Der Einzelhandel im Wandel und die Bedeutung des Bergmannkiez für das Internetgeschäft

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Unpraktische Geschäfte

In keinem Viertel Berlins gibt es mehr Schallplattengeschäfte als im Bergmann-Kiez. Ganz schön praktisch für einen Plattensammler wie mich. In den vergangenen 25 Jahren musste ich mich niemals weit bewegen, um an all die sonderbaren und seltenen Platten zu kommen, die inzwischen einen ganzen Raum unserer Wohnung füllen. Ich bin vor die Tür gefallen und habe eine Platte gekauft, meist eine billige.

Schallplatten sind mir schon immer wichtig gewesen, und natürlich wollte ich auch da wohnen, wo sie verkauft werden und wo was los ist. Schon in den neunziger Jahren, als ich noch in Hamburg lebte, war mir der Bergmann-Kiez vertraut. Als Julia und ich uns 1998 entschlossen, zusammenzuziehen, suchten wir zwar auch in anderen Vierteln, aber ich formulierte schon früh meine Maximalvorstellung: »Ideal wäre es, wenn ich vor dem Brötchen holen noch im ›Groben Unfug‹ einen ­Comic kaufen könnte.« Dass wir dann tatsächlich eine Wohnung im Bergmann-Kiez fanden, war Zufall.

Dennoch zeigt diese spezielle Verdichtung der Geschäfte im Bergmann-Kiez auch ein problematisches Muster auf. Unpraktische Läden sind in den Innenstädten im Vormarsch. Der einzige Laden, in dem es hier noch einen Nagel zu kaufen gab, hat vor Jahren geschlossen. Da, wo meine Bank mal war, ist jetzt ein Burgerladen. Die Post hat geschlossen, ihren Service übernehmen jetzt die Zeitschriftenläden. Oder der gewöhnliche Einzelhandel.

Ohne den Online-Handel läuft auch im Schallplatteneinzelhandel nichts mehr.

Heute stehe ich im Plattenladen, als ein junger Mann reinkommt. Er wartet auf den Chef. Ich sage: »Der kommt gleich. Er ist gerade im Lager.« Als der Chef zurückkommt, sagt der junge Mann: »Ich glaube, ihr habt ein paar Pakete von uns angenommen.« Da erst fällt mir der Stapel vor dem Regal auf. Wenn ich in den Laden komme, packt eigentlich immer jemand Plattenpakete, die in die ganze Welt geschickt werden. Ohne den Online-Handel läuft auch im Schallplatteneinzelhandel nichts mehr. Der Chef guckt auf den Adress­aufkleber auf einem der Pakete und fragt den jungen Mann: »Sag mal deinen Namen.« Kontrolliert also ordnungs­gemäß, fast wie früher bei der Post, fehlte nur noch, dass er sich den Ausweis zeigen ließe. Dann packt der junge Mann alle Pakete zusammen, der Chef bietet ihm noch eine Tasche an, aber da hat der Junge schon alles in einer mitgebrachten großen Tragetasche verstaut.

Ich betone das mit dem jungen Mann so, weil ich regelrecht überrascht war, dass ein so vitaler Mensch, locker 30 Jahre jünger als ich, der sich mühelos überallhin bewegen kann, so faul im Internet bestellt. Mit so einer selbstverständlichen Bequemlichkeit, die sich noch als cool geriert. Als wäre es cool, einen Stapel Pakete von unterbezahlten ­Liefersklaven, die gehetzt durch die Stadt jagen, geliefert zu bekommen. Aber das soll anscheinend so sein. Alle be­stellen, die Läden schließen. Ich freue mich schon: Wenn Karstadt am Hermannplatz irgendwann schließt, und das deutet sich seit Monaten an, dann werde ich in einen der ­vielen Klamottenläden in der Bergmannstraße gehen, vielleicht in den Surferladen, in dem ich immer meine Vans kaufe, und werde freundlich fragen: »Entschuldigen Sie, aber verkaufen sie auch Unterhosen?«