Schulische Förderprogramme gehen an den eigentlichen Problemen vorbei

Deutschland ist keine Bildungsrepublik

Die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss stagniert in Deutschland auf hohem Niveau. Ein neues Förderprogramm soll Abhilfe schaffen. Eine Fixierung auf die Abschlussrate verschleiert allerdings die eigentlichen Probleme.

Egal ob Sohn einer türkischen Reinigungskraft oder Tochter eines Professors – jeder Schüler sollte die gleichen Bildungschancen haben. Bereits 2001 warnte die Pisa-Studie davor, dass in kaum einem Industrieland der Bildungserfolg der Kinder so stark von der sozialen Lage der Familie abhängt wie in Deutschland. Acht Jahre später rief die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die »Bildungsrepublik Deutschland« aus, um das Problem anzugehen. Viel geändert hat sich seitdem nicht, wie der »Chancenmonitor 2023« verdeutlichte.

Zeit also für einen neuen Anlauf: Das Programm »Startchancen« soll die Trendwende schaffen. Ab dem Schuljahr 2024/2025 stellen Bund und Länder jährlich je eine Milliarde Euro für rund 4.000 Schulen, also ein Zehntel aller deutschen Schulen, zur Verfügung. Eine Laufzeit von zehn Jahren ist geplant. Bereits im Koalitionsvertrag hieß es dazu: »Mit dem neuen Programm Startchancen wollen wir Kindern und Jugendlichen bessere Bildungschancen unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern ermöglichen.«

Die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, fordert die Verfünffachung der Mittel, damit mindestens die Hälfte der Schulen mit dem Programm »Startchancen« erreicht werden.

Die Schulen sollen bundesweit nach einheitlichen Kriterien ausgewählt werden, die Armut und Migration berücksichtigen. Ziel ist es, die Kompetenzen im Lesen, Schreiben und Rechnen zu steigern sowie die Abbrecherquote zu senken. Der SPD ist das zu wenig. Im Handelsblatt forderte die Co-Vorsitzende der Partei, Saskia Esken, die Verfünffachung der Mittel, damit mindestens die Hälfte der Schulen mit dem Programm erreicht werden.

Anstrengungen für eine gerechtere Bildungspolitik sind freilich zu begrüßen. Fraglich ist jedoch, ob die Ursachen der Bildungsmisere schlicht mit mehr Geld behoben werden können. Ein konkretes Beispiel zeigt, dass die Probleme komplexer sind. An einer Stadtteilschule in einem weniger gut betuchten Stadtteil im Hamburger Westen lässt sich aufzeigen, dass die soziale Segregation schon weit fortgeschritten ist.

»Im kommenden Jahrgang 5 sind jetzt schon mehr als 30 Kinder mit Förderbedarf im emotional-sozialen Bereich gemeldet«, berichtet Steffi M. (voller Name der Redaktion bekannt) der Jungle World. Ihre Stadtteilschule hat einen sehr niedrigen Sozialindex. Einen solchen erhebt die Hansestadt seit 1996, er soll die sozioökonomische Zusammensetzung der Schülerschaft anzeigen. Je nach Einstufung sind die Klassen kleiner und die Schulen erhalten mehr oder weniger finanzielle Zuwendungen.

Der Ansatz wurde viel gelobt, schließlich erhält eine Stadtteilschule in schwieriger Lage mehr Mittel als das Elitegymnasium im Stadtteil nebenan. Doch an der sozialen Segregation ändert der Index nichts.

An der Schule von Steffi M. finden sich nämlich so gut wie keine Kinder »aus gutem Hause« ein. »Die Gewaltvorfälle an unserer Schule nehmen seit Jahren zu. In einigen Klassen ist an regulären Unterricht nicht zu denken. Vertretungsunterricht ist fast nicht mehr durchführbar«, erzählt die Pädagogin, die ihren Beruf trotz allem liebt. Viele Kinder kämen ohne Pausenbrot in die Schule. Ein hoher Prozentsatz der Familien lebe von staatlichen Transferleistungen. Auf das Startchancen-Programm freut sich die 53jährige, betont aber auch: »Es gab schon viele Programme.«

Die Schule tue alles dafür, dass die Kinder den Hauptschulabschluss erreichen. Wer es nach der 9. Klasse nicht schaffe, erhalte ihn spätestens in der Praxisklasse im Jahrgang 10. »Letztendlich schaffen fast nur Schüler mit Behinderung den Abschluss nicht«, so Steffi M.

Gegen vereinzelte Versuche, eine Schule für alle zu etablieren, läuft regelmäßig das Bürgertum Sturm, das auf Gymnasien besteht, damit der privilegierte Nachwuchs unter sich bleiben kann. Der Rest der Gesellschaft kann einem dann egal sein.

Selbst mit rudimentären Kenntnissen in Deutsch und Mathe oder eben einem höheren Praxisanteil erreiche man den Abschluss. Dennoch ist es in Hamburg insgesamt nicht gelungen, den Anteil der Schüler ohne Abschluss zu halbieren. Allerdings fließen in diese Statistik auch Förderschulen mit ein, an denen man oftmals lediglich ein Abgangszeugnis erwerben kann, das nicht als Hauptschulabschluss zählt.

Das muss aber kein Problem darstellen. Ohne Abschluss hat man im nachschulischen Bildungssystem in Deutschland Anrecht auf berufsvorbereitende oder Reha-Maßnahmen. Die Probleme sind mitunter andere. Sie liegen etwa in der Trennung der verschiedenen Schulformen, die seit Ende des Zweiten Weltkrieges politisch nie wirklich hinterfragt wurde. Gegen vereinzelte Versuche, eine Schule für alle zu etablieren, läuft regelmäßig das Bürgertum Sturm, das auf Gymnasien besteht, damit der privilegierte Nachwuchs unter sich bleiben kann. Der Rest der Gesellschaft kann einem dann egal sein.

Doch die soziale Segregation zeigt sich ebenso im direkten Vergleich verschiedener Gymnasien miteinander. Denn der Stadtteil bestimmt die Zusammensetzung der Schülerschaft. Wenn dieser von Armut geprägt ist, betrifft das also auch die dortige Schule. Das soziale Konfliktpotential, die diese Segregation erzeugt, sollte nicht missachtet werden.