Chatbots, KI-Bildgeneratoren und Co.

Wie Künstliche Intelligenz Alltag, Kultur und Gesellschaft verändert

Die Zukunft hat begonnen. Während im Feuilleton noch darüber gestritten wird, ob KI-Systeme die Rettung der Welt einleiten oder die Menschheit vernichten, tanzen Lagerarbeiter:innen nicht nur bei Amazon längst nach ihrer Pfeife. Nicht erst in der zukünftigen Anwendung der Künstlichen Intelligenz, sondern schon in der Entwicklung verschärfen sich Ausbeutung, soziale Ungleichheit und ­Prekarisierung.

Die Geschichte der Automatisierung ist die Geschichte der Vernichtung von Arbeitsplätzen und die der Neuschaffung von anderen Arbeitsplätzen. Die alten Arbeitsplätze waren schmutzig, gefährlich und langweilig; die neuen Arbeitsplätze sind sauber, sicher und kreativ. So weit die Erzählung.

Die Praxis ist weniger erfreulich, denn zwischen den alten und den neuen Arbeitsplätzen gibt es nicht nur physische und psychische Differenzen, sondern auch soziale. Die Menschen, die ihre Arbeitsplätze verlieren oder die ihre Arbeitskraft aus Gründen der Konkurrenz mit der Maschine billiger verkaufen müssen, sind ja nicht unbedingt dieselben, die die neuen Arbeitsplätze besetzen. Jede Umschichtung in der Arbeitswelt hat auch soziale Folgen, löst individuelle und kollektive Krisen aus, erzeugt neue Frontlinien des Klassenkampfes. Und jede Form der Automatisierung bedeutet eine Zunahme der Kontrolle. Dieser Aspekt ist beim Einsatz von KI so zentral, dass er am meisten soziales und mediales Appeasement erfordert.

Nur ein Beispiel: Der Mineralwasserhersteller Aqua Römer setzt im Lager seit 2021 den »Robo-Boss« namens Mary ein, der den menschlichen Arbeitskräften ihre Aufgaben zuweist: Kisten mit leeren Flaschen von dort nach hier, Palette mit vollen Flaschen hier abladen und dort verteilen. Menschen tun, was die Maschine für das Effizienteste hält – die im Übrigen zugleich Daten über die Arbeitsgeschwindigkeit und reibungslose Übergaben sammelt. Weil damit auch eine »Verhaltensanalyse« der einzelnen Mitarbeiter:innen »möglich« wäre, wurde dies laut Betriebsvereinbarung untersagt. Was mag Mary mit den gesammelten Daten sonst machen? Die besagten Mit­arbeiter:innen müssen sowohl der Maschine als auch ihrem Arbeitgeber ziemlich blind vertrauen.

In den Lagern von Amazon ist es bereits Standard, dass Maschinenprogramme Billiglohn-Beschäftigte gnadenlos zur Arbeit antreiben. Die Versklavung von Menschen mit Hilfe der KI ist keine grausige Zukunftsvision, sie ist in vollem Gange. Und zugleich entsteht eine neue »Elite« der mittleren KI-Fachleute. Das Beispiel mag genügen, um die große, übrigens durch die unvermeidliche Untersuchung der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammen­arbeit in Europa) gestützte Erzählung von der Vermenschlichung der Arbeit durch KI in Zweifel zu ziehen. KI erzeugt zwar auf der einen Seite den Super-Arbeitsplatz des KI-Entwicklers und -Prompters, sie erzeugt auf der anderen Seite aber auch den neuen Billiglohnarbeiter und die Billiglohnarbeiterin, indem sie eine Fabrik in ein Meta-Fließband verwandelt und Dienstleistungen weiter »uberisiert«.

In den Lagern von Amazon ist es bereits Standard, dass Maschinenprogramme Billiglohn-Beschäftigte gnadenlos zur Arbeit antreiben. Die Versklavung von Menschen mit Hilfe der KI ist keine grausige Zukunftsvision, sie ist in vollem Gange.

Der prompt engineer ist der Mensch, der mit der KI interagiert, und zwar, ganz im Gegensatz zu einem Programmierer früherer Zeit, in »natürlicher Sprache«. Er oder sie lernt dabei, die Sprache so zu verwenden, dass die Maschine sie möglichst fehlerfrei im large language model versteht. Man ist also zugleich ein Übersetzer, Trainer und Kontrolleur, ein Beruf, der sich gewissermaßen permanent selbst erfindet (und der – deshalb? – in digitalen Zentren wie San ­Francisco ein Jahresgehalt um die 300.000 Dollar einbringt). Das Berufsbild umfasst Computertechnik ebenso wie Linguistik, vor allem aber eine eingehendere Kenntnis des Umfelds, in dem eine KI-Einheit eingesetzt wird. Der etwas untergeordnete neue Job in der KI-Welt ist der Trainingsspezialist, der die Lernprogramme der KI überwacht. Und dann gibt es noch, weniger angesehen, die »Beauftragten« für ethische und politische Regularien, für Faktenchecks oder »gefährliche Fragen«.

Keine Überraschung, dass diese doppelte Entwicklung – Aufstieg in der KI-Welt für die einen, weitere Prekarisierung und Verarmung für die anderen – von der herrschenden Politik ignoriert wird. Der deutsche Arbeitsminister Hubertus Heil macht denn auch klar, dass er im Jahr 2034 keinen Arbeitsplatz mehr ohne KI-Einsatz sehen will, denn: »Gut eingesetzt kann KI dafür sorgen, dass die Arbeitswelt humaner wird, dass sie menschlicher wird, dass wir Arbeitsunfälle verhindern beispielsweise, dass Arbeit gesund ist.« Wie gesund freilich die Arbeitsplätze bei Uber, Amazon, im Supermarkt und beim Pizzadienst sind, die man sich in der Tat bald ohne KI nicht mehr vorstellen kann, sei dahingestellt.

Was aber folgerichtig beim deutschen Arbeitsministerium entsteht (und den einen oder anderen Arbeitsplatz für überzählige Uni­ver­sitäts­abgänger:innen schafft), ist natürlich eine »Denkfabrik«. (Leider ist der ­Begriff der »Denkfabrik« schon so politisch und ökonomisch verhunzt, dass man nicht mehr zurückkehren kann zu einer einfachen Frage: Wie könnte die Fabrikation des Denkens in der nahen Zukunft, mit Hilfe und vis-à-vis der KI, überhaupt aussehen?) Im Wesentlichen jedenfalls vereinigen sich im »Glauben« an die KI noch einmal Staat, Gesellschaft und Individuum.

In Deutschland, so will es zumindest die von Google beauftragte Studie »Der digitale Faktor« herausgefunden haben, sind 75 Prozent der Beschäftigten davon überzeugt, dass sie mit Unterstützung von KI produktiver arbeiten können. Was man eigentlich jenseits der Mehrwerterzeugung und der Leistung für das Unternehmen unter »Produktivität« verstehen könnte, darüber schwieg man in der Umfrage. Aber dafür erklärt es Professor Antonio Krüger: »In schrumpfenden Gesellschaften wie unserer lässt sich der Lebensstandard nur über Produktivitätssteigerung halten. Dabei kann KI helfen.«

Dass der Boom der KI-Arbeitsplätze sich rasch erledigt, liegt in der Natur der Sache. Die neu entstandene »Elite« muss sich entweder abkapseln oder ihren Wert verlieren. In welche Arbeitswelt die KI hineintrifft, zeigt der Vergleich zweier Werbeclips im deutschen Free TV an ein und demselben Abend: In Clip eins mopst sich eine spürbar gelangweilte junge Frau, die sich ihren Arbeitsplatz zur Kuschelecke gemacht und wie selbstverständlich ihren Hund mit ins Büro gebracht hat, und fühlt sich offenkundig allein von der Anwesenheitspflicht überfordert.

Da erscheint auf einem Bildschirm das Angebot eines – natürlich KI-unterstützten – Jobvermittlungs-Netzwerkes. Sie braucht es nur anzuklicken und verschwindet glücklich ins digitale Nirwana oder zu einem Job, bei dem sie noch weniger arbeiten und ihr Hund noch weniger Rücksicht nehmen muss. Im zweiten Clip erklärt eine junge Frau, komplett mit Schutzhelm und Arbeitskleidung, dass sie im Schichtdienst arbeitet und diese Belastung vor allem deswegen freudig auf sich nimmt, weil sie ein frei verkäufliches Medikament zur Schlafsteuerung benutzt.

Der Mensch, der sich seinen Arbeitsplatz erst einmal vergolden lässt, bevor er sich dazu herablässt, ihn gelegentlich zu besetzen, und der Mensch, der bereit ist, für seinen Job auch Eingriffe in die eigene Körperlichkeit zu akzeptieren, und dieses Opfer freudig auf sich nimmt, sind genauso Elemente ein und derselben Arbeitswelt, wie Überfluss und Mangel Teil ein und desselben Wirtschaftskreislaufes sind. KI trifft nun als Drohung auf die eine und als Versprechen auf die andere Seite.

Zur gleichen Zeit wächst in allen europäischen Gesellschaften die Anzahl der »NEETs« (Not in Education, Employment or Training), jener Jugendlichen und jungen Erwachsenen also, die weder studieren noch sich in Ausbildung befinden noch sich um einen Arbeitsplatz kümmern. Arbeit ergibt für sie offensichtlich einfach keinen Sinn. Im fleißigen Deutsch­land gibt es laut europäischer Statistik 2022 nur 564.000 Personen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren, die einfach gar nichts tun. In Japan, wo das Phänomen in den neunziger Jahren zum ersten Mal untersucht wurde und mittlerweile zu einem dramatischen sozialen Problem geworden ist, oder in Italien, wo drei Millionen NEETs gezählt werden, sieht die Sache schon anders aus.

Doch dabei geht es weniger um die statistischen Zahlen als vielmehr um eine offensichtlich wachsende Schicht von jungen Menschen, die sich dem Arbeitsmarkt verweigern, wobei man etwa in Japan zwischen NEET-Fundamenta­list:in­nen (Menschen, die kategorisch den Eintritt in die Arbeitswelt verweigern) und NEET-Relati­vist:in­nen unterscheidet (Menschen, die einfach noch keinen Beruf gefunden haben, von dem sie glauben, Ausbildung und Arbeit könne sich dafür lohnen).

Neben diesem dramatischen Konflikt freilich spricht immer mehr Menschen das Versprechen einer individuellen Work-Life-Balance mit mehr Freizeit und leichteren Möglichkeiten des (temporären) Ausstiegs an. Natürlich gehören dazu auch die mehr oder weniger neuen Angebote des Homeoffice. Man müsste also, um einen Blick in die Zukunft der Arbeit zu werfen, die verschiedenen Entwicklungen zusammenfügen: Menschen, die immer mehr arbeiten müssen (nicht nur die working poor, die nicht einmal mit zwei Jobs über die Runden kommen), Menschen, die mit immer weniger Arbeit auskommen (die neue Mittelschicht), Menschen, die zum Teil physisch und psychisch darunter leiden, dass ihre Arbeit sinnlos und demütigend ist (der »bullshit job«, der von der Arbeit nur die Gehaltsüberweisung und die Entfremdung übrig lässt), und Menschen, die nicht arbeiten wollen, können oder dürfen (wie ein Teil der Migrant:innen). Bemerkenswerterweise hat der Einsatz von KI-Systemen auf alle vier Segmente eine dramatische Wirkung; allgemein kommuniziert und propagiert aber wird nur die Wirkung auf die Arbeit im Segment der neuen Mittelschicht.

Dass ein Arbeitsplatz in der KI-Industrie von vornherein Einkommen und Wohlstand sichert, ist allerdings ein Trugschluss. Ein wesentlicher Bestandteil der Arbeit an lernenden Systemen ist die Aufbereitung der Trainingsdaten, die »Datenannotation«. Sie wird hauptsächlich in Form des globalen crowdworking verrichtet, in kleine Segmente so zerteilt, dass die einzelnen Computerarbeiterinnen und -arbeiter gar nicht wissen, an welchem Projekt sie überhaupt beteiligt sind. Die Arbeit der Datenannotation wird vorwiegend in die Länder des Globalen Südens ausgelagert und ist einem großen Lohndruck ausgesetzt: Extrem entfremdete und extrem schlecht bezahlte Arbeit ist also auch innerhalb der KI-Entwicklung die Grundlage für den Reichtum einiger weniger.

Natürlich ist mit solchen Umschichtungen in den Ökonomien auch die Veränderung der Jobaussichten verbunden. Auf den Berufswunsch »irgendwas mit Medien« ist längst der nach »irgendwas mit KI« gefolgt.

Ein genauerer Blick auf die Arbeitsplätze der Datenannotation würde sehr rasch die Vorstellung von der schönen neuen Arbeitswelt durch KI verschwinden lassen. KI forciert die Verelendung in der Welt der Datenschürfer: »Sie sind die Minenarbeiter der Postpostmoderne, so wie vor Jahrhunderten Kinder im englischen Kohleabbau die Industrialisierung befeuern halfen«, schreibt Andreas Wilkens in seinem Aufsatz »Künstliche Intelligenz, der neueste Anlauf zur Weltzerstörung« auf Heise Online. »Und bevor die Verbrennung von Kohle und dann Öl den Treibhauseffekt der Atmosphäre verstärkte, hatten die Menschen in ihrem stetigen Fortschreiten praktischerweise schon fleißig die CO2-absorbierenden Wälder abgeholzt, um ihre Maschinen damit zu betreiben.« Was nun »abgeholzt« wird, könnte man pathetisch »Menschlichkeit« nennen. Nicht erst in der Anwendung von KI, sondern schon in der Entwicklung verschärfen sich Ausbeutung, soziale Ungleichheit und Prekarisierung.

Künstliche Intelligenz in Industrie, Vertrieb und Verwaltung könnte, wenn man ihre Möglichkeiten betrachtet, ein gut funktionierendes Wirtschafts- und Arbeitssystem noch besser machen, nach demselben Prinzip wie alle hoffnungsvollen Angebote der »Rationalisierung« zuvor: Sie nimmt den Menschen eher geistlose oder abstrakte Arbeit ab und ­ermöglicht ihnen dafür umso mehr geistige und soziale Arbeit. Dummerweise leben und arbeiten wir aber nicht in einem funktionierenden (geschweige denn gerechten) System, sondern in einem, das sich von Krise zu Krise entwickelt.

Es herrschen die Prinzipien des erbarmungslosen Konkurrenzkampfes, die Produktion von Gewinnern und Verlierern, unproduktive Arbeit, die »kreative Zerstörung« durch den Neoliberalismus, der Raubbau an den Ressourcen, die Entwertung von sozialer und geistiger Arbeit, die Deregulierung der Finanzmärkte, die neuen – immer auch ökonomisch bedingten – Kriege, die Gleichzeitigkeit von Arbeitslosigkeit und Fachkräftemangel, der Verfall von Bildung und Infrastruktur, die kulturellen Verwahrlosungen in der Medien- und Spektakelgesellschaft und so weiter.

Die »Schere« zwischen Arm und Reich geht nicht nur ökonomisch immer weiter auf – die Ungleichverteilung des globalen Reichtums ist nachgerade aberwitzig –, sondern auch, was die Verteilung von Macht anbelangt. Die Antwort des Systems besteht vielerorts in der Erosion des demokratischen und einem Aufstieg des faschistischen Gesellschaftsbildes. Wenn nun KI-­Systeme in das krisenhafte Geschehen eingreifen, ist keineswegs vorherzusagen, ob sie zu Lösungen beitragen oder die Probleme verschärfen werden.

Zunächst bedeutet der KI-Boom, den die Industrie in den zwanziger Jahren ausrief und den die Mainstream-Medien folgsam mit ihren Geschichten bedachten, eine Form der selbsterfüllenden Prophezeiung: Alles, was irgend in Zusammenhang mit KI gebracht werden kann, erlebt einen fulminanten Aufschwung. Die (bisherigen) Big Five der Tech-Industrie (Microsoft, Apple, Alphabet/Google, Amazon, Meta) haben im Jahr 2023 einen Gewinn von satten 327 Milliarden Dollar eingefahren (was davon auf das Konto von KI geht, lässt sich allerdings schwer beziffern).

Der eigentliche Profiteur aber ist Nvidia, dessen H100-Graphikbeschleuniger für das Training der Sprachprogramme benötigt wird: Der Chiphersteller konnte 2023 Umsatz und Gewinn vervielfachen und sich im Ranking der weltweit teuersten Konzerne zwischen Meta und Amazon auf Platz sechs setzen. Und da allein Mark Zuckerberg, der von einer »Superintelligenz« im Metaverse träumt, für 2024 nicht weniger als 340.000 H100-GPUs geordert hat, dürfte es um die Zukunft von Nvidia erst mal nicht schlecht bestellt sein.

Der Chip-Bedarf der KI-Industrie ist gewaltig: Im Februar 2024 berichtete das Wall Street Journal, dass Sam Altman Investoren sucht, um die glo­bale Halbleiterindustrie neu zu gestalten. Dazu sei »ein komplexes, weltumspannendes Netzwerk von Geldgebern, Industriepartnern und Regierungen« nötig. Der Open-AI-CEO schätzt den Investitionsbedarf auf nicht weniger als fünf bis sieben Billionen Dollar (etwa das Zehnfache des derzeitigen weltweiten Chip-Umsatzes).

Natürlich ist mit solchen Umschichtungen in den Ökonomien auch eine Veränderung der Jobaussichten verbunden. Auf den Berufswunsch »irgendwas mit Medien« ist längst der nach »irgendwas mit KI« gefolgt. Das World Economic Forum stellte 2023 fest, dass der Umgang mit KI unter den jungen Menschen auf Nummer eins der Berufswünsche steht. Man erwartet sich überdies von der KI vor allem eine Reaktion auf den Produktionsausfall durch den »demographischen Faktor«, wie eine Studie von The European House (gesponsert von Microsoft und durchgeführt von der Denkfabrik Ambrosetti) für Italien zeigt: Durch den Einsatz von KI soll das Bruttosozialprodukt um 18 Prozent steigen (das sind satte 312 Milliarden Euro).

Eine ganze Schicht der industriellen kapitalistischen Produktion muss um ihre Arbeitsplätze bangen und eine Entwertung ihrer Funktion gewärtigen. Es entstehen zwar, wie bei jedem Modernisierungsschub, auch wieder neue Arbeitsplätze, doch sind diese quantitativ begrenzt und erfordern andere Qualifikationen (und auch hier entstehen, wie wir am Beispiel der Arbeit mit den Trainingsdaten gesehen haben, Billiglohnsegmente und ein neues Prekariat). Man wird also zwangsläufig eine größere Menge an Verlierern und eine wesentlich kleinere Gruppe an Gewinnern auch im White-Collar-Bereich erzeugen. Allgemeiner formuliert: Den Menschen, die in der Transformation – sollen wir es eine vierte industrielle Revolution nennen? – überleben wollen, wird eine Anpassung an die KI-Welt abverlangt.

In allererster Linie werden KI-Systeme in der Produktion als Instrumente der Rationalisierung der Arbeitsabläufe, das heißt zur Effizienz- und Produktivitätssteigerung eingesetzt.

Der IT-Einsatz in der dritten indus­triellen Revolution hat bereits ganze Berufsbilder und ganze Branchen vernichtet, die neu entstehenden Berufsbilder und Branchen befanden sich von vornherein in einem Wettlauf mit der eigenen Prekarisierung; viele der neuen Berufe bestanden in der Arbeit an der weiteren Vernichtung von Arbeitsplätzen, in der fieberhaften Erzeugung neuer Nachfrage (vor allem nach IT-Produkten) und in dem, was David Graeber »bullshit jobs« nannte, Arbeitsplätze, die gewissermaßen nur um ihrer selbst willen existieren und weder produktiven noch kreativen Output erzeugen.

Der Einsatz von KI beschleunigt diesen Prozess und trägt ihn in Bereiche, in denen sich die Menschen vordem »sicher« fühlten. Dass dennoch in den westlichen Gesellschaften ein struktureller Fachkräftemangel entstehen musste, ist kein Widerspruch dazu und lässt sich auch nicht allein durch demographische Faktoren und den Hype um die neoliberale Finanz­welt erklären, der alle traditionelle Arbeit als töricht und altmodisch erscheinen ließ. Er wird vielmehr durch die Automatisierung erzeugt und den Einsatz von KI beschleunigt, was ganze Ausbildungsfelder und Arbeitsweisen aus der Entwicklung ausgegrenzt.

In allererster Linie werden KI-Systeme in der Produktion als Instrumente der Rationalisierung der Arbeitsabläufe, das heißt zur Effizienz- und Produktivitätssteigerung eingesetzt. Man nennt das dann »Prozessoptimierung«. Entgegen den Verheißungen werden gerade nicht die »harten« Berufe durch KI ersetzt (der Bergbau ist das am allerwenigsten KI-affine System der Wirtschaft, obwohl doch gerade hier »intelligente« Automatisierung und Sicherungsmaßnamen am vernünftigsten wären), auch nicht die »routinierten« (die Verwaltung hinkt in vielen europäischen Staaten bei der Digitalisierung und beim KI-Einsatz hoffnungslos hinterher und schafft dabei ein ungeahntes Strukturproblem), und schon gar nicht ersetzt sie die Jobs in der modernen Sklaverei des Prekariats. Sie wird aus ökonomisch nachvollziehbaren Gründen dort eingesetzt, wo sich der Produktivitätszuwachs am raschesten als Profit auszahlt. KI, die Menschen kontrolliert; KI, die Märkte manipuliert; KI, die weiter rationalisiert; KI, die weitere KI produziert und vernetzt.

Dass die »Humanisierung der Arbeitswelt«, von der allenthalben die Rede ist, einer Schimäre gleicht, erklärt sich hinreichend durch das Konkurrenzprinzip. Humanisierung der Arbeit bringt keinen Wettbewerbsvorteil, nicht einmal auf so sensiblen Gebieten wie Medizin und Pflege. Statt­dessen: »Sehr wahrscheinlich vergrößern künstliche Intelligenz, exzessiv eingesetzte Automatisierung und massenhaftes Datensammeln die ökonomische Ungleichheit – weil nur eine Elite daraus Vorteile zieht. Schließlich bekommen nur die Gebildeten Jobs in den großen Tech-Firmen, und die Gewinne fließen an einen kleinen Kreis von Top-Managern und Aktionären«, resümiert Daron Acemoğlu, Mitverfasser von »Economic Origins of Dictatorship and Democracy« (2006). Die Beschwörungsformeln – KI bringt so viel neue Arbeitsplätze, wie sie alte vernichtet – erinnern an die politisch-ökonomischen Floskeln vergangener Rationalisierungsschübe und wirken, als wären sie selbst von einer eher schwachen KI getextet.

Uns beschleicht ein Verdacht: Hubertus Heil und Co. sind gar nicht echt; ihr Reden wird von einer KI übernommen.

KI-Systeme spielen auch bei der Personalpolitik bereits eine wichtige Rolle. Vermutlich würden sich manche Menschen sehr darüber wundern, wenn sie wüssten, warum und von wem ihre Bewerbung abgelehnt wird. Jedenfalls übernehmen KI-Programme als Dashboards die Bewertung von Bewerbungsunterlagen, und Chatbots nehmen Personalchefs lästige Bewerbungsgespräche ab. Zudem können KI-Systeme auch Anforderungsprofile erstellen und diese dann auf möglichst attraktive Weise an die Bewerber senden.

Ungeniert werben Firmen mit dem social recruiting, das, je nach Bedarf, entweder besonders harte Anforderungen an die Bewerber stellt oder Unternehmen auf besonders günstige Weise darstellt. »KI kann an verschiedenen Stellen der Personalauswahl genutzt werden, etwa bei der Suche und gezielten Ansprache geeigneter Personen, beim Screening und der Bewertung von Bewer­ber:in­nen. Auch im weiteren Employee-Life-Cycle kann KI unterstützen – zum Beispiel um Fluktuation zu untersuchen und gegenzusteuern. KI birgt vielfältige Chancen für die Personalauswahl. Mithilfe von KI können außerdem komplexe Muster in großen Datenmengen entdeckt werden. So können Screenings beschleunigt und ein größerer Bewerber:innenpool erschlossen werden – was wiederum dazu beitragen kann, eine größere Anzahl von Personen aus unterrepräsentierten Gruppen zu berücksichtigen.

Allerdings sind Art und Umfang des Vorteils der KI-Anwendung unter anderem abhängig von Datenqualität und eingesetzten Algorithmen.« (»Die Chancen von KI bei der Personalauswahl nutzen«. In: https://www.hrperformance-online.de/fachbeitraege/recruiting/die-chancen-von-ki-bei-der-personalauswahl-nutzen/, 13.12.2022.) Und weiter: »Beim Employer Branding können Unternehmen vom KI-Einsatz profitieren, denn die Nutzung digitaler Methoden wird häufig positiv wahrgenommen, wenngleich die Wahrnehmung von KI in Rekrutierungsprozessen vom Vertrauen der Bewerber:innen in KI-Anwendungen abhängig ist.«

Eine wesentliche Rolle spielt die KI schließlich bei der gamification von Kontroll- und Entscheidungsprozessen. Sowohl bei den Bewerbungen als auch bei den Arbeitsabläufen werden zunehmend Muster und Ästhetiken von Computerspielen eingesetzt. »Online-Assessments – Einfach und günstig in die Personalauswahl implementieren! – 5x besser (sic!) Vor­auswahl als über den Lebenslauf ­allein – 80 Prozent Zeit sparen durch Gamification«, so etwa wirbt man bei Aivy (»your skills, your job«). Hurra! (Und schon in dieser Werbung wird gezeigt, dass die Beherrschung simpler Grammatikregeln in der gamifizierten Welt Schwierigkeiten bereitet.) Bei allen diesen Anwendungen wird damit geworben, dass sich durch die KI der »Aufwand« aller Beteiligten drastisch reduziere.

Die Beziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden durch den Einsatz von KI fundamental verändert. Auch hier wiederum werden die »Apologeten« die Effizienz, die Kosten-Nutzen-Rechnung, die Bequemlichkeit ins Rennen führen, während die »Apokalyptiker« Datensog, Entpersönlichung, intransparentes Profiling kritisieren. So oder so zeigt sich die Veränderung der Arbeitswelt durch die KI schon an diesem Ansatzpunkt: Wie Unternehmen und Mitarbeiter:innen zueinander passen (und im weiteren Verlauf passend gemacht werden), hat eine neue Form angenommen. Effektiver als bisher hält man sich nicht nur ungeeignete, sondern auch eigenwillige Mitarbeiter:innen vom Hals.

Einer der umfassendsten Aspekte der KI-Systeme im Arbeitsprozess ist die Überwachung der Mitarbeiter:in­nen. Sie perfektioniert die Formen der Mitarbeiterkontrolle aus der Vor-KI-Zeit. »Im Betrieb der Zukunft begleiten die neuen Möglichkeiten zur Kontrolle und Überwachung den Beschäftigten vom Betreten des Betriebs bis zu seinem Verlassen, ja in Ansätzen darüber hinaus«, diagnostizierte Ulrich Briefs schon im Jahr 1982. Vor allem die Bilderkennung spielt dabei mittlerweile eine wichtige Rolle: Mitarbeiter, die sich unerlaubt vom Arbeitsplatz entfernen, werden ebenso erkannt wie solche, die sich krankmelden und shoppen gehen. Die Gesichtserkennung am Fa­briktor macht die gute alte Stoppuhr überflüssig; sie liefert freilich auch Zusatzdaten. Bildliefernde Überwachungs-KI unterliegen zwar rechtlichen Einschränkungen (etwa über das »Recht am eigenen Bild«), können aber intern durchaus verwendet werden. Aus dem Widerspruch zwischen beidem entsteht ein Wissen, von dem nichts gewusst werden darf. Persönlichkeitsrechte enden dort, wo Eigentumsrechte anfangen.

Extrem entfremdete und extrem schlecht bezahlte Arbeit ist auch innerhalb der KI-Entwicklung die Grundlage für den Reichtum einiger weniger.

An einer ganz anderen Stelle noch verändert KI unsere Arbeitswelt, nämlich indem sie, entgegen allen Versprechungen, am häufigsten und effizientesten nicht bei den Alltagsproblemen eingesetzt wird, die uns mehr oder weniger alle angehen, sondern in der wunderbaren, abgehobenen Welt der Finanzwirtschaft. Finanzielle Transaktionen, Aktien- und Valutenkäufe, Firmengründungen und -verkäufe werden ja längst von Algorithmen in Bruchteilen von Sekunden vollzogen. KI steckt längst hinter allen Vorgängen des »Hochfrequenzhandels« im Finanzkapitalismus. Und wir erahnten schon vor dem Einsetzen des neuen KI-Booms einen Finanzkapitalismus, in dem die intelligenten Maschinen die Sache unter sich ausmachen und Banker und Managerinnen nur noch als Performer gebraucht werden.

Ein Symbol für den KI-gesteuerten Finanzkapitalismus ist das auf Superrechnern installierte Datenanalysesystem Aladdin (Asset Liability and Debt and Derivative Investment Network) der Firma Blackrock, von dem Torsten Fuchs-Grote schwärmt: »Aladdin verwendet fortschrittliche KI-Technologien, um riesige Mengen von Finanzdaten zu verarbeiten und komplexe Risikobewertungen durchzuführen. Der Supercomputer ermöglicht es Blackrock, das Risiko und die Performance von Milliarden von Dollar an Anlagen in Echtzeit zu überwachen und zu steuern. Durch die Kombination von KI und Supercomputing kann Blackrock schnell auf Marktschwankungen reagieren und fundierte Entscheidungen treffen, um optimale Ergebnisse für ihre Investoren zu erzielen.
Der Aladdin-Supercomputer ist ein herausragendes Beispiel dafür, wie die Verschmelzung von KI und Hochleistungsrechnern die Grenzen des Finanzwesens erweitert und das Potenzial für innovative Anwendungen in der Wirtschaft demonstriert.«

Der Investor Blackrock hat in Deutschland übrigens Anteile an Linde, Allianz, Bayer, Vonovia, Deutsche Bank, Telekom, Mercedes, BMW, Deutsche Post … Das zeigt, wie sehr Aladdin möglicherweise auch in unser ökonomisches Schicksal eingreift. Programme wie Aladdin können äußerst rasch auf Risikoberechnungen zurückgreifen und Risiken schneller erkennen, als ein Unternehmen selbst bemerkt, dass irgendwo eine kleine, aber weitreichende Fehlentscheidung getroffen wurde, sowie Geldströme dort hin- oder von dort weglenken, wo du gerade noch meintest, einen sicheren Arbeitsplatz zu haben.

So, wie der Mensch der Zukunft nicht mehr zu denken ist ohne seinen digitalen Zwilling, so ist die Wirtschaft der Zukunft nicht mehr ohne die digitale Parallelwelt des KI-unterstützten Finanzspiels zu denken. Die Arbeit (man wird vermutlich in absehbarer Zeit nach einer neuen Definition für dieses abhängige Handeln suchen) ist schließlich das, was beides verbindet.

*

Der Originaltext enthält einen ausführlichen Quellenapparat.

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus:


Buchcover

Georg Seeßlen: Chatbots, KI-Bildgeneratoren und Co. Wie Künstliche Intelligenz Alltag, Kultur und Gesellschaft verändert. Verlag Bertz + Fischer, Berlin 2024, 328 Seiten, 22 Euro