das hilflos. Sie fordert zwar Yücels Freilassung, droht aber keine Konsequenzen für den Fall an, dass das nicht geschieht. Beschimpfungen und Drohungen weist Berlin zurück, betont aber, weiter im Dialog bleiben zu wollen. Man setzt auf Deeskalation.
Gökay Sofuoğlu, der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, hält das für den richtigen Weg, wie er im Gespräch mit der Jungle World sagt: »Ich wünsche mir, dass zwei Gänge zurückgeschaltet wird, man sich auf die lange Freundschaft zwischen beiden Ländern besinnt und von vorne beginnt.« Es gebe keine Alternative zu Gesprächen. »Die deutsch-türkischen Beziehungen waren noch nie so schlecht und das muss sich wieder ändern.« Doch nicht nur das Verhältnis zwischen den Staaten hat einen Tiefpunkt erreicht. Sofuoğlu sagt, auch zwischen Deutschen und Türken sowie innerhalb der türkischen Community werde der Umgangston rauer. »Der türkische Staat organisiert den Streit unter den Menschen, er hetzt die in Deutschland lebenden Türken gegeneinander auf. Sie werden bedroht, bespitzelt und man macht ihnen Angst wegen ihrer Verwandten in der Türkei, wenn sie sich hier kritisch über Erdoğan äußern.«
Sofuoğlu und sein Verein sind gegen die Umwandlung der Türkei in ein Präsidialsystem. »Ich glaube, die meisten Türken wollen weiterhin in einer parlamentarischen Demokratie leben. Aber es gibt keinen fairen Wahlkampf und in der Türkei herrscht immer noch der Ausnahmezustand.« Erdoğan sei in allen Medien präsent, die Opposition hingegen habe keine Möglichkeit, ihre Ansichten darzulegen. Kritiker würden denunziert und Demonstrationen verboten. Deswegen glaubt Sofuoğlu auch nicht, dass sich die Lage nach dem 16. April beruhigen werde: »Man kann auf diese Art und Weise keine Abstimmung durchführen.«
Doch was ist, wenn die von der Bundesregierung wie auch Sofuoğlu geforderten Gespräche keinen Erfolg haben? Was, wenn die türkische Regierung weiter auf Eskalation setzt, die hierzulande lebenden Menschen türkischer Staatsangehörigkeit aufhetzt, Yücel in Haft behält und auch in den kommenden Wochen die Bundesre­publik verbal angreift? Zurzeit sind bereits 81 Prozent der Bundesbürger einer Umfrage zufolge der Ansicht, die Regierung lasse sich zu viel von der türkischen Regierung gefallen. Der Druck auf Merkel steigt, Erdoğan mehr entgegenzusetzen, gerade im Wahljahr. Für Yücel und auch die hier lebenden Türken, die vom Erdoğan-Regime unter Druck gesetzt werden, muss das keine schlechte Nachricht sein. Ein autoritärer Politiker wie Erdoğan nutzt Schwäche aus und weicht zurück, wenn man ihm entgegentritt. Und die Türkei ist in Fragen der Wirtschaftshilfe und der Europäischen Zollunion deutlich abhängiger von der Bundesre­publik, als es umgekehrt der Fall ist. Hier streiten sich also nicht zwei Länder auf Augenhöhe, sondern ein Schwellenland befehdet eines der wirtschaftlich stärksten Länder der Welt. Daran ändert auch alle Kraftmeierei der türkischen Regierung nichts.

02.03.2017
Small Talk Small Talk: Imran Ayata über die Inhaftierung Deniz Yücels

»In Lager spalten«

Der Jungle World-Mitherausgeber und Türkei-Korrespondent der Welt Deniz Yücel sitzt in Istanbul in Untersuchungshaft. Was sagen Deutschtürken dazu? Imran Ayata war Mitbegründer von Kanak ­Attak, ist Schriftsteller und betreibt eine Agentur für Kampagnen. Er hat mit der Jungle World über die Auswirkungen des Falls Yücel gesprochen.

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Haben Sie damit gerechnet, dass Deniz Yücel in Untersuchungshaft gerät?

Ehrlich gesagt: Ich habe damit gerechnet. Dennoch habe ich eine klitzekleine Hoffnung gehegt, dass es anders kommen könnte.

Sollten Menschen, die sich wie Yücel öffentlich kritisch über Erdoğan äußern, zurzeit von Türkei-Besuchen absehen oder die Türkei verlassen?

Wie man sich in Zukunft äußert, ist eine politische Frage, die jeder selbst beantworten muss. Es ist aber davon auszugehen, dass Leute, die sich kritisch äußern, sei es publizistisch oder auch nur in Tweets, in den Augen der türkischen Regierung nicht etwa ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnehmen. Ich gehe davon aus, dass das Erdoğan-Regime seit längerer Zeit genau beobachtet, wer sich wie äußert, gerade auch Journalisten, Autoren und Künstler. Gleichzeitig pflegt die türkische Regierung ein gutes Verhältnis zu konformen Künstlern und Kulturarbeitern. Die werden auch schon mal zum Gedankenaustausch und zur Vernetzung in die Türkei eingeladen. Zu so etwas werden selbstverständlich nur ganz bestimmte Personen eingeladen. Die Auswahl erfolgt nach politischen Kriterien.

Sorgt Yücels Fall für Auseinandersetzungen unter Deutschtürken und in deren Organisationen?

Es sieht so aus, als würden sich die Diskussionsteilnehmer in Lager spalten. Einerseits jene, die der AKP nahestehen und denken, Erdoğan weise der Türkei den richtigen Weg. Der Schwachsinn, der durch die türkischen Medien ging – Deniz sei ein Terrorist, ver­kleidet als Journalist –, trägt auch hier in der Community zur Meinungsbildung bei. Es ist kein Geheimnis, dass die AKP gerade in Deutschland große Unterstützung genießt. Anderseits gibt es das Lager der Aufgeklärten, Progressiven, Linken, Kurden und Aleviten, die dem Regime sehr kritisch gegenüberstehen und dies deutlicher artikulieren können, als es zurzeit in der Türkei möglich ist.

Lässt sich diese Spaltung auch an Organisationen festmachen?

Ja. Es gibt Organisationen wie Ditib und Millî Görüş, die der türkischen Regierung nahestehen, teilweise von ihr finanziert werden. Auch andere Organisationen betreiben Formen fester oder freier Kooperation. Dann gibt es aber auch viele Migrantenvereine, Organisationen von Glaubensgemeinschaften, die grundsätzlich skeptisch zur AKP stehen. Bei Vereinen aus dem Umfeld der HDP und der kurdischen Bewegung ist das besonders deutlich.

Deniz Yücel hat das türkische Vorgehen in den kurdischen Gebieten scharf kritisiert. Das dürfte Kemalisten stören. Stehen sie zurzeit trotzdem hinter ihm?

Es gibt in der ersten Generation der türkischen Einwanderer immer noch einen gewissen Stolz, wenn Leute mit ­türkischen Namen in renommierten deutschen Medien arbeiten. Zudem habe ich die Vermutung, dass sehr viele Leute Deniz’ Texte in der Welt nicht gelesen haben, die türkisch-kurdische Leserschaft dürfte nicht so groß sein. Ein Interview mit dem PKK-Funktionär Cemil Bayık sorgt aber bei 80 bis 90 Prozent der Leute mit kemalistischem Hintergrund immer noch für einen Herzstillstand. Mit einem sogenannten Terroristen zu sprechen, ist in der türkischen Staatsideologie vom unteilbaren Vaterland eben nach wie vor ein no-go. Dieses Trauerspiel manifestiert sich auch in der türkisch-kemalistischen Sozialdemokratie.

Man kann in Kommentarspalten und den sozialen Medien ­gerade ein interessantes Phänomen beobachten: Die Anhänger von AfD und AKP sind einer Meinung im Fall Deniz. Überrascht Sie das?

Nein. Beide Parteien sind rechts. Obwohl die AfD den Islam angreift und vieles verachtet, für das die AKP steht, gibt es doch diese Gemeinsamkeit. Dass Deniz Yücels journalistische Arbeit solchen rechten Parteien nicht gefällt und daraus Übereinstimmungen entstehen, ist nicht überraschend.

02.03.2017
Lifestyle Deniz Yücel in Untersuchungshaft

Freilassen. Sofort!

Nach 13 Tagen in Polizeigewahrsam muss Deniz Yücel nun in Untersuchungshaft- auf unbestimmte Zeit. Journalisten und Menschenrechtsorganisationen fordern seine sofortige Freilassung, der Protest wächst. Die Bundesregierung zeigt sich bisher nur »enttäuscht«.

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Der für die Welt als Korrespondent in die Türkei entsandte Journalist Deniz Yücel bleibt weiterhin in der Türkei in Haft. Er ist am Montag aus dem Polizeigewahrsam in die Untersuchungshaft überführt worden. Rechtlich ist das ein gravierender Unterschied. Der 13tägige Polizeigewahrsam, der ohne Hinzuziehung eines Richters verhängt wird und der keinerlei Kontrolle unterliegt, ist rechtsstaatlich prinzipiell bedenklich. Die Untersuchungshaft, die von einem Richter angeordnet werden muss, entspricht formal dem, was ein Rechtsstaat verlangt. Allerdings müssen die Anwälte des in Haft Genommenen auch die Möglichkeit haben, dagegen vorzugehen – was vor allem die Einsicht in die Verfahrensakte voraussetzt. Die kennen Yücels Anwälte aber bislang nicht. Es gibt offenbar einen Geheimhaltungsbeschluss.

Auch darf nach rechtsstaatlichem Verständnis die U-Haft, die ja einen Menschen trifft, für den die Unschuldsvermutung gilt, weder die Verurteilung vorwegnehmen, noch über Gebühr lange dauern. Der Regelfall in Deutschland ist: nicht länger als sechs Monate. Gefangene aus der Roten Armee Fraktion (RAF) saßen in den siebziger Jahren bisweilen jahrelang in U-Haft, allerdings lief da immerhin schon ihr Verfahren. Und Akteneinsicht gab es auch.

Die Vorgehensweise der türkischen Polizei und Justiz gegen Deniz Yücel, der lange Zeit Redakteur der Jungle World und der Taz war, zeigt, dass die Einhaltung formaler rechtsstaatlicher Kriterien noch lange kein rechtsstaatliches Verfahren sicherstellt. In der Anhörung Yücels vor der Staatsanwaltschaft und anschließend vor Gericht, die ja nicht öffentlich stattfanden, ging es nach dem, was wir von seinen Freunden und Unterstützern wissen, ausschließlich um die von ihm in der Welt veröffentlichten Texte. Rechtlich werden sie offenbar teilweise als Aufwiegelung zum Völkerhass und Werbung für terroristische Vereinigungen gewertet. Das sind Straftatbestände, die es auch in anderen Rechtsordnungen gibt, auch in der deutschen (Paragraph 129a Absatz 5 StGB: für Werbung Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis fünf Jahren, Paragraph 130 Volksverhetzung: drei Monate bis fünf Jahre Haft). Diese Äußerungsdelikte laufen stets Gefahr, mit dem Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit zu kollidieren. Je weniger unabhängig die Gerichte sind, je stärker die Rechtsanwendung politischen Vorgaben folgt, desto größer ist die Gefahr der Eskalation. Aus bedenklichen Strafvorschriften werden in Zusammenspiel mit dem hohen Strafmaß effiziente Instrumente für die Bekämpfung von Meinungen, die Einschüchterung und die Verhinderung von freier Informationen. Das ist in der Türkei seit Jahren immer mehr der Fall. Seit der Niederschlagung des Putschversuches im Juli vorigen Jahres sind mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert worden – in den meisten Fällen gibt es bis heute noch nicht mal eine Anklageschrift. So wird aus der Untersuchungshaft, die ein Verfahren ermöglichen soll, ein Gewalt- und Willkürakt, der einschüchtern soll. Ein Schuldnachweis wird dafür nicht benötigt -nicht einmal für einen Verstoß gegen so gut zu instrumentalisierende Gesetze wie die hier einschlägigen Äußerungsdelikte.

Das Verfahren gegen Yücel muss in Zusammenhang mit der allgegenwärtigen Repression in der Türkei gesehen werden. Außer Journalisten sind 40 000 Menschen nach dem Putschversuch inhaftiert worden und warten in türkischen Gefängnissen auf ihre Gerichtsverfahren. Deswegen ist es richtig, neben seiner Freilassung die der anderen inhaftierten Journalisten zu fordern. Pressefreiheit ist, auch wenn das etwas pathetisch klingen mag, unteilbar. Es ist gleichzeitig aber auch ein besonderes Verfahren: Yücel hat neben seiner türkischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft und er ist Korrespondent einer deutschen liberalkonservativen Tageszeitung. Mit seiner Inhaftierung möchte die Türkei Stärke auf europäischem und internationalem Parkett signalisieren. Sie sucht den Konflikt , anstatt ihn zu vermeiden – offenbar in der festen Überzeugung, dass ihr nichts entgegengesetzt werden kann.

Die Reaktionen der Bundesregierung sind zwar jüngst schärfer und deutlicher geworden– stark und überzeugend wirken sie nicht. Konnte man anfangs noch annehmen, dass klare Äußerungen von offizieller Seite ausbleiben, um Raum für Diplomatie zu lassen und der Türkei zu ermöglichen Yücel ohne Gesichtsverlust freizulassen, so ist das spätestens seit der Entscheidung, unseren Kollegen in U-Haft zu nehmen, kein überzeugendes Argument mehr. In einer solchen Situation davon zu sprechen, das Vorgehen der Türkei sei »bitter und enttäuschend«, mag für einen privaten Social-Media-Account nachvollziehbar sein. Als Stellungnahme der Bundeskanzlerin erscheint es resignativ und man fragt sich, was die Kanzlerin erwartet hat, wenn sie nun enttäuscht ist. Auch Bundesaußenminister Sigmar Gabriel hat seine »Enttäuschung« zum Ausdruck gebracht und ebenso wie Angela Merkel beklagt, dass das Vorgehen gegen Yücel »unverhältnismäßig hart« sei. Das irritiert. Unverhältnismäßig sind nach herkömmlichem juristischem Verständnis Maßnahmen, die grundsätzlich rechtmäßig sind, die aber nicht der Anforderung genügen, das mildeste erforderliche Mittel zu wählen. Deniz Yücel wird aber seine Berichterstattung vorgeworfen. Jemanden dafür in Untersuchungshaft zu nehmen, ist nicht unverhältnismäßig, sondern es ist auch nicht unfair, es ist ein Verstoß gegen grundlegende bürgerliche Freiheiten. 1999 hat der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan das prägnant in Worte gefasst: »Die Pressefreiheit ist ein Grundstein der Menschenrechte. Sie macht die Regierungen für ihre Taten verantwortlich und ist eine Warnung an alle, dass Straflosigkeit eine Illusion ist. Sie fördert Wissen und Verständnis innerhalb der Staaten und zwischen diesen.« Man würde sich wünschen, dass die Bundesregierung hier klar benennt worum es geht, nämlich die Unterdrückung von Presse- und Meinungsfreiheit. Die Verbindung zwischen Yücels Inhaftierung und der anderer Journalisten in der Türkei herzustellen wäre vielleicht undiplomatisch – aber gewiss nicht undiplomatisch, als die Inhaftierung Yücels. Wenn sich Europa und vor allem die EU als Wertegemeinschaft inszenieren, ist hier ein Wert, für den sich einzusetzen lohnt, einer auch, der weltweit in besonderem Maße gefährdet ist, wie nicht zuletzt auch die Attacken Donald Trumps auf die US-amerikanischen Medien zeigen.

Für die außerparlamentarischen Kräfte, für uns Leserinnen und Leser und Kolleginnen und Kollegen von Deniz Yücel, gibt es also einiges zu tun, im eigenen Land mit Blick auf die hiesige Politik, aber auch mit Blick auf die türkische Politik und Öffentlichkeit – und das braucht einen langen Atem. Es spricht einiges dafür, dass Erfolge nicht einfach und schnell zu erzielen sind.

02.03.2017
Homestory Homestory

Homestory #09

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Der Praktikant braucht noch eine Mitfahrgelegenheit! Auch der zweite Autokorso für die Freilassung unseres Freundes, Kollegen und Herausgebers Deniz Yücel ist beliebt. Jeder möchte dabei sein, wenn wir hupend durch Berlin schleichen. Auch der Praktikant. Und Praktikant sein ist in der Jungle World keine Schande. Im Gegenteil! Kaninchenzüchtervereine interessieren weder die Leser noch die Redaktion. Kaffee können wir alle selbst kochen und zum Zugucken allein ist uns die Arbeitskraft der jungen Menschen zu wertvoll. Also machen Praktikantinnen und Praktikanten im Dschungel alles. Alles was sie wollen. Das war schon immer so. Ein Praktikant schrieb Ende der neunziger Jahre mal einen Artikel zu kultursensibler Altenpflege. Eine Reportage aus einem türkischen Altersheim in Deutschland. Das war Deniz. Schon damals prophezeite ihm ein Kollege und späterer CvD: »Pass auf, aus dir kann mal was Großes werden.« Ob er dabei an einen Korrespondentenjob bei Axel Springer dachte oder Deniz schon vor 20 Jahren als Symbol­figur für die unterdrückte Pressefreiheit sah, weiß er selbst nicht mehr. Das Gedächtnis des Kollegen lässt nach. Deniz jedenfalls hat als Praktikant und auch später als Redakteur gemacht, was er wollte. Denn das ist schließlich sein Job. So funktioniert freie Presse.
Seit Anfang dieser Woche sitzt Deniz nun in türkischer Untersuchungshaft. Er und Dutzende seiner und unserer Kolleginnen und Kollegen werden dort festgehalten, weil sie in der Türkei ihre jour­nalistische Arbeit machen. Und ganz ehrlich, das macht uns stinksauer! Wir werden deswegen auch weiter Korso fahren und weiter jede Woche Ihre Lieblingszeitung vollschreiben. Und auch wenn Ihnen manchmal der eine oder andere Artikel nicht gefallen sollte, hupen Sie mit uns!

23.02.2017
Inland Porträt: Deniz Yücel

Nicht zu Diensten

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Es ist nicht so, dass Deniz Yücel nicht wüsste, auf wessen Seite er steht. Er steht auf der Seite jener, die nicht angelogen werden wollen und die, wenn man ihnen Blödsinn erzählt, Widerworte geben. Im Zweifelsfall, wenn die Belogenen nicht die Möglichkeit oder erforderlichen Mittel haben, gibt er die erforderlichen Widerworte. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Als er noch Student der Politikwissenschaft war, war sein Bücherregal vollgestopft mit allem, was man als junger Linksradikaler wissen musste, meterweise einschlägige Theorie und Zeitschriften: gegen den völkischen Wahn – sei es nun gegen den in der Türkei oder den hierzulande –, gegen die deutsche Großmannssucht, gegen den Verblendungszusammenhang – kurz: gegen all jene Arschgeigen, die den Menschen abrichten wollen zum willfährigen Untertanen. In seinem ersten Text, den er vor 18 Jahren für diese Zeitung schrieb und in dem es um den türkischen Nationalismus und die PKK ging, heißt es: »In der Türkei wurde, trotz Gründung der Republik, der Übergang vom Untertanen zum Bürger nur rudimentär vollzogen.« Das gilt auch noch heute, wo man weiß, dass der Jubeldeutsche von der AfD und der Jubeltürke von der AKP einander ähnlicher sind, als sie wollen, und unser Kollege allein deshalb in eine Gefängniszelle verschleppt wurde (siehe Seite 9), weil er die Frechheit besaß, in seinen Artikeln die bittere Wirklichkeit zu beschreiben und nicht die Wahnwelt Erdoğans. Im erwähnten Artikel heißt es auch, in der Türkei würden »alle diejenigen diskriminiert und unterdrückt, die sich nicht in das vorgegebene Bild fügen wollen oder können«. 
Jetzt, 18 Jahre später, hat es auch Deniz getroffen, einen Menschen, der sich schon in seiner Zeit als Redakteur der Jungle World nicht in das vorgegebene Bild eines linken Journalisten fügte. Vielmehr ging es ihm darum, die eigene Leserschaft zu verstören, zu provozieren oder sie auch zum Lachen zu bringen, sie nicht mit all den Binsenweisheiten zu bedienen, die sie erwartete, oder gar – das Allerschlimmste – zu langweilen. Es reichte ihm nicht, wenn ein Artikel gründlich recherchiert und sauber formuliert war, der Text sollte geistreich, ein Lesegenuss sein, sollte die treffendsten und schönsten Wörter für eine bestimmte Sache enthalten, sollte mindestens eine Pointe haben, er sollte »knallen«. 
Herr Erdoğan täuscht sich in einer Sache: Es wird ihm nicht gelingen, aus Deniz einen Untertan zu machen.