Martin Walser und die Adelung des Ressentiments gegen die Juden

Der Sarrazin der Literatur

Hölzerne Sätze, große Wirkungen. Wie der Schriftsteller Martin Walser die Deutschen dazu ermunterte, sich zum Wegschauen zu bekennen.

Martin Walser kommt zweifellos das Verdienst zu, mit seiner Interpretation von Auschwitz als »Moralkeule«, von der er 1998 in seiner Friedenspreis-Rede in der Paulskirche sprach, den bei vielen Deutschen vorhandenen antisemitischen Ressentiments den Anschein einer intellektuell seriösen Position verliehen zu haben. Auch im bürgerlichen Kulturbetrieb traf er damit auf Zustimmung, was sich an den stehenden Ovationen der Anwesenden zeigte. Nur Ignatz Bubis, dessen Ehefrau und Friedrich Schorlemmer blieben sitzen und gaben sich nicht dem neuen Gemeinschaftsgefühl derjenigen hin, die sich nicht länger von Auschwitz drangsaliert und belästigt sehen wollten. Walser hatte sich in seiner Rede darüber beschwert, dass man in den Medien ständig dazu gezwungen werde, Bilder des Grauens über sich ergehen zu lassen, weshalb er für das Recht aufs »Wegschauen« plädierte; ganz so, als ob man dazu eigens jemanden hätte ermuntern müssen.

Seine Klage, dass »sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt«, fand nicht nur in weit rechts stehenden Kreisen Gehör, sondern löste auch die Zungen von respektablen Politikern wie Klaus von Dohnanyi, der sich über den Versuch der Juden beschwerte, »aus unserem Gewissen eigene Vorteile zu schlagen«. In diesem Fall müssten sich die »jüdischen Bürger« nämlich fragen lassen, »ob sie sich so sehr viel tapferer als die meisten anderen Deutschen verhalten hätten, wenn nach 1933 ›nur‹ die Behinderten, die Homosexuellen oder die Roma in die ­Vernichtungslager geschleppt worden wären«.

Walser sah die Aufarbeitung von Auschwitz an ihr Ende gekommen, der Charakter des Ortes der industriellen Vernichtung sollte vergessen, die Erinnerung daran abgekoppelt werden von irdischen und letztlich schmutzigen Interessen wie Entschädigungszahlungen und Reparationsforderungen. Vor allem aber sollte niemand den Deutschen länger ein schlechtes Gewissen machen, schon gar nicht die Juden. Jenen, die sich nicht dran hielten, unterstellte er in einer infamen rhetorischen Ver­drehung »eine Banalität des Guten«.

In seinen Romanen hat Walser immer wieder antisemitische Klischees verwendet und dieses Spiel mit antisemitischen Bildern wurde ihm zur Obsession.

Auschwitz war mit dem Historikerstreit 1986 zu einem Fixpunkt der nationalen Identität geworden, die Aufarbeitung zum nationalen Kulturgut. Niemand musste den Deutschen mehr mit Auschwitz kommen; wer es dennoch versuchte, schwang die »Auschwitzkeule«, mit der man den Deutschen die Schuld einzubläuen versuche. Insofern sprach aus Walser nicht einfach nur der Antisemitismus, es ging ihm um die »nationale Wiedergutwerdung« (Eike Geisel), deren Voraussetzung darin besteht, die Juden daran zu erinnern, dass sie auch nicht besser seien als die Nazis und deshalb das Recht verwirkt hätten, die Erinnerung an Auschwitz wachzuhalten.

In seinen Romanen hat Walser immer wieder antisemitische Klischees verwendet und dieses Spiel mit antisemitischen Bildern wurde ihm zur Obsession. Seit Marcel Reich-Ranicki 1976 den neuen Walser-Roman »Jenseits der Liebe« als »belanglos«, »schlecht« und »miserabel« bezeichnet hatte, als einen Roman, von dem sich nicht »eine einzige Seite« zu lesen lohne, rumorte es in Walser, wie aus seinen Tagebüchern der damaligen Zeit hervorgeht, in denen Reich-Ranicki als »Erzengel« auftaucht, der ihn »aus dem Paradies der Literatur« vertreibe.

Martin Walser während einer Lesung auf dem Literaturfestival Köln 2010

Reichsmeister im Signalwinken. Martin Walser während einer Lesung auf dem Literaturfestival Köln 2010

Bild:
Elke Wetzig (Elya)

Schließlich revanchierte sich Walser 2002 mit dem Roman »Tod eines Kritikers«, in dem er Reich-Ranicki als machtgierigen, Strippen ziehenden, sexistischen Juden auftreten lässt. Der damalige Herausgeber der FAZ, Frank Schirrmacher, der Walser stets verteidigt und seiner Rede in der Paulskirche applaudiert hatte, weigerte sich, den vereinbarten Auszug des Romans vorabzudrucken. Für ihn sei das Buch »ein Dokument des Hasses« und »nichts anderes als eine Mordphantasie«. Ruth Klüger kündigte Walser ihre langjährige Freundschaft auf. Und nicht nur Reich-Ranicki, sondern auch Intellektuelle wie Jan Philipp Reemtsma und Micha Brumlik waren »angewidert«. Seither beklagte Walser immer wieder, dass man ihn mundtot machen und aus der Welt der Literatur vertreiben wolle, obwohl er seine Karriere als einer letzten Vertreter deutscher Altherrenliteratur munter fortsetzte.

Letztlich handelte es sich bei dem Roman um einen schriftstellerischen Offenbarungseid, um ein knarzendes und hölzernes Stück Prosa, in der die Protagonisten deklamieren und der Leser sich in einem Gestrüpp aus zusammenhangslosen Handlungssträngen verliert. Schon der erste Satz des Romans stellt die Geduld des Lesers durch ineinandergeschachtelte Nebensätze auf eine ­harte Probe: »Da man von mir, was zu schreiben ich mich jetzt veranlasst fühle, nicht erwartet, muss ich wohl mitteilen, warum ich mich einmische in ein Geschehen, das auch ohne meine Einmischung schon öffentlich genug geworden zu sein scheint.«

Mit Walser stirbt eine kleinbürgerliche Angestelltenliteratur, die in wenigen Jahren nicht mal mehr das Interesse der Literaturwissenschaft erregen wird.

Sollte Walser, der einmal Sympathien für die DKP hegte, jemals einen moralischen Kompass besessen haben, so hatte er ihn längst verloren. Walser ergriff Partei für die schweigende Mehrheit und lobte darüber hinaus auch noch ihre Zuneigung zu Thilo Sarrazin: »Die politische ­Klasse hat Sarrazins Buch so töricht schnell verurteilt. Aber das Volk ist auf die Straße gegangen, hat es Millionen Mal gekauft und damit Sarrazin bestätigt. Das ist nicht Verdrossenheit – das ist Wachheit. Man kann sich also auf das Volk verlassen.«

Die politische Anbiederung ans lesende »Volk« nützte Walser kaum; seine Romane, von denen jährlich ein neuer erschien, wurden immer weniger gekauft und wohl noch seltener gelesen. Suhrkamp hielt Walser nicht auf, als er zu Rowohlt wechselte, und auch dort sah man keine Ver­anlassung mehr, ihn mit einer Gesamtausgabe seiner Werke zu ehren. Von einem Fernsehsender am Ende seines Lebens um ein Resümee gebeten, sagte er, dass das Leben ein Roman sei, der sich aufzuschreiben lohne. Damit hatte er Tausende von ­Lehrerinnen und Mittelschichtsvätern dazu ermuntert, die Verlage mit ihren Memoiren zu bombardieren. Mit Walser stirbt eine kleinbürgerliche Angestelltenliteratur, die in wenigen Jahren nicht mal mehr das Interesse der Literaturwissenschaft erregen wird. Falls dennoch jemand sich auf seinen häufig zitierten »streitbaren Geist« beziehen sollte, dann dürften das die Vertreter der AfD sein, falls dort jemand lesen sollte.