Ein fragwürdiger Polizeieinsatz in einem Göttinger Wohnkomplex

Die Schöner-Wohnen-Razzia

Die Stadt Göttingen sorgt sich um den Zustand einer Immobilie. Angeblich um die Wohnsituation für die größtenteils migrantischen Bewohner:innen zu verbessern, gab es zu früher Stunde unange­meldeten Besuch Hunderter Polizist:innen.

Schnell ist wieder weitgehend Ruhe rund um die Groner Landstraße 9–9b eingekehrt. Wenige Stunden zuvor umstellten noch Hunderte Polizis­t:in­nen das Gebäude am Rande der Göttinger Innenstadt und eifrige Reporter:in­nen wuselten umher. Während nun die letzten Polizist:innen in ihre Autos steigen und davonbrausen, ziehen die Journalist:innen weiter zum Neuen Rathaus. Dort hat die Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) zur Pressekonferenz geladen. Vor dem Gebäude protestieren rund 100 Linke.

Schon am Vorabend herrschte in den linken WGs der Stadt Anspannung: Die Polizei sei mit einem Großaufgebot in der Stadt. Es roch nach Hausdurchsuchungen. Ob eine solche am Folgetag stattgefunden hat, darüber streiten nun die politischen Lager. Denn gegen 5.30 Uhr am 9. April riegelten Polizeibeamte aus ganz Niedersachsen den Gebäudekomplex Groner Landstraße 9–9b ab und begannen, von Tür zu Tür zu gehen. Polizeidrohnen umflogen das Gelände, die Polizei vollstreckte fünf Haftbefehle. Erst am späteren Vormittag war es den Bewohner:innen, darunter zahlreiche schulpflichtige Kinder, möglich, nach einer Ausweiskontrolle die polizeilichen Absperrungen zu passieren.

Wenn es um die Unterstützung der Menschen gegangen wäre, hätte man das Gebäude am Tag, nach vorheriger Ankündigung und mit weitaus geringerer polizeilicher Begleitung aufsuchen können.

Die Groner Landstraße 9–9b ist eines von mehreren Gebäuden im südniedersächsischen Göttingen, die als »Problemimmobilien« gelten. Es macht einen unwirtlichen Eindruck. Im Innenhof sammelt sich der Sperrmüll. Allerhand Mythen kursieren in der Stadt um den eindrücklichen Plattenbau. Es geht um Armut, Drogen, Kleinkriminalität. Die 432 Wohneinheiten werden überwiegend von migrantischen und sozial deklassierten Menschen bewohnt. In vielen Fällen übernimmt das Sozialamt die Miete. Hier landet man nicht freiwillig. Und so schnell kommt man nicht wieder weg. »Groner 9a«, das ist ein soziales Stigma in der Stadtgesellschaft. Seit Jahren schieben sich kommunale Verwaltung und dubiose Immobilienfirmen den schwarzen Peter zu, wer für das Elend der Menschen verantwortlich ist.

Wenn man der Interpretation der Stadt folgt, wurde das Problem in der vergangenen Woche angegangen. Die »Ortsbegehung« habe, so eine Pressemitteilung, zum Ziel gehabt, »die Lebensumstände der Bewohner:innen zu verbessern«. Demnach wollte sich die Stadt einen Überblick über den Zustand der Immobilie und die Bedarfe der Bewohner:innen verschaffen. Diesen seien »Gespräche auf freiwilliger Basis« angeboten worden, so Sozialdezernentin Anja Krause, in deren Zuständigkeit der Gebäudekomplex liegt. Die Begleitung durch die Polizei sei »im Rahmen der Amts- und Vollzugshilfe« erfolgt, wird Rainer Nolte, der Leiter der örtlichen Polizeiinspektion, zitiert. Aufgrund zurückliegender Erfahrungen habe man angenommen, »dass die Kontrollteams auch mit einem aggressiven Verhalten der Be­wohne­r:in­nen rechnen müssen. Deshalb haben wir uns auf mögliche Einsatzszenarien eingestellt und auch einen entsprechenden Kräfteansatz gewählt.«

Ob sich auf diese Weise die Lebensumstände der Menschen in der Groner Landstraße 9–9b verbessern werden, erscheint zumindest fraglich. Wenn es um die Unterstützung der Menschen gegangen wäre, hätte man das Gebäude am Tag, nach vorheriger Ankündigung und mit weitaus geringerer polizeilicher Begleitung aufsuchen können. Der überdimensionierte Polizeieinsatz hingegen reiht sich in die Praxis der Stigmatisierung der Bewohner:innen ein.

Bereits im Juni 2020 hatte die Stadt Göttingen wegen ihres Umgangs mit den Bewohnern des Hauses in der Groner Landstraße Kritik auf sich gezogen.

Die Basisdemokratische Linke Göttingen sprach von einem Generalverdacht, unter den die Bewohner:innen gestellt würden, und von rassistischer Politik. Auch das Roma Antidiscrimination Network verurteilte das Vorgehen in einer Mitteilung scharf. Im Haus würden viele Roma leben, die Erfahrungen mit Polizeigewalt gemacht hätten. Selbst der örtliche SPD-Stadtverband übte deutliche Kritik am Vorgehen der Verwaltung unter Führung der sozialdemokratischen Oberbürgermeisterin Broistedt. Diese hingegen bewertete den Einsatz als Erfolg. Die Bewohne­r:in­nen des Hauses hätten die Mit­ar­bei­ter:in­nen der Stadt mehrheitlich freundlich begrüßt.

Bereits im Juni 2020 hatte die Stadt Göttingen wegen ihres Umgangs mit den Bewohnern des Hauses in der Groner Landstraße Kritik auf sich gezogen. Damals waren 120 der etwa 700 Be­wohne­r:in­nen positiv auf das Covid-19-­Virus getestet worden. Die Stadt riegelte mit polizeilicher Hilfe das Gebäude kurzerhand für eine Woche vollständig ab. Bei einer Demonstration gegen die Zwangsmaßnahme eskalierte die Lage: Die Polizei schritt gewaltsam ein, als sich Be­wohne­r:innen die Demonstration anschauen wollten.

Ende November 2023 urteilte das Göttinger Verwaltungsgericht, für die Absperrung des Gebäudekomplexes habe es keine rechtliche Grundlage gegeben. Seither klagen über 200 betroffene Personen auf ein Schmerzens­geld von insgesamt rund 880.000 Euro.