Rente gespart

Während der Hitzewelle in den vergangenen Wochen starben in Frankreich
mehr als 10 000 Menschen. Die Gründe dafür finden sich im maroden Gesundheitssystem. von bernhard schmid, paris

Notstand in der Notaufnahme« titelte die Boulevardzeitung Le Parisien Mitte August und berichtete von »neunstündigen Wartezeiten auf dem Krankenhausflur« und von einer aggressiven Atmosphäre. Auf den Titelseiten anderer Tageszeitungen war die Rede von einer »Explosion des Gesundheitssystems« oder dem »Erstickungstod der öffentlichen Krankenhäuser«.

Diese Berichte erschienen nicht in den vergangenen Wochen, sondern im August vergangenen Jahres. Denn alle Jahre wieder erklingt während des Urlaubsmonats die Klage über die extrem angespannte Situation im öffentlichen Gesundheitssystem.

Seit Beginn dieses Jahrzehnts hat sich die Situation deutlich verschärft, da während des Hochsommers, vor allem wegen des akuten Personalmangels, eine große Zahl von Krankenhausbetten nicht genutzt werden kann. Deswegen war abzusehen, dass nur ein äußerer Faktor verschärfend hinzukommen muss, um eine Krise von dramatischen Ausmaßen auszulösen.

Das war in den letzten Wochen der Fall. In Paris lag die Temperatur während acht Tagen nahe der 40-Grad-Marke. In der Mehrzahl der französischen Départements ging die canicule (Hundehitze), wie das Wetterphänomen allgemein bezeichnet wird, mit einer Dürreperiode einher, wie sie zum letzten Mal 1976 verzeichnet wurde. Vor allem im Süden und in der Mitte Frankreichs war seit Mai, in manchen Regionen sogar seit März, kein Regen gefallen.

Wie viele Menschen in Frankreich insgesamt an den direkten oder indirekten Folgen der Hitzewelle gestorben sind, ist derzeit noch nicht abzusehen. Mittwoch voriger Woche legten mehrere Beerdigungsinstitute die Zahl ihrer Aufträge in den vergangenen drei Wochen vor und verglichen sie mit der im Vorjahreszeitraum. Daraus ergaben sich mehr als 10 000 Tote über der durchschnittlichen statistischen Sterberate. Die Verstorbenen waren zu 80 Prozent ältere Menschen.

Auch die Regierung räumte inzwischen ein, dass die Zahl der Hitzetoten tatsächlich im fünfstelligen Bereich liegen muss. In ersten Stellungnahmen wies Regierungssprecher Jean-François Copé die Kritik der Opposition und vieler Medien am konservativen Kabinett, das verspätet reagiert und die »gesundheitspolitische Katastrophe« zu spät erkannt habe, allerdings zurück. Schuld trage vielmehr die sozialdemokratische Vorgängerregierung, die unverantwortlicherweise die 35-Stundenwoche auch für das Krankenhauspersonal eingeführt habe.

Seine Aussage ist nicht ganz falsch, aber er unterließ es, das entscheidende Detail zu formulieren. Die fatale Weichenstellung der Regierung von Lionel Jospin bestand darin, die Arbeitszeitverkürzung im Wesentlichen ohne zusätzliche Einstellung von Personal vorzunehmen. Während die privaten Unternehmen durch Nachlässe bei den Sozialabgaben – die mittlerweile zu Fehlbeträgen in den öffentlichen Sozialsystemen wie der Krankenkasse geführt haben – dazu animiert werden sollten, mit der Einführung der 35-Stundenwoche etwas mehr Personal einzustellen, blieb nahezu jede Neueinstellung im Bereich des öffentlichen Dienstes aus.

Der Staat als Arbeitgeber hatte entschieden, dass die Verkürzung von 39 auf 35 Stunden Wochenarbeitszeit ohne zusätzliche Ausgaben vonstatten gehen sollte. Andernfalls, wurde behauptet, drohten Sanktionen aus Brüssel, wegen »wettbewerbsverzerrender Subventionen an öffentliche Unternehmen«. Eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeiten sollte die Auswirkungen der 35-Stundenwoche auffangen.

Im öffentlichen Gesundheitswesen ging diese Rechnung natürlich nicht auf. Dort waren die Arbeitszeiten ohnehin schon variabel und der Personalmangel bereits spürbar. Die konservative Regierung reagierte im Vorjahr auf das Problem, indem sie für das dringend benötigte Krankenhaus- und Ärztepersonal die Regelungen zur Arbeitszeitverkürzung aufweichte. Sie erleichterte Überschreitungen der Regelarbeitszeit, wobei ein Teil davon mit Geld vergütet werden soll.

Eine weitere Ursache für das Fehlen von Krankenhausplätzen ist die Streichung von Bettplätzen durch die Zusammenlegung von Aufnahmekapazitäten auf regionaler Ebene. Diese Politik wurde vor allem seit 1995 verfolgt, nachdem die konservative Regierung ihr Programm zur Kontrolle und Senkung der Gesundheitsausgaben verabschiedet hatte. Die sozialdemokratische Regierung von Lionel Jospin hat diese Vorgehensweise im Grundsatz nicht in Frage gestellt, auch wenn sie nach einem mehrmonatigen Streik des Krankenhauspersonals im Oktober 2001 zusätzliche Mittel in Aussicht stellte.

Aufgrund der unerfreulichen Situation in den Krankenhäusern und des stressigen Arbeitsalltags sind die Pflegeberufe zudem wenig attraktiv. So waren etwa in der Ile-de-France, dem Pariser Großraum, vor einem Jahr gut fünf Prozent der verfügbaren Stellen für Krankenschwestern und -pfleger vakant.

Als Reaktion auf die harsche Kritik an der Regierung startete Premierminister Jean-Pierre Raffarin vergangene Woche eine Ablenkungskampagne. »Die Gesellschaft« solle sich verstärkt um ältere und allein stehende Menschen kümmern, da deren Einsamkeit ein »nationales Drama« darstelle. Allerdings sind nur 20 Prozent der Todesopfer der vergangenen Wochen tatsächlich allein Lebende. 80 Prozent der Todesfälle ereigneten sich in Krankenhäusern sowie Alten- und Pflegeheimen.

Das ist kein Wunder, hat doch die Regierung die Auszahlung von 180 Millionen Euro, die ursprünglich für dieses Jahr zur Verbesserung der Situation in den Altenheimen in Aussicht gestellt worden war, aus Spargründen blockiert. Bisher sind nur 80 Millionen Euro freigegeben worden. Zudem haben die Konservativen die Zahlungen für die erst 2001 eingeführte »Allocation personnalisé d’autonomie» deutlich reduziert. Mit dieser Hilfe zur Selbstständigkeit wurden ältere Leute unterstützt.

Die Sparpolitik im Gesundheitswesen hat bisher nicht dazu geführt, dass die Defizite der Sozialsysteme gesenkt werden konnten. Im Gegenteil. Die Schulden, vor allem der Krankenkasse, steigen immer weiter. In diesem Jahr voraussichtlich auf 16 Milliarden Euro. Verantwortlich dafür sind steigende Erwerbslosenzahlen, sinkende Sozialabgaben der Unternehmen oder Preisvorgaben durch die Lobby der Pharmaindustrie. Auch die Klientelpolitik gegenüber den selbstständigen Ärzten, deren Einkommen kurz nach dem Amtsantritt von Gesundheitsminister Jean-François Mattéi im Juni 2002 angehoben wurden, spielt eine Rolle.

Die nächste regressive Reform, kurz nachdem die Rentensysteme »erneuert« wurden, steht bereits vor der Tür. Im Herbst will die Regierung damit beginnen, das Krankenkassensystem zu reformieren. Doch die Aufregung um die sommerliche Sterbewelle wird die Durchsetzung die Pläne vermutlich erschweren. In Libération ließ Premierminister Raffarin bereits zur Beruhigung verlauten: »Die Senkung der Gesundheitsausgaben ist auf mittlere Frist ein Thema, das der Vergangenheit angehört.«

Zugleich machen die Konservativen keinen Hehl daraus, was sie unter einer Reform der Krankenkasse verstehen. Die öffentliche Krankenversicherung soll nur noch auf Hilfe bei schweren Krankheiten beschränkt werden. Der Rest bleibt dann privater Initiative überlassen.