Die Serie »Expats« fragt nach der Verantwortung, die man für sich und andere hat

Verloren im Temporären

Lulu Wangs Serie »Expats« leuchtet einen Mikrokosmos weiblicher Passivität aus, der durch einen tragischen Vorfall aufgebrochen wird.

In ihrem mehrfach ausgezeichneten Film »The Farewell« (2019) bewies die US-amerikanische Filmemacherin Lulu Wang ein bemerkenswertes Feingefühl für die Darstellung unterschiedlicher Perspektiven innerhalb einer chinesisch-amerikanischen Großfamilie, in der unterschiedliche kulturelle Traditionen aufeinandertreffen: Um sich von der unheilbar erkrankten Großmutter zu verabschieden, versammeln sich die in die USA ausgewanderten Verwandten in der chinesischen Heimat der geliebten Omi – diese allerdings weiß gar nichts von ihrer tödlichen Erkrankung und soll nach dem Willen der Familie auch besser gar nichts davon erfahren. In dem autobiographisch grundierten Film geraten hergebrachte Vorstellungen von Gut und Böse, vom richtigen und falschen Leben ebenso in Widerstreit wie Fragen nach Verantwortung, Aufrichtigkeit und Wahrheit.

Der Abschied von festgefügten Vorstellungen von Gut und Böse, Schuld und Unschuld und, damit verbunden, das Aushalten von Konflikten, sind auch Thema in Wangs Seriendebüt »Expats«. Aus dem Off berichtet Mercy (Ji-young Yoo), worum es in dieser Geschichte gehen wird: um Menschen, die eine Tragödie verursachen. Um Menschen wie sie selbst.

Die am 26. Januar auf Amazon Prime angelaufene sechsteilige Miniserie, basiert auf dem 2016 erschienenen Roman »The Expatriates« von der in Hongkong geborenen und in den USA lebenden Schriftstellerin Janice Y. K. Lee. Nicole Kidman und ihre Produktionsfirma Blossom Films sicherten sich die Rechte daran bereits 2017. »Expats« erzählt die Geschichten dreier aus den USA nach Hongkong gekommener Frauen, der expa­triates, deren Biographien durch einen tragischen Vorfall miteinander verbunden werden.

»Expats« ist eine klassische Dramaserie, die tief in die freudlose Welt der Neobourgeoisie eintaucht: in verwinkelte und leere Parkhäuser, in bedrohlich wirkende Hochhausschluchten und in riesige Luxusapartments, in denen die Hausangestellten in spärlich beleuchteten Räumen die Arbeit verrichten.

Ähnlich wie in »The Farewell« spielen Themen wie Zugehörigkeit, Entwurzelung, Rollenerwartungen und vor allem Verlust eine große Rolle. Schwang aber bei »The Farewell« ein komödiantischer Unterton mit, für den insbesondere die US-Rapperin Awkwafina in der Rolle der Enkelin Billie sorgte, so ist »Expats« eine klassische Dramaserie, die tief in die freudlose Welt der Neobourgeoisie eintaucht: in verwinkelte und leere Parkhäuser, in bedrohlich wirkende Hochhausschluchten und in riesige Luxusapartments, in denen die Hausangestellten in spärlich beleuchteten Räumen die Arbeit verrichten, während sich die reichen Bewohnerinnen in Traurigkeit ergehen. Dass der Fokus dabei auf dem Gefühlsleben der weißen, wohlhabenden Frauen liegt, hat Lulu Wang viel Kritik eingebracht.

Da ist die von Nicole Kidman gespielte Landschaftsarchitektin Margaret, Mutter dreier Kinder, die für ihren Mann Clarke Woo (Brian Tee) aus New York nach Hongkong mitgekommen ist, der dort eine Stelle erhalten hat. Margaret hat ihre Arbeit aufgegeben und lebt mit ihrer Familie in einem luxuriösen Wohnkomplex. Keine Einkaufsfahrt, kein Handgriff muss hier selbst erledigt werden. Die Familie hat einen privaten Chauffeur und die philippinische Haushälterin Essie (Ruby Ruiz) versorgt die Zugezogenen rund um die Uhr. Im Luxusapartment nebenan wohnt Hilary (Sarayu Blue) mit ihrem alkoholabhängigen Mann David (Jack Huston), der unbedingt Vater werden will, obgleich seine Ehefrau niemals vorhatte, Mutter zu werden.

Margaret (Nicole Kidman)

Margaret (Nicole Kidman)

Bild:
Amazon Prime

Und schließlich gibt es noch Mercy, die amerikanisch-koreanische Columbia-Absolventin, die dank herausragender Leistungen an einer US-Eliteuniversität studieren konnte und in der Hongkonger Gig Economy ihr Geld verdient. Sie erzählt die Geschichte und glaubt, sie sei dazu verdammt, für immer allein zu bleiben. Mit ihren gerade mal 24 Jahren ist sie aus den USA für einen Neuanfang nach Hongkong gekommen. Im Gegensatz zu Margaret und Hilary gehört sie nicht der Oberschicht an, wohnt in keinem luxuriösen Apartment, sondern hofft nach einer zufälligen Begegnung mit Margaret, für die Familie als Babysitterin arbeiten zu können.

Doch es kommt anders. Als Mercy mit Margaret und ihren Kindern auf einem trubeligen und überfüllten Nachtmarkt in der Stadt unterwegs ist, ändert sich durch einen tragischen Vorfall alles. Schlagartig geraten nicht nur Margaret und Mercy aus der Bahn, auch Hilary verliert die Kontrolle über ihr Leben.

»Expats« beginnt in medias res, inmitten einer Zeit der Verzweiflung. Die Erzählung springt hin und her, erst allmählich fügen sich die Puzzleteile der Geschichte zusammen.

Noch bevor Lulu Wang damit begann, Kurzfilme zu drehen, und lange vor ihrem ersten Langfilm »Posthumous« (2014) konzipierte sie Videos für Gerichtsverhandlungen. Dabei recherchierte Wang, inwiefern traumatische Erfahrungen den Alltag und das Leben der Betroffenen einschränken. Auch in »Expats« zeigt Wang auf, wie die erlittenen Verletzungen die Frauen beeinflussen – und wie diese sich von ihnen bestimmen lassen.

»Expats« legt wie ein Gerichtsfilm einen Fall dar. Es gibt einen Überblick über die Geschehnisse, drei Geschichten, die sich kreuzen, es gibt ein Unglück, aber keine eindeutig schuldige Person – und genauso wenig gibt es Unschuldige. Der Film präsentiert eine Verkettung von Umständen, in denen sich die Frauen gefangen fühlen. Aber weniger durch das furchtbare Ereignis selbst als durch das verzweifelte Festhalten an der Vergangenheit und dem Wunsch, Geschehenes zu korrigieren, verbauen sie sich die Zukunft.

In Nahaufnahmen zeigt Wang den Schmerz auf den Gesichtern der Frauen, die alle Kraft darauf verwenden, den schönen Schein zu wahren, und sich weigern, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren.

In Nahaufnahmen zeigt Wang den Schmerz auf den Gesichtern der Frauen, die alle Kraft darauf verwenden, den schönen Schein zu wahren, und sich weigern, unbequeme Wahrheiten zu akzeptieren. Es ist eine Haltung, die Margaret nicht erst durch das Unglück in jener Nacht eingenommen hat. Sie lebt als reiche Hausfrau, wehrt sich aber dagegen, als solche wahrgenommen zu werden. Ständig betont sie, dass ihre Hausangestellte Essie eine Freundin sei und zur Familie gehöre. Margaret verschleiert dadurch, dass die philippinische Arbeitsmigrantin ökonomisch von ihr abhängig ist.

Auf subtile Weise zeigt sich zudem ein alles andere als freundschaftlicher Umgang mit Essie. Margaret sieht in der innigen Beziehung zwischen Essie und ihrem jüngsten Sohn Gus ihre Mutterrolle angetastet, was dazu führt, dass sie Essie affektiv abstraft.

Margaret (Nicole Kidman) und Clarke (Brian Tee)

Margaret (Nicole Kidman) und Clarke (Brian Tee)

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Auch Hilary und Mercy verweigern sich der Realität. Hilary, indem sie es nicht schafft, sich klar gegen eine Schwangerschaft und die Erwartungen ihres Mannes auszusprechen, aus Angst vor dem Zerfall der Beziehung. Und Mercy will Teil der Oberschicht sein, zu der sie, so sehr sie sich auch verbiegen mag und wie herausragend ihre Leistungen auch sein mögen, niemals gehören wird.

Die Protagonistinnen verweigern sich der Konfrontation mit dem Schmerz, indem sie sich selbst einreden, ihre Situation sei nur temporär. »Das ist nicht das wahre Leben«, sagt Margaret lächelnd zu ihrem Mann. Wang zeichnet ihre Protagonistinnen als komplexe Charaktere, die nicht wahrhaben wollen, dass das Leben auf schmerzhafte Weise anders verläuft, als sie es sich vorgestellt haben. Sie wollen sich nicht von einer bestimmten Vorstellung von der Zukunft lösen. Das macht sie allzu menschlich – und die Serie äußerst sehenswert.

»Expats« kann bei Amazon Prime ­gestreamt werden.