In Kolumbien häufen sich bewaffnete Angriffe auf die Guardia Indígena

Zwischen allen Fronten

Cauca heißt der Verwaltungsbezirk Kolumbiens, in dem die indigenen Bewegung des Landes entstand. Die Guardia Indígena, eine Mischung aus Bildungs- und Selbstschutzorganisation, geht darauf zurück. Ihre Mitglieder werden immer öfter von Bewaffneten aus den Reihen von Organisationen angegriffen, denen funktionierende indigene Strukturen ein Dorn im Auge sind.
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Oveimar Tenorio sitzt am Schreibtisch und liest auf seinem Mobiltelefon eine Nachricht. Die Sorgen sind dem kleinen, quirligen Mann von 30 Jahren mit dem raspelkurzen schwarzen Haaren ins Gesicht geschrieben. Kaum ein Tag vergeht, an dem der politische Leiter der Guardia Indígena des Cauca nicht eine Botschaft bekommt, die ihn über Bedrohungen und Verfolgungen von Mitgliedern der Guardia Indígena informiert; häufig kommt es auch zu Angriffen auf sie. Im Norden des Cauca, der nur wenige Kilometer südlich der Millionenmetropole Cali beginnt und sich weit in den Süden Kolumbiens erstreckt, ist die Situation besonders brisant.

»Seit Januar 2024 haben wir 200 Morde an indigenen Menschen registriert. Sie wurden gezielt ermordet oder gerieten in die Schusslinie bei Konflikten zwischen Bewaffneten«, berichtet Tenorio, der die blaue Weste der Guardia Indígena trägt. Er stammt aus dem Norden des Cauca; aufgewachsen ist er in einer indigenen Gemeinde nahe Tori­bío, einer Jahrzehnte zwischen der Armee und den Guerilleros der Farc umkämpften Kleinstadt auf einer der drei Andenketten, und gehört seit dem 1. Dezember 2023 dem Führungstrio an, das die Arbeit der Guardia Indígena koordiniert. Tenorio ist der politische Koordinator der indigenen Selbstschutz­organisation und nahezu rund um die Uhr damit beschäftigt, die Arbeit der mehr als 10.000 Aktivist:innen zu koordinieren, die der Guardia Indígena allein im Cauca angehören.

»Seit Januar 2024 haben wir 200 Morde an indigenen Menschen registriert. Sie wurden gezielt ermor­­­det oder gerieten in die Schusslinie bei Konflikten zwischen Bewaff­neten.« Tenorio, Guardia Indígena

»Derzeit dreht sich fast alles darum, unsere Anführer zu schützen, die Guardia besser auszubilden und effektiver zu machen, denn die Zahl der Angriffe steigt laufend.« Mitverantwortlich dafür sind Tenorio zufolge zwei Dinge: Zum einen seien die indigenen Strukturen, speziell der Consejo Regional Indígena del Cauca ( Regionaler Indigener Rat des Cauca, Cric) als Dachorganisation und die Guardia Indígena als Schutzorganisation für das Leben und das Territorium, den bewaffneten Gruppen ein Dorn im Auge. »Wir sind im Weg, weil wir unser Territorium verteidigen, Schmuggel und Drogenanbau behindern, und das stört die Interessen der Gruppen«, so Tenorio.

Hinzu kommt, dass Mitte März die Regierung von Präsident Gustavo Petro die Strategie gewechselt hat. Nach langen, zähen und letztlich erfolglosen Verhandlungen geht Kolumbiens Armee auf Weisung des Präsidenten Petro wieder militärisch gegen Splittergruppen der Farc vor, die sich in Verhandlungen zu nichts verpflichten wollen. Auslöser für den Strategiewechsel war der Angriff einer mobilen Kolonne einer solchen Splittergruppe, des Estado Mayor Central (EMC), die sich gegen das Friedensabkommen mit der Regierung im Jahr 2016 ausgesprochen und abgespalten hatte, auf eine Gruppe von Indigenen; die EMC-Kolonne entführte einen Jungen.

Tenorio findet den Strategiewechsel der Regierung legitim, denn er attestiert dem EMC, der mit mehreren mobilen Kolonnen im Norden des Cauca tätig ist und mit anderen bewaffneten Gruppen um die Kontrolle des Marihuana­handels konkurriert, nicht verhandlungsbereit zu sein. »Das Gleiche gilt für mehrere der Akteure, mit denen in den letzten 18 Monaten letztlich erfolglos verhandelt wurde. De facto leidet die Zivilgesellschaft unter mehr statt weniger Krieg, und es sind unsere Jugendlichen, die von den Banden rekrutiert werden«, so Tenorio. Er gehört den Nasa an, einer der elf indigenen Bevölkerungsgruppen des Cauca, die sich vor 53 Jahren im Cric zusammengeschlossen haben.

Im Fokus des Terrors

Dessen Repräsentanten, aber auch die Mitglieder der Guardia Indígena, Frauen, Männer, Halbwüchsige genauso wie Kinder, sind derzeit extrem gefährdet. Unter den bisher 200 Opfern seit Jahresbeginn sind mehrere hohe indigene Repräsentanten, aber auch Akti­vist:innen der Guardia. »Es fehlt an Schutz durch staatliche Institutionen, aber auch an neuen Konzepten, Einigkeit und klaren Strategien«, analysiert Tenorio, der Ende Februar beim Treffen zum 53. Jahrestag der Gründung des Cric zu den zentralen Rednern gehörte.

Dieser kritische Kongress mit rund 11.000 Teilnehmer:innen fand vom 22. bis 24. Februar in Pueblo Nuevo statt, einem kleinen Dorf nahe der Kreisstadt Caldono im Nordosten des Cauca. Juan Rivera Caso, ein stämmiger Mann von Ende 40 mit offenem Blick, ist der Leiter der dortigen Guardia Indígena und war für die Sicherheit des Cric-Jahrestags verantwortlich. Er berichtet, sein Dorf sei als Veranstaltungsort gewählt worden, zum einen weil in der Region die Konflikte zwischen Guardia Indí­gena und bewaffneten Gruppen zugenommen hätten, zum anderen weil Letztere in der Region immer intensiver rekrutiert hätten. Mit seinem Team koordinierte Rivera Caso knapp 600 Mitglieder der Guardia Indígena aus der Region, die das große Ereignis schützten.

Kontrollposten an den Zugängen nach Pueblo ­Nuevo, aber auch in der weiteren Umgebung, Patrouillen der unbewaffneten, nur mit Funkgerät, Mobiltelefon und dem Bastón, dem silberbeschlagenen Holzstock der Guardia, ausgestatteten Freiwilligen gehören zum eingespielten Procedere.

Viele Jugendliche vor der Bühne: Jubiläumsfeier des Regionalen indigenen Rats des Cauca (Cric)

Viele Jugendliche vor der Bühne: Jubiläumsfeier des Regionalen indigenen Rats des Cauca (Cric)

Bild:
Knut Henkel

»Usus ist, dass die lokale Guardia Indígena die Arbeit übernimmt und im ständigen Austausch mit der nationalen Koordination steht«, erklärt Rivera Caso. Er ist froh, dass der Kongress gut über die Bühne gegangen ist und dass die Resonanz überaus groß war. »Das ist aber auch nötig. Alle sollten ihren Beitrag für die Neuausrichtung von Cric und Guardia Indígena leisten. Das ist überfällig«, meint er. Gerade weil der Terror der bewaffneten Gruppen in der Region stark zugenommen habe.

Sechs Morde habe es seit Jahresbeginn allein in den sechs indigenen, von zerklüfteten Bergketten geprägten Resguardos, den indigenen Territorien, rund um Pueblo Nuevo gegeben, hinzu kämen etliche Rekrutierungen von Jugendlichen, berichtet der Mann. Für ihn ist es positiv, dass der 53. Jahrestag des Cric ganz im Zeichen von Analyse und Reflexion stand. Dafür seien die Diskussionen bis tief in die Nacht wichtig gewesen, denn anders als früher seien die bewaffneten Gruppen in den Resguardos präsent. »Sie rekrutieren hier vor Ort, locken mit einem eigenen Motorrad, mit Geld und Versprechen, die oft nicht gehalten werden«, so Caso.

»Früher gab es eine indigene Frente der Farc, heute sind es unsere Jugendlichen, die die Mehrheit der bewaffneten Verbände stellen.« Senator Feliciano Valencia

Er ist sein halbes Leben bei der Guardia Indígena, und die ist viel mehr als eine Schutz- und Selbstverteidigungsorganisation. »Sie ist eine Schule, in der unser Nachwuchs die eigene Sprache, die eigene Kultur und Tradition erlernen kann, in einer Gemeinschaft, die strikt pazifistisch ausgerichtet ist«, so Caso. Das sei essentiell für die indigene Bewegung im Cauca, aber auch darüber hinaus. Die Guardia Indígena wurde im Norden des Cauca als Selbstschutzorganisation im Mai 2001 gegründet, nachdem Paramilitärs in Naya ein Massaker verübt und mindestens 27 Indigene ermordet hatten. Längst ist sie landesweit präsent; rund 70.000 Freiwillige, Männer, Frauen und Kinder, sind in ihr organisiert und verteidigen indigenes Territorium und ihr Leben.

Das seien die beiden zentralen Aufgaben der Guardia und die seien immer schwerer zu erfüllen, so Feliciano Valencia. Der 58jährige relativ kleine drahtige Mann mit dem dünnen Pferdeschwanz und dem eleganten Strohhut, den ein grün-rotes Band in den Farben des Cric ziert, ist Senator für die alternative indigene und soziale Bewegung Mais (Movimiento Alternativo Indígena y Social), eine schillernde Figur der indigenen Bewegung, und trat als Redner in Pueblo Nuevo für eine Erneuerung innerhalb der indigenen Bewegung ein.

»Die ­Situation im Cauca ist extrem komplex, weil das Friedensabkommen mit den Farc vom November 2016 von einem Teil der Frentes der Farc nicht unterzeichnet und weil es obendrein nicht von der rechtsnationalen Regierung unter Iván Duque implementiert wurde«, analysierte Valencia auf einer Wiese vor dem zentralen Veranstaltungszelt in Pueblo Nuevo. Geduldig beantwortete der Mann, auf den bereits etliche Anschläge verübt wurden und der in der Hauptstadt Bogotá nur mit Personenschützern vor die Tür geht, die Fragen, suchte die Diskussion mit den Verantwortlichen von Cric und Guardia Indígena und bewegte sich auf dem weitläufigen Gelände rund um das Festzelt mit größter Selbstverständlichkeit.

In der Schusslinie

Drei Tage hatte sich Valencia Zeit für das wichtigste indigene Ereignis des Jahres genommen, um für die Erneuerung der Bewegung zu werben. Er war wie Oveimar Tenorio einer der zentralen Redner. »Wir haben es im Cauca nicht nur mit den Farc-Dissidenten des Estado Mayor Central zu tun, auch die Segunda Marquetalia, eine weitere Farc-Abspaltung, die wegen der Nichtumsetzung des Friedensabkommens mit den Farc wieder zu den Waffen griff, ist präsent, und auch die Guerilla des ELN«, des Ejército de Liberación Nacional, schilderte Valencia. Hinzu kämen extrem brutal agierende Drogenbanden, Paramilitärs und die staatlichen Ordnungskräfte, die seit Mitte März wieder militärisch agieren und zumindest gegen einzelne Kolonnen des EMC vorgehen.

»Diese Vielzahl an Beteiligten, zu denen auf lokaler Ebene noch weitere Banden kommen, sorgt für eine extrem unübersichtliche Situation. Ein gra­vierendes Problem ist, dass in den Friedensverhandlungen zwar Waffenstillstände zwischen den staatlichen Sicherheitskräften und dem EMC oder an­deren Gruppen ausgehandelt wurden, nicht aber zwischen den betreffenden Akteuren«, kritisierte Valencia. »Für die ländliche Zivilbevölkerung, meist indigene oder kleinbäuerliche Gemeinden, ändert sich daher kaum etwas – sie ­geraten immer wieder zwischen die Fronten.«

Basecap gehört dazu. Ein Mitglied der Guardia Indígena

Basecap gehört dazu. Ein Mitglied der Guardia Indígena

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Knut Henkel

Für den Senator, der zwischen Bogotá und seiner Herkunftsgemeinde nahe Toribío pendelt, ist das ein grundlegender Fehler der Regierungspolitik der paz total, des totalen Friedens. Die zielt auf eine umfassende Friedenslösung durch Verhandlungen. Doch eine ­solche ist nur möglich, wenn die bewaffneten Akteure dazu auch bereit sind. Genau das bezweifeln jedoch immer mehr Betroffene wie Tenorio, Valencia oder Joe Sauca, der höchste Repräsentant des Cric. Anfang Februar ap­pellierte Sauca bei einer Pressekonferenz in der Cric-Zentrale in Popayán an die Regierung, multilaterale und nicht mehr bilaterale Waffenstillstandsabkommen mit den bewaffneten Gruppen auszuhandeln.

Ein Appell, der in Bogotá durchaus gehört wurde, der aber nur umsetzbar ist, wenn sich die bewaffneten Gruppen umorientieren, die in der Drogenproduktion, aber auch in der Förderung von Gold und im Schmuggel aktiv sind. Derzeit ist das aber kaum zu erwarten; ein Grund dafür ist, dass vor allem der Norden des Cauca, der von zwei Anden-Kordilleren zerschnitten wird, militärisch kaum zu kontrollieren ist. Die zerklüfteten Bergrücken, von tiefen Tälern unterbrochen, prägen die Region von Pueblo Nuevo, wo vor allem Kaffee, aber auch Maniok, Bananen und Fiques angebaut werden, eine Agavengattung, aus deren Fasern Säcke für den Kaffeeexport hergestellt werden.

Eigentlich gute Perspektiven für die lokale Wirtschaft, meint der Kaffeebauer Luis Herney Campo, der hochwertigen Kaffee produziert und so ein legales Auskommen hat. Er verkauft seine Bohnen an die Central Cooperativa Indígena del Cauca (CENCOIC), eine indigene Genossenschaft unter dem Dach des Cric, der sich bemüht, ökonomische Perspektiven in Dörfern wie Pueblo Nuevo zu schaffen. Wegweisende Ideen, aber schwierig zu etablieren, findet die indigene Journalistin Diana Jem­buel, die im benachbarten Verwaltungsbezirk Silvia lebt und auch dort von ­Rekrutierungen Jugendlicher durch Banden zu berichten weiß.

Konfrontationen in den Gemeinden

»Das ist ein weiteres Grundproblem im Cauca«, meint die Frau, die die vergangenen zwei Jahre für ihre indigene Gemeinde gearbeitet hat und währenddessen ihre journalistische Tätigkeit ruhen ließ. »Entscheidend ist, dass wir unserer eigenen Jugend mehr Perspektiven aufzeigen, die eigene Identität fördern«, meint sie, die meist in traditioneller Tracht auftritt. Das galt für viele der Teilnehmer beim Cric-Jubiläum, wo der Anteil der Jugendlichen mit 30 bis 40 Prozent recht hoch war. Das freut Tenorio, der hofft, dass die neue Generation die Strukturen innerhalb des Cric und der Guardia wieder stärker politisch prägt.

Darin sieht auch Senator Valencia eine zentrale Herausforderung. »Der Cric hat als politische Bewegung an Dynamik verloren, weil er eine Adminis­tration aufgebaut hat, Arbeitsplätze zu vergeben hat und öffentliche Gelder erhält und verteilt«, so Valencia. Das dämpft das politische Engagement in den Strukturen der Organisation. Hinzu kommt, dass die Nachfolgeorganisationen der Farc längst in den indigenen Territorien präsent sind und der Konflikt immer öfter direkt in den Dörfern wie Pueblo Nuevo oder Toribío ausgetragen wird. »Die mehrheitlich indigenen Kämpfer der verschiedenen Guerillas halten den Kontakt zu ihren Familien, kennen die Region, etablieren neue Schmuggelrouten für Drogen, Chemikalien, Waffen und anderes. Sie wurden rekrutiert und stehen nun der Guardia Indígena direkt in den Regionen gegenüber«, so Valencia.

Inmitten zerklüfteter Bergketten. In Pueblo Nuevo fand die Jubiläumsfeier des Cric statt

Inmitten zerklüfteter Bergketten. In Pueblo Nuevo fand die Jubiläumsfeier des Cric statt

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Knut Henkel

»Früher gab es eine indigene Frente der Farc, heute sind es unsere Jugendlichen, die die Mehrheit der bewaffneten Verbände stellt«, so Valencia. Eine vollkommen neue Konstellation, die sich in den vergangenen sieben Jahren in mehreren Etappen herausgebildet hat. Tenorio erklärt: »Da liegt der Grund für die hohe Mordquote wie auch für die Zahl von 280 Rekrutierungen seit Jahresbeginn.« Er zählt zu den gefährdeten Repräsentanten der indigenen Bewegung, wurde Ende Februar in Tori­bío beinahe von einer EMC-Kolonne ­erwischt, musste seine Mutter und seine Familie in Sicherheit bringen. Bevor er das Büro der Guardia Indígena in Popayán verlässt, checkt er noch alle neuen Informationen aus den Kanälen der Guardia Indígena.

»Wir benötigen schlagkräftige politische Strukturen, um unsere eigene Zukunft zu gestalten; deshalb ist die Orientierung unser eigenen Jugend mein Arbeitsschwerpunkt«, hält Valencia fest. Dafür ist er auf dem 53. Jahrestag des Cric eingetreten und hat viel Beifall geerntet. Nun folgt die Umsetzung – wie immer unter schwierigen Voraussetzungen. Typisch für den Cauca, dessen indigene Bewegung es landesweit immer wieder geschafft hat, politische Initiativen zu forcieren. Das ist auch diesmal das Ziel.