Der Diktator bleibt allein

Irakische Oppositionsgruppen kooperieren mit den USA, die nationalreligiöse Mobilisierung in der arabischen Welt ist schwach. Der Krieg offenbart die Bruchlinien hinter dem Mythos der arabischen Einheit. von jörn schulz

Am frühen Morgen stoppte die Kolonne irakischer Panzer auf dem Sa’ad-Platz in Basra. Ihr Kommandant richtete sein Maschinengewehr auf eines der gigantischen Saddam-Porträts und wandte sich an die schnell zusammenströmende Menge: »Unsere Niederlage, Schande und Erniedrigung, Saddam, ist das Ergebnis deines Irrsinns, deiner Fehlkalkulationen und unverantwortlichen Aktionen.« Dann feuerte er eine Salve ab.

Bereits am Abend des 28. Februar 1991 war Basra in der Hand der Aufständischen, nach wenigen Wochen waren vierzehn der 18 irakischen Provinzen befreit. Doch die um die Stabilität der Region besorgte Kriegskoalition hatte kein Interesse am Sieg einer unkontrollierbaren Revolte, sie erleichterte dem irakischen Regime sogar deren Niederschlagung (Jungle World, 32/00).

Niemand in der irakischen Opposition und Bevölkerung hat die Ereignisse von 1991 vergessen. Die kurdischen Parteien KDP und Puk haben sich dennoch für die Zusammenarbeit mit den USA entschieden, zu der sie keine Alternative sehen. Nach Angaben des KDP-Sprechers Hoshyar Zebari kam es an der Grenze der Autonomieregion bereits zu ersten Gefechten zwischen irakischen Soldaten und kurdischen Guerillas, in die die US-Luftwaffe eingriff. »Die Nordfront wird bald eröffnet werden«, erklärte Zebari am vergangenen Samstag.

Eine militärische Kooperation der USA mit den Truppen des schiitischen Obersten Rats der islamischen Revolution (Sciri) scheint es derzeit nicht zu geben. Doch Sciri ist in die zwischen den irakischen Oppositionsgruppen und der US-Regierung ausgehandelten Vereinbarungen über die Nachkriegsordnung integriert, obwohl die Organisation in Teheran ihr Hauptquartier hat und ihre Truppen im Iran ausgebildet wurden. Der US-Regierung dürfte bewusst sein, dass die Beteiligung von Sciri an einer Nachkriegsregierung auch die iranische Position stärkt, dennoch war ihr dieses Bündnis wichtig.

Dies ist das bislang eindeutigste Zeichen dafür, dass die US-Regierung mit den derzeitigen politischen Konstellationen in der Region unzufrieden ist und eine kontrollierte Destabilisierung anstrebt. So wird eine Stärkung der Schiiten im Irak die diskriminierte schiitische Minderheit in Saudi-Arabien ermutigen, ebenfalls für eine größere politische Repräsentanz zu kämpfen. Und dies könnte es den USA erleichtern, der unwilligen fundamentalistischen Monarchie Reformen abzuringen, bevor es zu einer unkontrollierten Destabilisierung kommt.

Auch für die Kontrolle des Irak sind Verbündete mit Einfluss auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit unerlässlich. Mit Ausnahme der Profiteure und Komplizen des Regimes wird niemand im Irak Saddam Hussein eine Träne nachweinen. Bereits vor Kriegsbeginn häuften sich Berichte über offene Dissidenz und Widerstandsaktionen. Die USA haben mit ihrer Strategie in der ersten Kriegsphase versucht, den Widerspruch zwischen der Bevölkerung und dem Regime zu nutzen und zumindest die aus Wehrpflichtigen bestehenden Armeeinheiten zur kampflosen Kapitulation zu bewegen. Doch auch Saddam Hussein dürfte aus dem Aufstand von 1991 gelernt und Maßnahmen getroffen haben, um eine erneute Armeerebellion zu verhindern.

Ob die irakische Bevölkerung die US-Truppen als Befreier oder zumindest als geringeres Übel begrüßt, wird von den »Kollateralschäden« abhängen. Die bisher gültige US-Militärdoktrin, durch Luftangriffe eigene Verluste zu minimieren, würde bei der Belagerung der Großstädte viele Zivilisten das Leben kosten. Und noch ist unklar, welche Rolle die US-Militärverwaltung spielen wird und ob die USA unter regime change nur die Ersetzung der Regierungsspitze verstehen oder die von allen Oppositionsgruppen geforderte »Entba’athifizierung«, die Zerschlagung des gesamten Herrschaftsapparats.

Diese Fragen werden nicht nur das Verhältnis der USA zur irakischen Opposition und Bevölkerung bestimmen, sondern auch die Entwicklung der gesamten Region entscheidend beeinflussen. Bislang findet die Demokratisierungsrhetorik der US-Regierung in der arabischen Welt nur wenig Glauben. In den mit den USA verbündeten autokratisch oder diktatorisch regierten Staaten der Region ist von Reformdruck nichts zu spüren. Der Irakkrieg hat jedoch eine Debatte in Gang gesetzt, in der Bruchlinien offen gelegt werden, die der Mythos von der arabischen Einheit lange überdeckte.

Während jeder amerikanische Bombensplitter in einer Moscheewand empört kommentiert wird, stieß die Ermordung tausender schiitischer Geistlicher im Irak kaum auf Kritik der arabischen Öffentlichkeit. »Teile der politischen und intellektuellen Elite in der arabischen Welt bemühen sich energisch, sicherzustellen, dass ihre arabisch-schiitischen Mitbürger weiterhin von der Macht in Bagdad ferngehalten werden«, stellte Sayyid Ali al-Ridha, Mitglied des oppositionellen Irakischen Nationalkongresses (INC), in der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram fest. Dass diese Kritik überwiegend von Islamisten vorgetragen wird, ändert nichts daran, dass sie auf Strukturen rassistischer und religiöser Diskriminierung verweist, die fast jeden arabischen Staat prägen. Das von der irakischen Opposition beschlossene föderalistische Staatskonzept könnte eine erste Chance bieten, diese Strukturen aufzulösen. Eben deshalb stieß es auf heftigen Widerspruch bei den traditionalistischen Kräften in Regierungen und Opposition.

Die Mehrzahl der Demonstrationen, die in der arabischen Welt nach Kriegsbeginn stattfanden, erweckte den Eindruck, dass islamistische und nationalistische Emotionen dominieren. »Mit unserem Blut und unseren Seelen werden wir dich unterstützen, Saddam«, war die wichtigste Parole in Maan im Süden Jordaniens. »Tod Amerika! Tod Israel!« wurde in der jemenitischen Hauptstadt Sanaa gefordert.

Die Demonstration in Sanaa war mit 30 000 Teilnehmern bis zum Wochenende die größte, bislang wird die Zahl der Demonstranten in der 15-Millionen-Metropole Kairo in jeder durchschnittlichen deutschen Universitätsstadt übertroffen. Von dem prophezeiten »Flächenbrand« kann noch keine Rede sein, und dies ist nicht allein eine Folge der in fast allen arabischen Ländern gültigen Demonstrationsverbote. »Ich glaube nicht an die Ausrede der Repression«, schrieb Hani Shukrallah in der ägyptischen Zeitung Al-Ahram Weekly, die wichtigste Ursache sei vielmehr, dass die Araber »seit mehr als einem halben Jahrhundert den Nationalismus über jeden anderen Aspekt ihres politischen und sozialen Lebens gestellt haben«.

Tatsächlich scheint die »arabische Straße« differenzierter und realistischer zu denken als die Gilde der Nahostexperten. »Während die meisten Leute mit dem irakischen Volk sympathisieren, gab es fast keine Unterstützung für den irakischen Präsidenten Saddam Hussein«, stellte Shaden Shehab fest, die für Al-Ahram Weekly kurz vor Kriegsbeginn die Stimmung in Ägypten erkundete. Und als am Donnerstag der vergangenen Woche eine von proba’athistischen Gruppen angeführte Demonstration den Kundgebungsplatz vor dem UN-Gebäude in Beirut erreichte, räumten Linke und Umweltaktivisten das Feld. »Unsere Parole ist ›Kein Krieg, keine Diktatur‹, deshalb werden wir nicht an einer Demonstration teilnehmen, die Saddam verherrlicht«, erklärte die Studentin Noura Mourad der libanesischen Tageszeitung The Daily Star.

Weit weniger Menschen als vor zwölf Jahren scheinen bereit zu sein, nationalreligiösen Parolen zu folgen, die Repression und Verelendung im eigenen Land ausblenden. »Der Krieg betrifft nur die Reichen«, meint die von Shehab interviewte Friseuse Hend Mohamed, »denn für den durchschnittlichen Bürger, der nur ein paar Pfund Gehalt bekommt, können die Dinge wirklich nicht schlimmer werden.«