Thomas Pynchons Hauptwerk »Gravity’s Rainbow« ist vor 50 Jahren erschienen

Paranoia zweiter Ordnung

Vor 50 Jahren erschien Thomas Pynchons Roman »Gravity’s Rainbow«. Es ist ein Buch, das für lauter ­Missverständnisse gesorgt hat – und genau aus diesen seinen ästhetischen Reiz überhaupt erst gewinnt.

Es ist ein Buch der Missverständnisse. 1973 erschien Thomas Pynchons »Gravity’s Rainbow« in den USA bei ­Viking Press und verwirrt seither Leserinnen und Kritiker gleichermaßen. Wie sollte es auch anders sein, könnte man denken, bei einem Buch von 760 Seiten mit insgesamt über 400 verschiedenen Figuren und ungezählten Handlungssträngen, Zeitebenen, Rätseln und durch und durch vulgären Witzen; ein Buch, das sich durch mehrere Glossare quasi verdoppelt und verdreifacht hat, die Leserinnen erklären, auf welche ­obskuren Pulp-Phänomene der vierziger Jahre hier Bezug genommen wird und ob es die Weimarer Pornofilmindustrie eigentlich wirklich ­gegeben hat. Dieser zwischen Buchdeckeln gequetschte Größenwahn verdeckt beinahe, dass »Gravity’s Rainbow« (deutscher Titel: »Die Enden der Parabel«) auch eine Reak­tion auf die großen gesellschaftlichen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist.

Die Handlung beginnt am 18. September 1944 und endet am 14. September 1945 – und das ist vielleicht der einzige Rahmen, in den dieser Text einigermaßen passt. Es gibt so etwas wie einen Protagonisten: Der US-amerikanische G.I. Tyrone Slothrop wurde durch Pawlow’sche Konditionierung dazu gebracht, mit Erektionen auf das Nahen der deutschen V2-Raketen zu reagieren – einer Waffe, die man erst hört, wenn sie einschlägt, und die deshalb den intuitiven Glauben an ein klares Verhältnis von Ursache und Wirkung gründlich erschüttert.

Doch im Jahr 1944 ist ohnehin nicht zu beneiden, wer sich aufmacht, den Zustand der Welt rational zu erklären. »Gravity’s Rainbow« funktioniert deshalb auch in seiner Form kaum wie ein Roman: Die meisten Ansätze einer Geschichte werden entweder gleich verhackstückt oder verlieren sich in seitenlangen Abschweifungen, bis eine Figur in den nebligen Straßen Londons auf einmal einen riesigen Rachenpolypen findet, der langsam St James’s überwuchert und leider kein Englisch spricht.

Mit »Gravity’s Rainbow« schrieb sich der damals 36jährige Pynchon endgültig in den Kanon der westlichen Literatur ein, ohne dass er mit dem Ruhm etwas anzufangen wusste.

Ja, es gibt so etwas wie ein Ziel der Reise: Irgendwo in den Ruinen der Nachkriegszeit wartet eine mysteriöse Rakete mit der Kennziffer 00 000 – und alle suchen sie. Doch der Weg dorthin ist eine einzige Abschweifung. Figuren lösen sich auf, wechseln andauernd ihre Namen und die anfängliche Paranoia, dass alles mit allem verbunden sein könnte, weicht schnell einer Paranoia zweiter Ordnung: dass nichts mit irgendetwas verbunden sein könnte und sich die ganze Scharade, das ganze kriegs­bedingte Leid sich am Ende als sinnlos entpuppen könnte. Zweifelsohne sind finstere Mächte am Werk. Doch wie die ominöse »Weiße Visitation«, eine beinahe mystische Plastiksub­stanz namens Imipolex G, die I. G. Farben, Nazi-Pornoproduzenten und okkulte Zirkel am Ende zusammenhängen, verliert sich irgendwo in der »Zone«, wie das zerstörte Nachkriegsdeutschland treffend beschrieben wird.

Die Reisen durch dieses verdunkelte Land machen einen der größten und vermutlich aberwitzigsten Abschnitte des Buchs aus: Hier trifft man auf obsessive Nazi-Offiziere, die sich in Lebkuchenhäuser im Wald zurückziehen, wo sie Hänsel und Gretel als Sexobjekte halten, während sich Slothrop mit einem Cape und einem Helm wie aus einer Wagner-Oper in den »Rocketman« verwandelt und eine Ladung Haschisch von der Dreimächtekonferenz klaut, die gerade in Potsdam tagt. Warum? Das stand vielleicht 100 Seiten vorher in einem Nebensatz, der in die nächste Abschweifung mündete, an deren Ende eine Gruppe Soldaten plötzlich ein schmutziges Lied anstimmt oder ein Wissenschaftler über Raketen monologisiert.

Man kann sich in diesem Buch verlieren, wie sich ganz reale Menschen in ihren Wahngebilden ver­lieren. Doch es gehört zu den weiteren Missverständnissen über »Gravity’s Rainbow«, dass es in letzter Instanz ein Buch über die Unentzifferbarkeit der Welt wäre und sich mit der Charakterisierung als »postmoderne Literatur« etwas über Pynchons Texte sagen ließe. Denn im Kern kreist dieses Buch um eine ganz reale Erfahrung von Gewalt.

Pop- und Jazz-Songs, Superhelden, Schundliteratur, ja generell die Anfänge der Massenkultur strukturieren den Roman und brechen immer wieder als Verweis, als Rätsel, als Traum in die Handlung ein.

Mit »Gravity’s Rainbow« schrieb sich der damals 36jährige Pynchon endgültig in den Kanon der westlichen Literatur ein, ohne dass er mit dem Ruhm etwas anzufangen wusste. Noch so ein Missverständnis: der ­Autor und sein Rückzug aus der Öffentlichkeit. Bis heute – das darf in keinem Text über Pynchon fehlen – existieren fast keine Fotos des Schriftstellers. Das »aktuellste« zeigt ihn noch in seiner Zeit bei der Marine. Einen Preis ließ er einmal von einem Komiker für sich entgegennehmen.

Dass man ihn sich aber keineswegs als weltabgewandten Eremiten vorstellen darf, zeigt sein Auftritt in einer Folge der »Simpsons«, in der er sich selbst spricht, während er mit einer Papiertüte auf dem Kopf vor seinem Haus steht und vorbeifahrende Menschen anbettelt, ihn doch endlich einmal zu fotografieren. Mehr noch als standhafte Selbstironie spricht aus diesem Auftritt eine lebenslange Fixierung auf die westliche Popkultur in all ihren Formen. »Gravity’s Rainbow« ist voll damit: Pop- und Jazz-Songs, Superhelden, Schundliteratur, ja generell die Anfänge der Massenkultur strukturieren den Roman und brechen immer wieder als Verweis, als Rätsel, als Traum in die Handlung ein.

Sie bilden den Kontrast zu einem anderen Material, aus dem sich das Buch speist: dem Wissen um die ganze banale Brutalität, die kapitalistischen Gesellschaften auch in ihren Glanzzeiten zu eigen ist. Pynchon war selbst in den Fünfzigern als technischer Schreiber und Autor eines firmeninternen Newsletters bei Boeing angestellt und erlebte dort die Entwicklung jener gesellschaftlichen Sphäre mit, die später im Jargon der Gegenkultur als ominöser »militärisch-industrieller Komplex« einen Namen erhalten sollte. Boeing produzierte in dieser Zeit unter anderem die Minuteman – eine Interkontinetalrakete, die den Kern der Atomstreitkräfte der USA bilden sollten. Dieses Wissen über Raketensysteme, exakte Berechnungen, der kalte Sprech der technologischen Weltbeherrschung bildet die andere Hälfte des Buchs. Die eine wäre ohne die andere nicht zu ertragen, das eine erhellt das andere.

Wer sich mit der Geschichte Nazideutschlands auseinandergesetzt hat, weiß, dass die Produktion der V2-Rakete durch die Zwangsarbeit im KZ Mittelbau-Dora ermöglicht wurde. Die Geister dieser Zwangs­arbeiter treten schließlich in Pynchons Buch auf, in dem Slothrop von der bizarren Figur des Major Marvy durch die Stollen des Mittelbaus gejagt wird.

Es ist nicht unwichtig, sich diese Zugriffe auf das historische Material vor Augen zu führen, gerade wenn es an die Stellen in »Gravity’s Rainbow« geht, die sich ganz explizit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts widmen. Denn wer sich mit der Geschichte Nazideutschlands auseinandergesetzt hat, weiß, dass die Produktion der V2-Rakete durch die Zwangsarbeit im KZ Mittelbau-Dora ermöglicht wurde. Die Geister dieser Zwangs­arbeiter treten schließlich in Pynchons Buch auf, in dem Slothrop von der bizarren Figur des Major Marvy durch die Stollen des Mittelbaus gejagt wird.

In demselben Stollen trifft Slothrop auf eine klandestine Gruppe von Herero-Kämpfern. Aus Namibia nach Deutschland verschleppt, sind einige von ihnen am Bau der Rakete beteiligt, somit dem Projekt eines großen Aussterbens verpflichtet, während die übrigen die V2-Rakete als große Vollenderin des Kolonialismus studieren. Pynchons Blick ist in diesen Szenen einer, der auf das Grauen geht und dem die Welt in der Folge noch grotesker erscheint, als sie es ohnehin schon ist. Das Schreckliche macht die Welt ­obszön.

Vielleicht das letzte Missverständnis über »Gravity’s Rainbow« betrifft seine Obszönitäten. Das Buch steht quer zu allen Erwartungen an die Literatur, insbesondere zu jenen an die sogenannte Hochliteratur. Es mag für viele Leserinnen absolut unverständlich sein, die finstersten Aspekte des Zweiten Weltkriegs im Modus des Pulp zu erzählen, in dem schreckliche Szenen neben absurden gleichberechtigt stehenbleiben. Doch vielleicht liegt in dieser Form eine eigene Wahrheit. Die Welt erscheint hier so dermaßen beschädigt, dass eine einfache Unterteilung der Themen und ihre Kategorisierung als ernst, unernst, lächerlich, weihevoll, vulgär nicht mehr funk­tionieren will. Das Buch provoziert sicher einige Lacher, doch keiner ­davon dürfte befreiend sein.