Die RAF lag falsch, aber ihre Mitglieder hatten Mut zur Konsequenz

Der Staat und seine Bauchrednerpuppen

Die Bundesrepublik macht Jagd auf RAF-Rentner. Zwar sind Praxis und Theorie der »Roten Armee Fraktion« aus einer emanzipatorischen Perspektive abzulehnen, dennoch hat die Organisation verdeutlicht, dass die Verhältnisse der BRD weniger stabil waren, als sie schienen.
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Der Rechtsstaat lässt selbst nach Jahrzehnten nicht locker. Nach 30 Jahren intensiver Zielfahndung wurde die 65jährige Daniela Klette am 26. Februar in Berlin-Kreuzberg festgenommen. Der vermeintlichen »Topterroristin« werden mehrere Raubüberfälle und die Beteiligung an Anschlägen der RAF vorgeworfen. Bereits vor 26 Jahren hat sich die RAF aufgelöst. Dennoch steht die RAF Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zufolge »bis heute beispiellos für die Gefahren des Linksextremismus und Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland«. Triumphierend drohte Faeser: »Niemand sollte sich im Untergrund sicher fühlen.«

Wenn der Staat und seine Bauchrednerpuppen einen Sieg über die längst aufgelöste RAF feiern, gerät man schnell in eine unbequeme und ambivalente Position. Schließlich war die Gruppe Teil einer linken Strömung, an der nicht besonders viel emanzipatorisch war. Denn deren deutscher Antiimperialismus war eben genau das: sehr deutsch. Er war mehr antiamerikanisch, antizionistisch und autoritär als proletarisch-klassenkämpferisch. Anderseits, es wäre unfair und schlicht falsch, die RAF darauf zu reduzieren.

Sobald ein gesuchtes RAF-Mitglied festgenommen oder erschossen wurde, wurde das zugehörige Porträtfoto auf dem Plakat mit Kugelschreiber als »Erledigt« durchgestrichen. Gerade dieses Durchstreichen von Hand, zumeist von irgendeinem Amts- oder Behördenleiter, gab der ganzen Sache ein interaktives Moment.

Wer im alten Westdeutschland oder Westberlin aufgewachsen ist, mag sich noch an die Fahndungsplakate erinnern, die in allen Behörden aushingen. Sobald ein gesuchtes RAF-Mitglied festgenommen oder erschossen wurde, wurde das zugehörige Porträtfoto auf dem Plakat mit Kugelschreiber als »Erledigt« durchgestrichen. Gerade dieses Durchstreichen von Hand, zumeist von irgendeinem Amts- oder Behördenleiter, gab der ganzen Sache ein interaktives Moment. Ganz Deutschland fahndete nach den Terroristen und schoss im Gedanken mit.

Diese Fahndungsplakate waren zugleich heimliche Werbeposter der Stadtguerilla. Sie erinnerten daran, dass es einen bewaffneten Widerspruch gab. Unwissentlich und ungewollt schuf die RAF-Zeit Bilder und Erzählungen, die noch heute im kollektiven Gedächtnis wirksam sind. Sie waren die »sechs gegen 60 Millionen« – so die populäre Deutung des Schriftstellers Heinrich Böll –, der Staatsfeind Nummer eins. Die RAF hat sich selbst in die Geschichte der alten BRD als ihre mythische Antagonistin eingeschrieben.

Dieser Mythos lebt auch nach der Auflösung der RAF fort. Heute sind es die »RAF-Rentner« im Untergrund. Sie leben unerkannt in Kreuzberg und Friedrichshain, tanzen auf dem Karneval der Kulturen dem BKA vor der Nase herum, posten dann noch auf Facebook und haben niedliche Hunde. Wenn es mit der Kohle knapp wird, rauben sie Geldtransporter mit der Panzerfaust aus. Selbst die neue BRD ist empört und zugleich heimlich fasziniert.

54 Jahre nach ihrer Gründung, 31 Jahre nach ihrer letzten Aktion und 26 Jahre nach ihrer Selbstauflösung ist der politische und kulturelle Nachhall der Schüsse der RAF noch gesellschaftlich wahrnehmbar. Keine andere politische Formation hat so stark polarisiert und so viele Diskussionen provoziert. So betrachtet war die RAF sogar erfolgreich. Sie hat nachhaltig die innere Sicherheit der BRD erschüttert – nicht auf einer taktisch-militärischen Ebene, sondern ideologisch.

Denn bei aller Kritik an ihrer zuweilen komplett falschen Theorie und Praxis hat die RAF zumindest daran erinnert, dass Menschen um ihre Befreiung kämpfen können. Sie lieferte einen Gegenentwurf zum »Marsch durch die Institutionen«, dem vermeintlich feindlichen Mitmachen der Achtundsechziger – und später der Grünen – und deren stiller und feiger Kapitulation.

Sie erinnerte an die unvollendete Revolte und widersprach der zentralen Legitimationsbehauptung der kapitalistischen Gesellschaft, es gebe keine Alternative. Genau diese behauptete Alternativlosigkeit, die die Verhältnisse mit der Unentrinnbarkeit der Schwerkraft in eins setzt und diese Verhältnisse als ein nicht aufhebbares Naturgesetz denkt, dem sich der Mensch zu unterwerfen habe. So stirbt auch die Idee einer befreiten Gesellschaft. Angesichts der Schwäche der radikalen Linken und ihrer Kritik besteht derzeit ihre wichtigste Aufgabe darin, die Idee der menschlichen Emanzipation am Leben zu halten.

Dazu gehört eben auch der Mut zur Konsequenz sowie die gedankliche Beweglichkeit, sich gegebenenfalls von Positionen und Praktiken zu verabschieden, wenn sie, wie die RAF in ihrer Auflösungserklärung feststellt, »in den Befreiungsprozessen keine Gültigkeit« mehr haben.

Mut zur Konsequenz bedeutet aber auch »die Negation der bestehenden Verhältnisse, und zwar nicht nur mental, nicht theoretisch, sondern im ganzen Lebensvollzug, also ein Leben gegen die bestehenden Verhältnisse zu organisieren, möglichst direkt und konfrontativ«, wie es Karl Heinz Roth einmal formuliert hat. Die Militanten der RAF haben ein solches Leben geführt.