Rezensiert »Die Gewinner der Krise. Was der Westen von China lernen kann«

Erhard in China

Ein neues Buch über China und dessen Wirtschaftsleistung geht arg kritiklos mit der Politik des Landes um.

Die Berichterstattung über China in den bürgerlichen deutschen Medien schwankt zwischen Bewunderung und Empörung. Gelobt wird das Land wegen seines »Wirtschaftswunders«, verachtet wird China wegen seiner Menschenrechtsverletzungen. Felix Lee, Wirtschafts- und Politikredakteur der Taz, hat mit seinem Buch »Die Gewinner der Krise: Was der Westen von China lernen kann« eine provokante Hymne auf das Reich der Mitte verfasst. China habe, so Lee, die Weltwirtschaftskrise relativ unbeschadet überstanden, weil die Regierung die neoliberalen Exzesse des Westens nicht mitgemacht habe. Vorteilhaft für das Land sei, dass China noch über eine Wirtschaftsplanung verfüge und sie erfolgreich mit einer sozialen Markwirtschaft kombiniert habe.
Die Finanzkrise im Jahr 2008 ließ das US-amerikanische Bankensystem fast zusammenbrechen, nicht so das chinesische. Die Banken in China wurden zwar dem Wettbewerb ausgesetzt, trotzdem sind mindestens 50 Prozent ihres Aktienkapitals noch im staatlichen Besitz. Die Währung, der Yuan, ist international nicht frei konvertierbar, der Kapitalfluss bleibt in staatlicher Hand. Damit habe China verhindern können, dass sich angloamerikanische Hedgefonds oder »Währungs- und Devisenspekulanten« dort austoben. Lee lobt inbesondere die Privatisierung der Staatsindustrie in den neunziger Jahren unter Premierminister Zhu Rongji. Anstatt alle Unternehmen zu privatisieren, legte die Regierung fest, welche Unternehmen weiterhin unter staatlicher Kontrolle bleiben, zugleich aber für den Wettbewerb auf den nationalen und internationalen Märkten konkurrenzfähig gemacht werden sollten. Dazu schreibt Lee: »Zhus größte Leistung bestand darin, dass er Hunderte von maroden Staatsbetrieben konkurrenzfähig machte und damit Hunderttausende Arbeitsplätze sicherte«. Das ist, gelinde gesagt, eine interessante Interpretation, schließlich verloren einige Millionen Chinesen im Zuge dieser Reformen ihren Job. Inzwischen werden die radikalen Marktreformen der neunziger Jahre selbst in China zunehmend kritisch beurteilt.
Der Autor hat das gesamte Buch aus dem Blickwinkel der Regierung verfasst – und nicht aus dem der Menschen, die von Armut, Vertreibung und Ausbeutung in den Weltmarkfabriken betroffen sind. An einigen Stellen scheint es, als ob der Autor Ludwig Erhardt für den geistigen Vater der KPCh-Führung hält, die in China die Marktwirtschaft sozial gestalten wolle. Lee identifiziert sich so weit mit der Zentralregierung in Peking, dass er alle Absichtserklärungen für bare Münze nimmt. Davon zeugen Zwischenüberschriften wie »Mehr Lohn, mehr Würde« oder »Eine Stadtwohnung für jeden«. Dabei nennt Lee selbst Fakten, die diesen Analysen widersprechen. In China sollen 65 Millionen Wohnungen leer stehen. In Peking kostet Lee zufolge eine kleine Eigentumswohnung 20 Jahresverdienste eines Durchschnittsverdieners, im Unterschied zu fünf bis sieben Jahreseinkommen in entwickelten Ländern. Trotzdem glaubt Lee, dass die chinesische Regierung den hohen Leerstand geplant habe, um in Zukunft für die Millionen Wanderarbeiter Wohnraum zu schaffen. Derzeit dürfen sich diese und ihre Familien in den Städten überhaupt nicht niederlassen. Noch nicht einmal Angestellte können sich in Peking von ihrem Gehalt eine größere Mietwohnung im Zentrum leisten. Nachdem Millionen von Bürgern einfach aus ihren Wohnungen vertrieben worden waren, um Raum für teure Eigentumswohnungen zu schaffen, hat die Regierung erst in den vergangenen Jahren dieser Praxis Einhalt geboten.
Es gebe zwar in China auch einige Probleme mit Demokratie, Umweltverschmutzung und sozialer Ungleichheit, aber die zentrale Regierung habe diese Probleme erkannt, so Lee. Nebenbei wird erwähnt, die Weltbank schätze, dass in China 750 000 Menschen jährlich an Luft- und Wasserverschmutzung sterben. Lee meint aber, dass China auf dem richtigen Weg sei, leider würden unfähige lokale Kader und politische Hardliner für temporäre Rückschritte sorgen.
In den chinesischen Medien ist es üblich, lokale Kader als Sündenböcke für Missstände verantwortlich zu machen. Lee kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass die Absichtserklärungen der Zentralregierung, mehr soziale Gerechtigkeit und einige Verbesserung im Arbeitsrecht durchzusetzen, nicht auf reine Menschenfreundlichkeit zurückgehen könnten, sondern in den vergangenen zehn Jahren durch Tausende Streiks und Bauernunruhen hart erkämpft worden sind. Der Wiederaufbau eines Sozialstaats und Gesundheitssystems, die beide bisher nur einen Bruchteil der Bevölkerung erreichen, ist wohl auch auf die Angst vor einer Destabilisierung des Systems zurückzuführen. Trotzdem ist China immer noch eines der Länder mit den größten Einkommensunterschieden zwischen Arm und Reich weltweit.
Lees Eindruck, dass Meinungsfreiheit »nach und nach mehr« zugelassen würde, können viele Menschenrechtsorganisationen und Journalisten nicht bestätigen. Oft wird argumentiert, dass die Kontrolle der Medien- und Geisteswissenschaften heute wesentlich schärfer sei als in den neunziger Jahren unter Staatspräsident Jiang Zemin. Widersprüche passen allerdings nicht in die lineare Fortschrittserzählung von Lee. Er beschreibt die brutale ursprüngliche Akkumulation des Kapitals in China so: »Momentan betreibt Chinas Führung nichts anderes als eine Ordnungspolitik, die mal mehr und mal weniger den wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnissen John Maynard Keynes entspricht.« Diese These lässt sich nicht belegen, da sich die Regierung Ideen aus vielen unterschiedlichen Modellen aussucht. Vor allem spielt Steuerpolitik in China noch keine so zentrale Rolle wie in europäischen Staaten, da die Reichen vergleichsweise niedrige Steuern zahlen und die Bauern vor allem von lokalen Regierungen besteuert werden. Lee zufolge müsse China im Prinzip nur etwas demokratischer werden, und der Westen solle wieder den Staat stärken, um sich vor dem Finanzkapital zu schützen. Zeigen nicht die Beispiele Chinas and Westeuropas, dass es gerade der Staat ist, der die Unterwerfung immer größerer Bereiche der Gesellschaft unter das Kapitalverhältnis durchsetzt? In den deutschen Redaktionen ist Lee sicher nicht der einzige Bewunderer der Durchsetzungskraft eines Staats, der die Entstehung einer unabhängigen Arbeiterbewegung mit brutaler Repression verhindert und mit einer »chinesischen Mauer« das Internet zensiert. Die Krise in Griechenland lässt erahnen, dass der Staat auch im Westen autoritärer werden könnte.

Felix Lee: Die Gewinner der Krise. Was der Westen von China lernen kann. Rotbuch-Verlag, Berlin 2011, 189 Seiten, 12,95 Euro