Der 7. Oktober und die linke Solidarität mit den Tätern

Die Rückkehr der progressiven Abscheulichkeiten

Es liegt in der Verantwortung westlicher Aktivisten zu wissen, wen und was sie unterstützen, und sich offen und entschieden von Programmen und Regimes zu distanzieren, die auf Gewalt und Unterdrückung basieren. Warum gelingt das, wenn es um barbarische Organisationen wie den »Islamischen Staat« oder Boko Haram geht, nicht aber im Fall der Hamas? Eine Abrechnung mit den schockierenden Reaktionen der globalen Linken auf das Massaker vom 7. Oktober.
Essay Von


All lies and jest
Still a man hears what he wants to hear
And disregards the rest.
Paul Simon, »The Boxer«

Im Jahr 1957 befasste sich Albert Memmi in seinem Buch »Der Kolonisator und der Kolonisierte« mit der Frage nach dem Verhältnis der Linken zum Terrorismus. Memmi war ein französisch-tunesischer Jude, der sich gleichermaßen für den sozialistischen Zionismus und den Antikolonialismus einsetzte. Die linke Tradi­tion, so stellte er fest, »verurteilt den Terrorismus« als »unbegreiflich, schockierend und politisch absurd. Zum Beispiel den Tod von Kindern und Personen außerhalb des Kampfes.«

Doch Memmis Annahme war bereits überholt, als er sie niederschrieb. Die Geschichte der Romanze der modernen Linken mit dem Terrorismus – nicht die »altmodische« Version, die auf Zaren oder kaiserliche Beamte abzielte, sondern die Art, die sich gegen unbewaffnete Zivilisten richtet – hatte da bereits begonnen. Sie fing mit dem Algerien-Krieg an und gewann in den sechziger und siebziger Jahren und darüber hinaus an Dynamik mit dem Auftauchen der Roten Brigaden, der Baader-Meinhof-Bande, der Irisch-Republikanischen Armee, der Roten Armee Japans, der Weathermen und der Vielzahl von Organisationen, die in der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und vor allem in deren Ablehnungsfront zusammengefasst waren. Letztere Gruppierung nimmt einen Ehrenplatz ein: »Für die Sechste Internationale ist der palästinensische Widerstand ein Banner (…) eine Inspiration für den Aufstand der Enteigneten, sowohl in seinen Zielen als auch in seinen Mitteln«, erklärte Mohammed Sid-Ahmed, ein prominenter ägyptischer Linksintellektueller und Aktivist.

Zu dieser Zeit gewann das oxymoronische und ethisch abstoßende Konzept, das der verstorbene Nahostwissenschaftler, Antikolonialist und Sozialist Fred Halliday als »fortschrittliche Gräueltaten« kritisiert hat, in der Linken an Glaubwürdigkeit, insbesondere innerhalb der palästinensischen Bewegung und den sie unterstützenden Gruppen. Natürlich ent­hielt auch das palästinensische nationale Projekt – genau wie der Zionismus – immer eine Vielzahl von Ideologien, die von friedlicher Koexistenz bis zur Eliminierung des anderen reichen. (Die letztgenannte Tendenz ist unter vielen Mitgliedern der derzeitigen Regierung von Benjamin Netanyahu erschreckend weit verbreitet). Es ist jedoch keine Übertreibung zu sagen, dass die palästinensische Bewegung schon vor der Gründung Israels im Jahr 1948 mehr als jede andere vom Terror geprägt war und dass terroristische Gruppen innerhalb der Bewegung immer eine prominente Rolle gespielt haben.

Im Zeitalter der »progressiven Gräueltaten« wurden die Terroranschläge der PLO auf Israelis, Juden und Zivilisten in aller Welt als Instrumente der Befreiung gefeiert.

Im Zeitalter der »progressiven Gräueltaten« wurden die Terroranschläge der PLO auf Israelis, Juden und Zivilisten in aller Welt als Instrumente der Befreiung gefeiert. Eine sehr unvollständige Liste solcher Vorfälle umfasst die Ermordung von elf israelischen Athleten bei den Olympischen Spielen 1972 in München (die Spiele wurden dennoch fortgesetzt) und das Massaker am Flughafen Lod (heute Flughafen Ben Gurion; Anm. d. Red.) im selben Jahr (26 Tote und mindestens 80 Verletzte); das Massaker von Ma’alot 1974, bei dem 115 Israelis, hauptsächlich Schulkinder, als Geiseln genommen wurden (31 Tote); die Entführung nach Entebbe 1976, bei der israelische und andere jüdische Passagiere von den anderen getrennt und mit dem Tod bedroht wurden (die meisten wurden von israelischen Kommandos gerettet); das Massaker an der Küstenstraße im Jahr 1978, bei dem ein ziviler Bus entführt wurde (Todesopfer: 38, darunter 13 Kinder; 71 Verletzte); 1982 der Angriff auf das koschere Restaurant Chez Jo Goldenberg in Paris, der damals als der schlimmste Fall von Antisemitismus in Frankreich seit dem Holocaust galt (sechs Tote und 22 Verletzte); sowie zahlreiche weitere Fälle von Luftpiraterie.

Verschiedene internationale Gruppen, insbesondere die deutsche Baader-Meinhof-Gruppe und die Japanische Rote Armee, halfen ihren palästinensischen Brüdern gelegentlich »solidarisch«. Nicht alle Linken oder linken Organisationen unterstützten diese Aktionen, aber sie zu kritisieren galt als ein Zeichen von »bürgerlichem Moralismus«, wie Ghassan Kanafani, ein Führer der Volksfront zur Befreiung Palästinas, es ausdrückte. (Kanafani, der auch ein begabter Schriftsteller war, wurde nach dem Anschlag am Flughafen Lod vom Mossad ermordet).

Marxistische Bewegungen haben Terror gegen Zivilisten traditionell gemieden

Seltsamerweise hat keine der terror­istischen Gruppen ihre Ziele erreicht, außer der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) – nun ja, gewissermaßen. Die Algerier erlangten ihre Unabhängigkeit, aber das von der FLN errichtete Regime ist bis heute eines der repressivsten der Welt – die Nichtregierungsorganisation Freedom House stuft Algerien als »nicht frei« ein, ihre schlechteste Kategorie. Die erfolgreichen Revolutionen – die chinesischen, vietnamesischen, kubanischen, nicaraguanischen und südafrikanischen Aufstände – waren zwar nicht gewaltfrei, aber sie verzichteten weitgehend darauf, unbewaffnete Zivilisten anzugreifen. In der Tat haben marxistische Bewegungen Terror gegen Zivilisten aus mo­ralischen wie auch aus politischen Gründen traditionell gemieden. Terror gegen Zivilisten demoralisiert die einfachen Leute und treibt sie fast immer nach rechts, oft in die Arme autoritärer Führer; Terrorismus verherrlicht die einzelne Tat auf Kosten des Aufbaus einer Massenbewegung. André Malraux’ Roman »Die Eroberer« von 1928, der während des gescheiterten kommunistischen Aufstands in China 1925 spielt, beginnt mit einem dramatischen Terrorakt; es ist Garine, ein Marxist und der Held des Buches, der sich dagegen wehrt. Der katastrophale Zustand der heutigen palästinensischen Bewegung legt nahe, dass der Einsatz von Terror und die Erlangung von Freiheit in einem umgekehrten Verhältnis zueinander stehen.

Kämpfer der Hamas in Tarnkleidung, mit Kufiya und »Qassam-Brigaden«, dem offiziellen Namen ihrer Terrororganisation, auf dem Helm marschieren während einer Kundgebung

Geburtstagsfeier. Kämpfer der Hamas in Tarnkleidung, mit Kufiya und »Qassam-Brigaden«, dem offiziellen Namen ihrer Terrororganisation,
auf dem Helm marschieren während einer Kundgebung zum 35. Jahrestag ihrer Gründung, 14. Dezember 2022 in Gaza

Bild:
picture alliance / Zumapress / Ahmed Zakot

In den vergangenen Jahren schien die linke Befürwortung des Terrors nachgelassen zu haben; man findet nicht viele Verteidiger von al-Qaida, dem »Islamischen Staat« (IS), den Taliban oder Boko Haram. Die bemerkenswerte Ausnahme sind Gruppen, die sich der Zerstörung Israels verschrieben haben: Hamas, Islamischer Jihad und Hizbollah, die alle noch immer Begeisterung und verblendete Bewunderung hervorrufen. Man hätte nun meinen können, dass eine sadistische Mordorgie, wie sie die Hamas am 7. Oktober begangen hat, Anlass zu einer ernsthaften moralischen und politischen Selbstbefragung gegeben hätte. Wie die vergangenen Wochen gezeigt haben, ist ­jedoch genau das Gegenteil der Fall.

Der außergewöhnliche Charakter der propalästinensischen Demons­trationen, die durch die Hauptstädte des Westens fegen – Demonstrationen, die begannen, noch bevor Israel eine einzige Bombe auf den Gaza-Streifen abgeworfen hat –, ist vielleicht nicht in vollem Umfang gewürdigt worden. Im Südsudan, im Kongo, in Äthiopien, in Syrien und in Darfur kommt es derzeit leider zu grauenvollen Massakern an unbewaffneten Zivilisten. Unverzeihlicherweise werden sie von der sogenannten internationalen Gemeinschaft meist ignoriert. Nirgendwo jedoch wird den Tätern Hochachtung entgegengebracht und nirgendwo werden ihre Verbrechen bejubelt. Und nirgendwo werden die Opfer – wehrlose Zivilisten, darunter Kinder und ihre Mütter – für ihre Ermordung verantwortlich gemacht. Aber genau das geschieht jetzt. Der tödlichste Tag in der Geschichte des jüdischen Volkes seit dem Holocaust wurde in bestimmten Kreisen mit Freude und – um es klar zu sagen – mit einem völlig unverhohlenen Hass auf Juden begrüßt.

Demonstranten zeigten die Geste des Kehledurchschneidens

Viele Emotionen, die in den sozialen Medien, auf Straßenmärschen und in verschiedenen Publikationen zum Ausdruck gebracht worden sind, zeugen von einer erstaunlichen Distanz zu allem, was man als rationales politisches Urteilsvermögen und normale Menschlichkeit bezeichnen würde. Auf der Kundgebung »All Out for Palestine« am Times Square, die nur einen Tag nach dem Massaker stattfand, ertönten begeisterte »700!«-Rufe – die Zahl der geschätzten israelischen Todesopfer zu diesem Zeitpunkt – und Demonstranten zeigten die Geste des Kehledurchschneidens. Ein Redner auf einer Kundgebung der Palästina-Solidaritätskampagne in Brighton (England), die ebenfalls am 8. Oktober stattfand, bezeichnete die Anschläge als »schön und inspirierend«. Das Bild eines Gleitschirmfliegers – wie die von der Hamas verwendeten! – mit einer palästinensischen Flagge ist im Internet viral gegangen, bei allen von Black Lives Matter/Chicago bis zu Neonazi-Gruppen – was der Intersektionalität eine ganz neue Bedeutung verleiht.

Es ist wahrscheinlich, dass viele dieser Gruppen – vor allem jene, die aus privilegierten Studenten bestehen, die mit Wörtern wie »Völkermord«, »Siedlerkolonialismus« und »Faschismus« um sich werfen – kaum (wenn überhaupt) Kenntnisse über die Politik oder Geschichte des Nahen Ostens haben und nicht einmal den Unterschied zwischen »the river« und »the sea« erklären könnten. Viele bewerben einfach ihre »antikolonialen« Referenzen, wobei ich mir vorstelle, dass der sonst so strenge Ayatollah Ali Khamenei in Teheran erstaunt lächeln muss, wenn er sieht, wie viele Demonstranten im Westen seine Ausführungen wiederholen und seine – offen ausgesprochenen – Pläne zur Zerstörung des »zionistischen Gebildes« unterstützen, selbst wenn sie nicht so ganz wissen, dass sie genau das tun.

Aber auch (mutmaßlich) kundige Intellektuelle mischten sich schnell in die Diskussion ein. In der New Left Review, der führenden marxistischen Zeitschrift Großbritanniens, lobte Tariq Ali die Terroristen dafür, dass sie sich »gegen die Kolonisatoren erhoben« hätten, und deutete bizarrerweise an, dass die Morde auf die Frustration der Palästinenser über Israels jüngste riesige prodemokra­tische Kundgebungen zurückzuführen seien. In der London Review of Books wies Amjad Iraqi zwar auf das schreckliche Wesen der Anschläge hin, lobte sie aber dafür, dass sie »eine psychologische Barriere zerschlagen« hätten, obgleich man argumentieren könnte, dass die Zivilisation von der Aufrechterhaltung solcher Barrieren abhängt.

Man muss die Grundsätze der freien Meinungsäußerung verteidigen

In der Zeitschrift Dissent, mit der ich seit langem verbunden bin und die früher die Heimat des linksliberalen Zionismus Michael Walzers war, bezeichnete der Geschichtsprofessor Gabriel Winant Israel als eine »Völkermordmaschine« und argumentierte, dass die israelischen Opfer nicht betrauert werden sollten. Joseph Massad, Professor an der Columbia University, der Nahoststudien und Geistesgeschichte lehrt, konnte in der Online-Zeitschrift The Electronic Intifada seine Begeisterung nicht zügeln: Die Angriffe seien »innovativ«, »erstaunlich«, eine »große Errungenschaft«, »ehrfurchtgebietend«, »unglaublich« und »ein überwältigender Sieg«; er fragte sich aufgeregt, »ob dies der Beginn des palästinensischen Befreiungskrieges ist«. (Tausende haben daraufhin eine Petition unterzeichnet, die die Entlassung Massads fordert; so verlockend dies auch ist, meiner Ansicht nach sind dies die Zeiten, in denen man die Grundsätze der freien Meinungsäußerung verteidigen muss.)

Einige Studentenorganisationen haben Verbindungen in die Region und wissen vermutlich, was dort vor sich geht. Die blutrünstigste aller Studentengruppen, die sich unpassenderweise »Studenten für Gerechtigkeit in Palästina« nennt, rief »Ruhm für unsere Märtyrer«, nannte das Massaker einen »historischen Sieg« und forderte: »Lasst nicht zu, dass westliche Medien dies als Terrorismus bezeichnen. Es ist DEKOLONISIERUNG.«

Was die Hamas als »Besatzung« bezeichnet, ist Israel selbst, unabhängig vom Grenz­verlauf. Jede politische Vereinbarung, einschließlich zweier Staaten oder sogar eines binationalen Staates, gilt ihr als Blasphemie.

Solche Pro-Hamas-Gruppen und -Aktivisten als »propalästinensisch« zu bezeichnen, sollte man für ebenso irreführend halten, wie gewalttätige Siedler im Westjordanland »proisraelisch« zu nennen. Doch es ist die klare und vielfach offen geäußerte Implikation all der Demonstranten, der Aufsätze, der Kaskade von Stellungnahmen und offenen Briefen, dass die Anschläge vom 7. Oktober und das palästinensische nationale Projekt dasselbe sind. Warum sonst wiederholen so viele Demonstranten das Programm der Hamas so lautstark? (An meiner eigenen Universität, wie ich mit großer Scham berichte: »Wir wollen keine zwei Staaten, wir wollen alles.«) Selbst unter denjenigen, die sich niemals mit einer Terrorgruppe verbünden würden, gibt es nur eine oberflächliche – und manchmal gar keine – Verurteilung der Mörder, an deren Stelle eine Missbilligung des angeblich rassistisch-im­perialistischen Projekts des Zionismus tritt und ein vorschnelles Umschwenken auf die sogenannte »eigentliche Ursache« der Gewalt der Hamas.

Warum die euphemistische Sprache, als ob die Linke zu zart wäre, um den Gräueltaten ins Gesicht zu sehen? An der Columbia University bezeichneten 130 Professoren, darunter prominente Wissenschaftler, die Massaker als »Militäroperation«, was leider an Wladimir Putins Beschreibung seiner Invasion in der Ukraine als »spezielle Militäroperation« denken lässt. (Der 7. Oktober war auch etwas recht Spezielles.) In der New York Review of Books beschrieben einige der angesehensten Schriftsteller unseres Landes, darunter Ta-Nehisi Coates und Richard Ford – die sicherlich den Unterschied kennen zwischen einer Sprache, die verdeutlicht, und einer Sprache, die verdeckt – den mörderischen Amoklauf auf seltsame Weise: »Am Samstag, nach 16 Jahren Belagerung, brachen Hamas-Kämpfer aus dem Gaza-Streifen aus.

»Jewish Lives Matter« ist kein Schlachtruf in der Linken

Warum die feige Unfähigkeit, der Grausamkeit ins Auge zu sehen – die mit scharfen Gegenständen ermordeten Säuglinge, die Köpfe ohne Körper und umgekehrt, die Terrorisierung von Kindern, die nackt ausgezogenen und aus nächster Nähe erschossenen Frauen, die Verbrennung ganzer Familien, die Verstümmelungen, die Folterungen und vielleicht am meisten das jubilierende Lachen der Mörder, als sie ihre Aufgabe erfüllt hatten? Briefe (Artforum.com, Writers against the War on Gaza und Artists for Palestine), unterzeichnet von Tausenden von Künstlern, Schriftstellern, Akademikern, Philosophen und Journalisten in den USA und in Großbritannien – Tilda Swinton! Jonathan Lethem! Nan Goldin! – haben Israel gegeißelt, ohne die Hamas-Angriffe auch nur zu erwähnen. Warum dieser verzweifelte Versuch, den 7. Oktober »verschwinden zu lassen«, als sei er bereits Geschichte – oder irrelevant? Die kleinmütigen Ausflüchte und die brezel­artigen Verrenkungen der kulturellen Elite sind ein schändlicher Anblick. »Jewish Lives Matter« ist eindeutig kein Schlachtruf für viele in der heutigen Linken.

1979 erlebten Linke, die die iranische Revolution unterstützten, ein böses Erwachen, als die Mullahs an die Macht kamen und sie prompt hinrichteten, zusammen mit Säkularisten, Gewerkschaftern, Intellektuellen, Feministinnen und allen anderen, die in die äußerst dehnbare Kategorie der Konterrevolutionäre passten. Daraus ließ sich eine Lehre ziehen: Aktivisten haben die Verant­wortung zu wissen, wen und was sie unterstützen, und sich offen und entschieden von Programmen und Regimes zu distanzieren, die auf Gewalt und Unterdrückung beruhen. Auch die­jenigen, die sich einbilden, dass die Hamas mit ihrem Gemetzel für »Befreiung«, »Gerechtigkeit« und »Freiheit« für die Palästinenser eingetreten sei, wie es die Transparente proklamieren, werden eine große Überraschung erleben.

Im Gegensatz zum Iran im Jahr 1979 ist es heute kein Geheimnis, welche Art von Staat die Hamas (ein Akronym für »Islamische Widerstandsbewegung«) schaffen will; man muss sich ansehen, was sie bereits geschaffen hat. Dieses Mal kann sich niemand mehr auf Unwissenheit berufen. Im Gaza-Streifen ist von Befreiung, Gerechtigkeit oder Freiheit wenig zu sehen. Es gibt dort keine poli­tischen Oppositionsparteien, keine Wahlen und keine Religions-, Presse- oder Meinungsfreiheit. Gegner werden verhaftet, gefoltert und manchmal hingerichtet. (Yahya Sinwar, ein Leiter des bewaffneten Flügels der Hamas, war wegen seiner Brutalität gegen andere Palästinenser als »der Schlächter von Khan Yunis« bekannt.) Abtreibung und Homosexualität sind verboten (was denken sich diese Demonstranten mit »Queers for Palestine«-Schildern?); Trans-Rechte zu erwähnen, wäre unklug. Es ist legal, dass Ehemänner ihre Frauen schlagen, und sogenannte Ehrenmorde werden nicht geahndet. Die herrschende Clique ist notorisch korrupt, und obwohl die Menschen im Gaza-Streifen sehr arm sind, ist die Hamas eine sehr reiche Organisation.

»I stand with Palestine«, verkünden Demonstranten und Schriftsteller stolz, während sie die Hamas dafür loben, dass sie »ein Gefühl für die politischen Möglichkeiten wiedererweckt« und »die Stunde der Befreiung« nähergebracht habe. Aber wofür genau steht sie eigentlich? Und um welche Art von Befreiung wird es sich handeln? Abgesehen von den Taliban hat die Hamas den am wenigsten fortschrittlichen Pseudostaat der Welt errichtet. Die Lektion des Iran wurde offensichtlich nicht gelernt; die Geschichte wiederholt sich nicht als Farce, sondern als Tragödie.

Es ist viel über die Besatzung geschrieben worden; es muss noch viel mehr geschrieben werden. In keiner Weise verharmlose ich die dreister werdende, mörderische Gewalt einiger Siedler oder das Verhalten der verrückten messianischen Eiferer in der derzeitigen israelischen Regierung. Eine unabdingbare Voraussetzung für jede politische Einigung zwischen Israel und den Palästinensern ist das Ende der Netanyahu-Koalition und ihrer Ideologie sowie die Niederlage der Hamas. Aber die Hamas ist nicht gegen die Besatzung, und sie hat diese Position mehr als deutlich gemacht. Auf jeden Schritt in Richtung palästinensischer Souveränität, einschließlich des bedingungslosen Rückzugs Israels aus dem Gaza-Streifen im Jahr 2005 und der Unterzeichnung des Osloer Abkommens, hat sie mit einer Verschärfung der Gewalt reagiert, einschließlich Raketenangriffen und Selbstmordattentaten. (David Grossman führte kürzlich im New Yorker aus, dass der Rückzug aus den Siedlungen im Westjordanland fortgesetzt worden wäre, hätte die Hamas den Gaza-Streifen – wie es viele Palästinenser und Israelis gehofft hatten – in eine friedliche und wohlhabende Enklave verwandelt.)

Was die Hamas als »Besatzung« bezeichnet, ist Israel selbst, unabhängig vom Grenzverlauf. Jede politische Vereinbarung, einschließlich zweier Staaten oder sogar eines binationalen Staates, gilt ihr als Blasphemie: »­Sogenannte friedliche Lösungen und internationale Konferenzen« stehen »im Widerspruch zu den Grundsätzen der Islamischen Widerstandsbewegung«, wie ihr Gründungsdokument und ihre nachfolgenden Aktionen deutlich machen.

Die Entschlossenheit vieler westlicher Linker, dieses Programm zu ignorieren oder sich zu weigern, es als ernst gemeint zu betrachten – trotz der konsequenten Offenheit der Hamas bezüglich ihrer Ziele und Mittel –, ist ein Zeichen für intellektuellen Orientalismus.

Die Ereignisse des 7. Oktober haben Israelis aus allen politischen Lagern vor Augen geführt – und sollten es jedem vor Augen führen –, was es bedeutet, Palästina »judenrein« zu machen, wie es das Gründungsdokument der Hamas und ihre derzeitigen Führer versprechen. Der einzige Weg zur »Befreiung Palästinas vom Fluss zum Meer«, wie Tausende von Demonstranten weltweit skandieren, besteht in der Tat darin, alle dort lebenden Juden zu töten (oder bestenfalls zu vertreiben), was die Hamas auch ganz offen als ihr Hauptziel bezeichnet. (Rashida Tlaib, eine Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses, hat vor kurzem ein Video veröffentlicht, in dem sie diese Forderung unterstützt, die sie dann auf lächerliche Weise als »Aufruf zu einer … friedlichen Koexistenz« darzustellen versucht. Vielleicht stellt sie sich vor, dass den Millionen von Israelis, die aus dem Jemen, Marokko, Irak, Syrien und einer Reihe anderer arabischer Länder vertrieben wurden, das »Recht auf Rückkehr« angeboten wird.) Die Hamas legt fest, dass jeder Muslim, einschließlich der Frauen und »der Sklaven«, verpflichtet ist, sich am eschatologischen Kampf zur Säuberung Palästinas von »den Juden« zu beteiligen, die sie als die mächtigste Kraft der Welt und den größten Feind der Menschheit bezeichnet. Der 7. Oktober war die praktische Umsetzung dieses Grundsatzes.

Forderungen nach einem »gegenseitigen Waffenstillstand« sind widersinnig

Die Entschlossenheit vieler westlicher Linker, dieses Programm zu ignorieren oder sich zu weigern, es als ernst gemeint zu betrachten – trotz der konsequenten Offenheit der Hamas bezüglich ihrer Ziele und Mittel –, ist ein Zeichen für intellektuellen Orientalismus: Palästinenser werden nur als hilflose, reaktive Opfer betrachtet und nicht als Menschen, die Ideen und Handlungen entwickeln, für die sie zur Verantwortung gezogen werden können. Aber natürlich entwickeln sie politische Weltanschauungen und Programme, und die Hamas war in letzter Zeit besonders redselig bei der Erläuterung ihrer Pläne.

Erst kürzlich bekräftigte der Hamas-Führer Ghazi Hamad in einem Interview mit dem libanesischen Fernsehsender LBC, dass seine Organisation noch viele weitere Anschläge in der Art des 7. Oktober plane, bis sie Israel »vernichtet« habe; eine Woche später sagte der Hamas-Sprecher Taher al-Nounou der New York Times: »Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft sein wird.« Dies macht Forderungen nach einem »gegenseitigen Waffenstillstand«, wie Tlaib es ausdrückte, widersinnig.

In der Tat wäre ein Waffenstillstand (im Gegensatz zu einer humanitären Pause) ein völlig einseitig israelischer, was die Frage aufwirft, warum Israel seine Waffen gegen einen eindeutig eliminatorischen Feind, der mehr als 220 Geiseln hält, niederlegen sollte. Was würde am Tag nach diesem einseitigen Waffenstillstand geschehen? (Die Hamas hat seit dem 7. Oktober fast 10.000 Raketen auf Israel, einschließlich Tel Aviv, abgefeuert; im Norden führt die Hizbollah Angriffe durch; Stand 18. November 2023, Anm. d. Red.). Offenbar soll die Hamas ihre Bomben und Bombenfa­briken, Sturmgewehre, Drohnen, Granaten, Raketen und Zehntausende von Kämpfern behalten dürfen, während sie künftige Massenabschlachtungen plant. Wie dies zu einer Annäherung an den Frieden führen soll, wie die Befürworter behaupten, und nicht zu einem Krieg ad infinitum, wie die Hamas ihn verspricht, ist unverständlich. Die andere Möglichkeit ist natürlich, dass viele Tod und Zerstörung ohne Ende als genau das ansehen, was die Israelis verdient haben.

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Die Hamas erkennt die Kategorie »Zivilist« nicht an, wenn es um Israelis geht, weshalb ein hochrangiger Hamas-Sprecher dem britischen Sender Sky News freimütig sagen konnte: »Wir haben keine Zivilisten getötet.« Er hat nicht wirklich gelogen; das ist seine Sicht der Dinge. Was weniger bekannt, aber für das Verständnis der humanitären Katastrophe im Gaza-Streifen von entscheidender Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass die Organisation die Kategorie des Zivilisten auch dann nicht anerkennt, wenn es um Palästinenser geht. Wie Nathan Thrall, ehemaliger Leiter des arabisch-israelischen Projekts der International Crisis Group und notorischer Kritiker Israels im Interview mit dem New Yorker sagte, wusste die Hamas zweifellos, dass die außerordentliche Grausamkeit dieser Angriffe mit einer außerordentlich tödlichen israelischen Antwort beantwortet werden würde. »Es ist klar, dass dieser Akt der Hamas selbstmörderisch ist«, sagte Thrall am Tag nach dem Massaker. »Ich denke, dass die Angriffe praktisch garantiert den Tod von Zivilisten (in Palästina) in einem größeren Ausmaß zur Folge haben werden, als wir es bisher gesehen haben.«

Amir Tibon, ein linker Journalist, der im Kibbuz Nahal Oz lebte (wo 14 Menschen getötet und fünf entführt wurden), schrieb in Haaretz, dass die Hamas am 7. Oktober »wusste, dass sie die Todesurkunde von Tausenden von Gaza-Bewohnern unterzeichnet hatte. Für sie war dies ein akzeptabler Preis für das Vergnügen, meinen jugendlichen Nachbarn zu ermorden und Kinder zu entführen. Sie wussten, dass Gaza eine schreckliche, schockierende Zerstörung erleiden würde. Sie haben es trotzdem getan.« Die Hamas hat inzwischen bestätigt, was Thrall und Tibon bereits wussten: »Es war zweifellos bekannt, dass die Reaktion auf diese große Tat groß sein würde«, sagte Khalil al-Hayya, ein führender Funktionär, der Times. Tatsächlich hat die Hamas Gemetzel in Gaza – und den Hass auf Israel, den es hervorruft – schon immer als eines ihrer besten Werkzeuge angesehen. Tote palästinensische Babys und tote ­israelische Babys dienen ihren Zwecken gleichermaßen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Die Tatsache, dass dies unbegreiflich pervers ist, macht es nicht weniger wahr.

Der Preis für die Zivilisten in Gaza ist entsetzlich

Israel trägt natürlich die Verantwortung für seine Entscheidungen, einschließlich der Belagerung des Gaza-Streifens, die meiner Meinung nach moralisch falsch ist, und der Bodeninvasion, die nicht falsch ist. Auch wenn Israel diesen Krieg nicht gewollt hat, ist es verantwortlich für seine Handlungen und deren Folgen, auch für die unbeabsichtigten. Der Preis für die Zivilisten in Gaza ist entsetzlich. Doch die enorme Zahl unbewaffneter Palästinenser, die, wie die Hamas es ausdrückt, zu »Märtyrern« geworden sind, stellt für die Führung kein Problem dar: Wie das Gründungsdokument der Gruppe darlegt, ist »der Tod um Allahs willen der erhabenste aller (…) Wünsche«. Das ist keine bloße Rhetorik; als die Massaker begannen, bestand der ranghohe politische Führer Ismail Haniya darauf, dass es nur um«Sieg oder Märtyrertod« gehe. Einfache Palästinenser, die keinen Einfluss auf die Angriffe hatten, sehen das vielleicht anders. Sie sind fassungslos und erschrocken über die Wut der israelischen Reaktion.

Selbst als sich die Leichen schon stapelten, blieb die Hamas unbesorgt; erst kürzlich wischte Hamad die zivilen Opfer beiseite, indem er im Interview mit LBC verkündete: »Wir werden eine Nation von Märtyrern genannt, und wir sind stolz darauf, Märtyrer zu opfern.« Moussa Abu Marzook, ein weiterer Sprecher, besteht in einem Interview mit dem arabischsprachigen Sender von Russia Today darauf, dass die Gruppe keine Verantwortung für das Schicksal oder das Wohlergehen von Zivilisten im Gaza-Streifen trage, und räumt ein, dass ihr ausgedehntes Netz unterir­discher Tunnel dem Schutz der Hamas-Kämpfer und nicht der Zivilisten dient. (Im Gegensatz zu den »Märtyrern«, darunter auch Kinder, die die Hamas voller Stolz opfert, sind ihre Kämpfer im Untergrund sicher, wo sie Vorräte an Lebensmitteln, Treibstoff, Medizin und natürlich Waffen horten. Ein Großteil der Führungsriege lebt jedoch im Luxus in Doha, Teheran und anderen Städten.) Das Begehren der Hamas nach toten Gaza-Bewohnern war noch nie so offensichtlich wie in diesem Krieg. Sie hat sich den internationalen Forderungen nach einem humanitären Korridor nicht angeschlossen und weigert sich, die entführten Geiseln freizulassen, was die Voraussetzung für die Beendigung der Belagerung wäre.

Es gibt und gab schon immer eine andere Tradition, ein anderes Verständnis davon, was es bedeutet, »progressiv« zu sein und sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Im Jahr 2011 veröffentlichte Fred Halliday auf der Plattform Open Democracy einen Aufsatz mit dem Titel »Terrorism in Historical Perspective« (Terrorismus in historischer Perspektive). Es ist das intellektuell und moralisch klarsichtigste Werk zu diesem Thema, das ich kenne. Halliday wandte sich an seine linken Genossen und brachte ein entscheidendes Argument vor: Jede Bewegung, die den Anspruch erhebt, ein unterdrücktes Volk zu vertreten, muss ethisch handeln, auch wenn sie nicht an der Macht ist und sich selbst als schwach empfindet.

Sexuelle Folter kann nicht antiimperialistisch sein – und sie ist auch keine verständliche, geschweige denn unvermeidliche Reaktion auf Unterdrückung. Ein eliminatorisches Programm ist keine Freiheitscharta.

Unterdrückung ist kein Freibrief dafür, Köpfe von Körpern abzutrennen, Hunderte junger Festivalbesucher zu erschießen, Menschen totzuschlagen, Kinder vor den Augen ihrer Eltern zu ermorden und umgekehrt, nackte Frauen aus nächster Nähe zu töten und Babys und alte Menschen zu entführen; es gibt kein Universum, in dem dies revolutionäre, emanzipatorische oder antikolonialistische Taten sind, und schon gar nicht »schöne«. Sadismus und Gewalt sind nicht synonym. Sexuelle Folter kann nicht antiimperialistisch sein – und sie ist auch keine verständliche, geschweige denn unvermeidliche Reaktion auf Unterdrückung. Ein eliminatorisches Programm ist keine Freiheitscharta. Die Geschichte hat immer wieder bewiesen, dass Terroristen und Freiheitskämpfer nicht dasselbe sind, weshalb Erstere nie etwas erreichen, das auch nur annähernd Befreiung oder Gerechtigkeit bedeutet. Es gibt keinen Platz für ein »Ja, aber«. Warum ist das, wenn es um den Tod von Israelis geht, so schwer zu verstehen?

Die Linke des humanen Universalismus ist in der Versenkung verschwunden

Die Reaktion der westlichen Linken auf den 7. Oktober wird man, so glaube ich, als einen Moment moralischer Korruption ansehen, der sich mit der Verteidigung von Stalins Säuberungen, der antisemitischen Schauprozesse in der Tschechoslowakei 1952, der sowjetischen Invasionen in Ungarn und der Tschechoslowakei und der antisemitischen Vertreibungen in Polen 1968 sowie der Leugnung des Völkermords der Roten Khmer (siehe unter: Chomsky, Noam) und der Bewunderung für Chinas bösartige Kulturrevolution messen kann. Seit dem 7. Oktober gibt es eine Handvoll liberaler und linker Autoren, die mutig und ehrlich geschrieben haben: Jonathan Freedland und Howard Jacobson im Guardian, Michael Walzer im Atlantic; Michelle Goldberg in der New York Times, Alan Johnson und Cary Nelson in Fathom, Seyla Benhabib auf Medium. Doch sie sind leider Ausnahmen. Die Linke von Halliday – die Linke des humanen Universalismus und nicht des Antiimperialismus – ist in der Versenkung verschwunden, ebenso wie die von Memmi.

Außer in Israel. Irgendwie hat diese Nation völkermörderischer, weißer, faschistischer Siedlerkolonialisten eine Linke hervorgebracht, die immer noch an den traditionellen Prinzipien der universalistischen Würde und Gleichheit festhält und die nicht zu zimperlich ist, den Terrorismus als das zu erkennen, was er ist. Sie lehnt den manichäischen Reduktionismus ab – etwas, das sie sich nicht leisten kann – und kann daher mehr als einen Gedanken auf einmal haben. Sie weiß, dass Israel ein mächtiges Land ist und dass es von seinen Feinden existentiell bedroht wird. Sie weiß, dass es Verursacher der Besatzung und Opfer des Terrorismus ist. Sie weiß, dass man die Art und Weise, in der die Regierung Netanyahu den Krieg führt, ablehnen und gleichzeitig bekennen kann, dass ein Krieg geführt werden muss. Sie weiß, dass der Sieg über die Hamas und der Sieg über die fanatischen Ultranationalisten in ihrer Mitte – und in ihrer Regierung – nicht nur zusammenhängen, sondern gänzlich voneinander abhängig sind. Sie lehnt das Konzept der Kollektivschuld ab, sei es von Israelis oder Palästinensern. Sie hat eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Antisemitismus ist. Sie versteht notwendigerweise Tragödien. Ihr Ton ist nüchtern und nicht theatralisch. Dies sind die Menschen, die mehr für die Verteidigung der palästinensischen Rechte und die Förderung der palästinensischen Souveränität getan haben als alle selbstherr­lichen Dekolonialisten, Boykotteure und Antiimperialisten des Westens zusammen.

Michael Sfard ist einer der wichtigsten israelischen Menschenrechtsanwälte; er hat sein Leben damit verbracht, die Rechte der Palästinenser innerhalb und außerhalb der Gerichtssäle zu verteidigen. Vor kurzem hat er Israels politische Reaktion auf den 7. Oktober auf das Schärfste verurteilt:
»Israel ist heute ein Land und eine Gesellschaft, in der (…) Gesetzgeber der Regierungspartei offen und schamlos zu einer ›zweiten Nakba aufrufen, in dem der Verteidigungsminister anordnet, Millionen von ­Zivilisten Wasser, Lebensmittel und Treibstoff zu verweigern, ein Land, dessen Präsident Isaac Herzog, Israels gemäßigtes Gesicht, sagt, dass alle Bewohner Gazas für die Verbrechen der Hamas verantwortlich seien. Wenn die politische und militärische Führung jegliche Zurückhaltung verliert und Ideen über einen massiven Schlag gegen die Zivilbevölkerung gutheißt, schaffen wir eine Gesellschaft, in der der Prozess abgeschlossen ist, in dem die Menschen auf der anderen Seite ihrer Menschlichkeit beraubt werden. Und wenn das passiert, ist das Inferno nicht mehr weit.«

Aber er wandte sich auch an seine (vermeintlichen) Verbündeten:

»Nicht weit von uns, auf ihrem eigenen Weg zum Schwarzen Loch, schweben diejenigen, die sich als Mitglieder der ›progressiven Linken‹ bezeichnen. Es fällt ihnen schwer, ohne Zögern – und ohne in den ›Kontext‹ zu flüchten – eine satanische Orgie der Zerstörung ziviler israelischer Gemeinden in der Nähe des Gaza-Streifens mitsamt ihren Bewohnern zu verurteilen. Einige plappern sogar davon, dass die Entkolonialisierung ein hässlicher Prozess sei; so sei es zum Beispiel in Algerien und Kenia gewesen.

Ich lese das und vergehe vor Scham. Vielleicht haben Sie es nicht verstanden, aber der Kampf für die Beendigung der Besatzung und für die Unabhängigkeit des palästinensischen Volkes ist Teil des universellen Kampfs für die Verteidigung der Menschenrechte aller Menschen, nicht andersherum. Der Gedanke der Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, der edle Gedanke, dass jeder Mensch Grundrechte hat, die nicht untergraben werden dürfen, ist kein Instrument zur Durchsetzung der palästinensischen Unabhängigkeit, sondern umgekehrt.«

Die westliche Linke, die es sich in den sicheren, wohlhabenden Städten der liberalen Demokratien gutgehen lässt, lebt in einer ganz anderen Welt als der, die Michael Sfard bewohnt. Ihr moralischer Verfall mag plötzlich deutlich geworden sein, aber ein ethischer Zusammenbruch braucht Zeit, um sich zu entwickeln. Der 7. Oktober hat die lange schwelende theoretische Verwirrung und die moralische Leere offenbart, die in vielen der heutigen »progressiven« Bewegungen vorherrschen. Eine Linke, die auf »Entkolonialisierung« fixiert ist, verwechselt einen Todeskult mit einer Befreiungsbewegung und ist nicht in der Lage, ein Blutbad zu erkennen, selbst wenn es von den Mördern selbst gefilmt und weltweit publik gemacht worden ist. Eine Linke, die zu Recht die absolute Verurteilung der weiß-nationalistischen Vorherrschaft fordert, weigert sich, sich von der islamistischen Vorherrschaft zu distanzieren. Eine Linke, die die Welt in Rassisten und Antirassisten einteilt und von »Menschen, die wie ich aussehen«, besessen ist, kann nicht verstehen, dass der Zusammenprall zweier nationaler Bewegungen nichts mit Hautfarbe oder Rasse zu tun hat.

»Ich habe zehn Juden mit meinen eigenen Händen getötet«, jubelte ein Hamas-Terrorist

Eine Linke, die die Vielfalt feiert, verunglimpft eines der kulturell und ethnisch vielfältigsten Länder der Welt. Eine Linke, die sich damit brüstet, Flüchtlinge zu verteidigen, verunglimpft eine Nation, die fast ausschließlich von Flüchtlingen gegründet wurde – die zu den Verelendetsten und Meistverfolgten in der Geschichte gehören – als »Siedler­kolonialismus«. Eine Linke, die die Welt aufteilt in edle »einheimische« Völker und die Fremden, die sie verschmutzen, reproduziert die neofaschistische Weltsicht der extremen Rechten, von Donald Trump bis Ma­rine Le Pen. Eine Linke, die die Intersektionalität lobt, hat nicht bemerkt, dass die Achse der Hamas-Unterstützer aus dem Iran besteht, der zuletzt durch die Ermordung hunderter Demonstranten, die die Freiheit der Frauen forderten, berühmt wurde, aus der mörderischen Diktatur von Bashar al-Assad und aus der Hizbollah, einer weiteren fundamentalistischen islamischen Gruppe, die sich der Zerstörung Israels verschrieben hat und die libanesische Mitbürger, die sich ihr widersetzen, terrorisiert und bisweilen ermordet. Was für eine Linke lässt sich mit solchen Kräften ein? Sie hat auch nicht bemerkt, dass der IS und al-Qaida seit dem 7. Oktober die Muslime dazu aufrufen, in Solidarität mit der Hamas weltweit »Operationen gegen die Juden« zu verstärken.

Eine Linke, die auf »Entkolonialisierung« fixiert ist, verwechselt einen Todeskult mit einer Befreiungsbewegung und ist nicht in der Lage, ein Blutbad zu erkennen, selbst wenn es von den Mördern selbst gefilmt und weltweit publik gemacht worden ist.

Und so stellt sich wie immer die ewig quälende jüdische Frage, auch wenn viele in der Linken zu glauben scheinen, sie sei bereits beantwortet. Eine Linke, die Jahre damit verbracht und massenweise Tinte dafür vergossen hat, weitschweifig darauf zu bestehen, dass Antizionismus nicht in Antisemitismus umschlagen kann, ist nicht in der Lage, eine Miliz von erklärten Judenmördern zu erkennen, geschweige denn klar zu verurteilen. Eine Linke, die in jedem Winkel – und in jedem (weißen) Herzen – systemischen Rassismus sieht, kann den systemischen Antisemitismus nicht erkennen, der zu Massenmord führt. »Ich habe zehn Juden mit meinen eigenen Händen getötet«, jubelte ein Hamas-Terrorist, als er inmitten des Massakers vom 7. Oktober seine Eltern anrief, um ihnen die gute Nachricht zu überbringen und Fotos als Beweis zu schicken. Dieser Ausruf – sowohl der moderne als auch der uralte – muss auch als Ursache für den 7. Oktober erkannt werden; auch das ist ein wesentlicher Teil seines »Kontextes«.

Individuell und kollektiv haben israelische Linke ihr Bedauern, ihren Schock und ihre Wut über den Verrat der westlichen Linken zum Ausdruck gebracht. Vor allem aber haben sie versucht, ihre vermeintlichen Genossen darüber aufzuklären, wie eine echte linke Antwort – sowohl auf die Besatzung als auch auf den 7. Oktober – aussehen muss. Eine auf Mediapart veröffentlichte Gruppenerklärung, die von einigen der prominentesten Intellektuellen Israels unterzeichnet wurde, besagte unter anderem:

»Viele unserer Kollegen auf der ganzen Welt haben sich entschieden gegen den Angriff der Hamas ausgesprochen und den Opfern unmissverständlich ihre Unterstützung angeboten. Auch prominente Stimmen in der arabischen Welt haben deutlich gemacht, dass es keine Rechtfertigung für sadistische Morde an unschuldigen Menschen gibt. Zu unserer Bestürzung haben jedoch einige Elemente innerhalb der globalen Linken, Personen, die bisher unsere politischen Partner waren, mit Gleichgültigkeit auf diese schrecklichen Ereignisse reagiert und manchmal sogar die Aktionen der Hamas gerechtfertigt. (…) Und es gibt sogar diejenigen – keine geringe Zahl –, für die der dunkelste Tag in der Geschichte unserer Gesellschaft ein Grund zum Feiern war.
Diese Vielfalt an Reaktionen hat uns überrascht. Wir hätten nie gedacht, dass Menschen, die der Linken angehören und die für Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt eintreten, eine so extreme moralische Gefühllosigkeit und politische Rücksichtslosigkeit an den Tag legen würden. (…) Wir betonen: Es gibt keinen Widerspruch zwischen der entschiedenen Ablehnung der ­israelischen Unterdrückung und Besetzung der Palästinenser und der unmissverständlichen Verurteilung brutaler Gewaltakte gegen unschuldige Zivilisten. In der Tat muss jede konsequente Linke beide Positionen gleichzeitig vertreten.«

»Die globale Linke hat sich selbst von nun an überflüssig gemacht.«

Die Soziologin Eva Illouz äußerte sich sogar noch unverblümter. Sie schloss kürzlich einen Artikel in Haaretz mit dieser Abschiedsbemerkung:
»Viele Araber, innerhalb und außerhalb Israels, haben das Mitgefühl gezeigt, das der doktrinären Linken so schockierend gefehlt hat. Sie haben an unserer Seite gestanden. Sie sind es, mit denen wir eine Partei der Menschlichkeit aufbauen müssen, die entschlossen ist, Gerechtigkeit und Frieden zu schaffen. Die globale Linke hat sich selbst von nun an überflüssig gemacht.«

Die Linke in Israel versteht im Gegensatz zur weltweiten Linken, dass die Hamas beseitigt und nicht beschwichtigt werden muss. »Ein Land, das nicht die Leute tötet, die versucht haben, meine Töchter zu ermorden, und diejenigen, die sie geschickt haben, hat seine Existenzberechtigung verloren«, schrieb Tibon. Die Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen muss so weit wie möglich geschützt werden, aber dass die Hamas Kämpfer und Waffen in der Zivilbevölkerung und an zivilen Orten versteckt hält, garantiert, dass der Krieg äußerst hässlich sein wird.

Nach dem Krieg werden neue politische Verhältnisse entstehen, aber nur ein Narr würde vorhersagen, wie diese aussehen werden. (Eines ist klar: Die politischen Führungen beider Bevölkerungen haben diese und einander ins Verderben geführt.) Der 7. Oktober, schrieb Tibon, »hat nichts an meiner Überzeugung geändert, die auf einer kalten, kalkulierten Lesart der Realität beruht, dass wir auf lange Sicht Wege finden müssen, dieses Land zu teilen. (…) Aber zuerst müssen wir überleben.« Es ist offensichtlich geworden, dass es viele Linke gibt, die diesen letzten Satz bestreiten.

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Susie Linfield

Susie Linfield

Bild:
nyihumanities.org

Susie Linfield ist außerordentliche Professorin am Arthur L. Carter Journalism Institute der New York University und leitet das Programm Cultural Reporting and Criticism. Zuvor war sie Kunst­redakteurin der »Washington Post«, Chefredakteurin von »American Film« und stellvertretende Redakteurin von »Village Voice«. 2010 erschien ihr vielbeachtetes Buch »The Cruel Radiance: Photography and Political Violence«, das sich mit dem Zusammenhang zwischen Fotojournalismus und der Durchsetzung von Menschenrechtsidealen beschäftigt. In ihrem 2019 veröffentlichten Buch »The Lions’ Den: Zionism and the Left from Hannah Arendt to Noam Chomsky« spürt sie den Wurzeln linker Kritik an Israel nach.

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Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Verlags aus: »Quillette«, 18. November 2023

An einigen Stellen wurden zeitliche ­Bestimmungen wie »vor einer Woche« durch die unbestimmte Angabe »­kürzlich« ersetzt.

Übersetzung: Heike Karen Runge und Oliver Schott mit Deepl