Leben mit dem Massaker

In der Uno-Schutzzone Srebrenica wird dieses Wochenende eine lange geplante Gedenkstätte
eingeweiht. Dass der frühere US-Präsident Bill Clinton als Ehrengast kommt, interessiert die
Bewohner der ostbosnischen Kleinstadt nicht. Eine Reportage aus Srebrenica von markus bickel

Lazar Jeftic bedient jeden, das gehört für ihn zur Berufsehre. Aber natürlich hat auch der gelernte Kellner so seine Vorlieben. »Es würde mir große Freude bereiten, wenn ich Tito noch einmal etwas servieren könnte«, sagt der schmächtige, schnauzbärtige Mann, der gemeinsam mit seiner Frau Nada im meist menschenleeren Ortskern von Srebrenica eine kleine Cevandzinica betreibt, eine Art Imbiss. »Bei Milosevic täte ich das nur aus Höflichkeit.«

Mitte der siebziger Jahre hatte der 57jährige tatsächlich einmal die Gelegenheit, dem revolutionären Gründer des sozialistischen Jugoslawien den Teller auf den Tisch zu stellen. Damals arbeitete Jeftic noch als Kellner in einem der besten Restaurants Sarajevos. Jeden Morgen fuhr der Vater von zwei Kindern aus Ilijas, einem der traditionell serbisch dominierten Vororte der bosnischen Hauptstadt, ein paar Kilometer zu seiner Arbeitsstätte am Ufer der Miljacka. Seine Frau Nada bekommt heute noch feuchte Augen, wenn sie von der Weite und Großzügigkeit erzählt, die der 500 000-Einwohnerstadt vor Kriegsbeginn 1992 den Ruf als »Jerusalem des Balkans« einbrachten.

In Srebrenica ist von einer solchen Stimmung nichts zu spüren. Fünfzehn Minuten nur braucht man für den Gang vom einen zum anderen Ende des von zerschossenen Häuserfassaden und verdreckten Gassen geprägten Ortes, der in einem drei Kilometer langen und 800 Meter engen Tal liegt. Eingekesselt zwischen steilen Hängen auf beiden Seiten der im Stadtkern höchstens 200 Meter schmalen Talsenke, lässt sich heute nur erahnen, welchem Horror die Bewohner während der von Frühjahr 1992 bis Juli 1995 dauernden Belagerung durch die bosnisch-serbischen Truppen Radovan Karadzics, des damaligen Präsidenten der Republika Srpska, ausgesetzt waren.

Die Jeftics lebten zu dieser Zeit noch in Iljas, auf der serbischen Seite des Frontrings rund um die belagerte Hauptstadt Sarajevo. Weil der Ort in einer der von Karadzic und dessen General Ratko Mladic kontrollierten Gegenden Zentralbosniens lag, die nach Abschluss des Dayton-Friedensvertrags Ende 1995 der muslimisch-kroatischen Föderation zugeschlagen wurde, fühlten sie sich nach Kriegsende in ihrem Zuhause nicht mehr sicher: Zu sehr fürchtete die Familie Racheakte der in den Jahren zuvor an anderen Orten von bosnisch-serbischen Einheiten Vertriebenen. Heute lebt eine muslimische Familie in der Wohnung der Jeftics.

Während die inzwischen erwachsenen Kinder Anfang 1996 Arbeit in Serbien fanden, gingen die Eltern nach Srebrenica, wie Dutzende anderer bosnisch-serbischer Familien, die von Karadzic zum Umzug in die euphemistisch als »befreit« bezeichneten, bereits im Frühjahr 1992 von der nichtserbischen Bevölkerung »gesäuberten« Gebiete Ostbosniens ermuntert wurden.

Hier eröffneten sie die kleine Gaststätte »Boki«. Nur drei Tische und sechs Bänke stehen in dem Ladenlokal gegenüber dem einzigen Supermarkt der Gemeinde. Die spärliche Speisekarte und das halbe Dutzend aufeinander gestapelter Plastikstühle laden nicht wirklich zum Verweilen ein.

Auch Bill Clinton, der seinen Sieg bei den US-Präsidentschaftswahlen im November 1992 unter anderem der Kritik an George Bushs zögerlicher Bosnien-Politik zu verdanken hatte, wird am kommenden Samstag wohl kaum bei den Jeftics einkehren. Gemeinsam mit Paddy Ashdown, dem Leiter der in Dayton geschaffenen internationalen Protektoratsbehörde des Hohen Repräsentanten, dem bosnischen Präsidenten, Sulejman Tihic, und dem geistlichen Oberhaupt der bosnischen Muslime, Mustafa Cerica, kommt der frühere US-Präsident an diesem Tag in die Stadt, um das seit langem geplante Gedenkzentrum für die Opfer des Massakers einzuweihen, dem im Juli 1995 7 000 Kinder, Jugendliche und Männer zum Opfer fielen.

Wenn es in der Zeit überhaupt zu einem Besuch in Srebrenica selbst reichen sollte – das Gebäude der Gedenkstätte liegt sechs Kilometer weiter nördlich in Potocari, wo zur Zeit des Massenmords die in der Uno-Schutzzone stationierten niederländischen Blauhelmsoldaten ihr Hauptquartier hatten –, wird er wohl wie die meisten bisherigen prominenten Besucher eher bei den muslimischen Kollegen der Jeftics einkehren.

Ashdown und auch dessen Vorgänger Wolfgang Petritsch hatten bei ihren gelegentlichen Stippvisiten in der heute nur noch 2 000 Einwohner – die meisten davon bosnische Serben – zählenden Kleinstadt immer in der Gaststätte von Omer Spahic Station gemacht, die am anderen Ende des Platzes im Stadtzentrum liegt, wo auch die Jeftics ihre Cevabdzinica betreiben. Spahic lebte bereits vor dem Krieg in Srebrenica und ist einer von vielleicht 150 muslimischen Vertriebenen, die vor zwei, drei Jahren den Mut aufbrachten, sich wieder am Ort des größten Massakers in Europa seit Ende des Zweiten Weltkrieges niederzulassen. Seitdem vor rund einem Jahr am südlichen Ortsausgang Abdulah Purkovic eine weitere Gaststätte eröffnet hat und im ersten Stock Betten zur Übernachtung anbietet, ist die Konkurrenz für das serbische Pärchen in der Ortsmitte jedoch noch größer geworden.

Das inzwischen wieder fast vollständig renovierte Haus Purkovics war eines der ersten, die Mladic beim Einmarsch in die Stadt am Spätnachmittag des 11. Juli 1995 gemeinsam mit mehreren Hundert Soldaten passierte. Ein Triumphzug für den vom Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen des Massakers von Srebrenica angeklagten General: Seit Beginn des Krieges im Frühjahr 1992, als bosnisch-serbische Paramilitärs begannen, die nichtserbischen Bewohner im Osten der früheren Tito-Republik entlang des nur zehn Kilometer von Srebrenica entfernt verlaufenden bosnisch-serbischen Grenzflusses Drina systematisch zu vertreiben, war die Enklave der Führung Karadzics in Pale ein Dorn im Auge. So wie in Zepa und Gorazde verteidigte sich hier die Bevölkerung gegen die serbischen Belagerer, womit das Ziel Karadzics und Mladics, ein zusammenhängendes Territorium zu schaffen, das eines Tages Serbien angeschlossen werden könnte, durchkreuzt wurde.

Purkovic wohnte in diesen Julitagen vor acht Jahren schon längst nicht mehr in dem von Granateinschlägen übersäten Haus, sondern organisierte als Logistikchef des von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen betriebenen Krankenhauses die Versorgung der mehr als 40 000 Flüchtlinge, die aus den Dörfern der Umgebung in den Ort geströmt waren. Ein Job, der ihn Tag und Nacht ausfüllte und der am Ende seine Rettung bedeuten sollte. »Männer sind für mich keine Zivilisten«, hat Mladic einmal erklärt. Deshalb entgingen auch nur einige bosnische Mitarbeiter der in Potocari stationierten, »Dutchbats« genannten niederländischen Blauhelmsoldaten dem Abtransport in die umliegenden Gemeinden, wo die Mehrzahl der männlichen Flüchtlinge später erschossen wurde.

Nach Ende des Krieges ging Purkovic ins rund vierzig Kilometer von Srebrenica entfernte Tuzla. Seit seiner Rückkehr vor knapp einem Jahr steht der 55jährige von morgens um sechs bis abends um elf in der Küche oder bessert Schäden am Haus aus, um die Erinnerungen an den Verlust der Freunde und die Schrecken der Belagerung zu vertreiben. »Wenn ich nicht so viel arbeiten würde, wäre ich schon längst verrückt geworden«, sagt er.

Etwa zur gleichen Zeit, als Mladics Truppen am 11. Juli an Purkovics Haus vorbei die steile Straße hinunter ins Dorfzentrum marschierten, hielt Clinton in Washington eine Pressekonferenz ab, auf der er erklärte, dass den USA die Bedeutung des bevorstehenden Falls der Stadt bewusst sei. Die US-Geheimdienste hatten ihren Präsidenten schon Wochen zuvor über die bevorstehende Offensive Mladics unterrichtet. Wie zum Hohn auf das Schutzversprechen, das die Vereinten Nationen den Bewohnern der Enklave gegeben hatten, erklärte der Ehrengast des kommenden Wochenendes: »Lassen Sie mich sagen, dass ich um die Menschen besorgt bin, die dort sind, und ich bin besorgt um die Unprofor-Truppen – die Niederländer –, die dort sind.«

Doch das von Clinton und anderen westlichen Regierungschefs immer wieder versprochene letzte Mittel zur Rettung der ins Lager der rund 450 niederländischen Blauhelme geflohenen Bosnier blieb aus: Weshalb die vom niederländischen Lagerkommandanten Ton Karremans angeordneten Luftschläge nie durchgeführt wurden, ist bis heute ungeklärt. Auch der von Uno-Generalsekretär Kofi Annan 2001 vorgelegte Abschlussbericht, eine Untersuchung des französischen Parlaments und der 7 000-Seiten-Report des niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (Niod) konnten darauf keine schlüssige Antwort geben. Höchstrangiger General der Unprofor-Schutztruppe war im Sommer 1995 Bernard Janvier. Dieser habe den Antrag auf Luftangriffe zwar erhalten, aber nicht weitergegeben, heißt es in dem niederländischen Bericht, dessen Veröffentlichung im April vergangenen Jahres zum Rücktritt der Regierung Wim Koks führte.

Während niederländische Soldaten Mladics Truppen halfen, die Flüchtlingsfrauen in Bussen und Lastwagen zu platzieren, die zur Weiterfahrt nach Tuzla bereitstanden, der nächstgelegenen Stadt in muslimischer Hand, wurden die Männer zu Schießständen, Sportplätzen oder verlassenen Gehöften in Bratunac und anderen Orten in der Umgebung deportiert und dort erschossen.

Hunderten anderen, die sich, weil sie die Machtlosigkeit der Uno-Soldaten geahnt hatten, gar nicht erst in das Lager in Potocari begeben hatten, sondern durch die Wälder im Westen Srebrenicas auf muslimisch kontrolliertes Territorium entkommen wollten, misslang die Flucht. Mladics Soldaten hatten längst die Schlupflöcher am Stadtrand blockiert und schossen auf alles, was sich bewegte.

Entschuldigen für das Versagen der internationalen Gemeinschaft und der Soldaten seines Landes wollte sich der niederländische Ministerpräsident Kok trotzdem nicht, als er im Juni vergangenen Jahres mit dem Bürgermeister von Srebrenica durch die leeren Straßen der vor dem Krieg florierenden 8 000-Einwohner-Stadt lief. »Wir sind keine Mörder«, rechtfertigte sich Kok, schießlich hätten bosnisch-serbische Soldaten unter Führung von Mladic die Schutzzone gestürmt und dann den Massenmord begangen. Immerhin räumte der Premier ein, dass es sich bei der kampflosen Übergabe der zwei Jahre zuvor vom Uno-Sicherheitsrat eingerichteten Schutzzone um ein »schwarzes Kapitel in einem Buch« handele, »das nie geschlossen werden kann«.

Schon im Frühjahr 1993 hatten die Umstände bei der Schaffung der Schutzzone offen gelegt, wie widersprüchlich das Mandat und die Realisierung der Uno-Mission in Bosnien (Unprofor) waren. Zu dem Zeitpunkt sahen sich die muslimischen Verteidiger in der Stadt nach anfänglichen Erfolgen kaum in der Lage, die rund 50 000 nach Srebrenica Geflohenen vor den bosnisch-serbischen Belagerern zu schützen. Nur durch gelegentliche Ausbrüche der städtischen Einheiten – wegen Übergriffen gegen serbische Zivilisten wurde deren Kommandeur Naser Oric, ehemals Leibwächter Slobodan Milosevics, im April dieses Jahres an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag überstellt – ließ sich der Fall der Enklave schon zu Beginn des Krieges verhindern.

Alarmiert von Berichten von aus Srebrenica Geflohenen, machte sich deshalb im März 1993 der damalige französische Unprofor-Oberkommandierende, General Phillipe Morillon, in die verschneite Ortschaft an der Grenze zu Serbien auf und verkündete unter dem Druck der hungernden Bewohner das vielleicht folgenschwerste Versprechen in der Geschichte der Weltorganisation: »Sie befinden sich jetzt unter dem Schutz der Vereinten Nationen.«

Zwar ließen Mladics Truppen in der Folge von Morillons Besuch ein paar Hilfstransporte mehr in die Enklave als in den Wochen zuvor. Einen Monat nach seiner Abreise aber starteten bosnisch-serbische Einheiten den bislang schwersten Angriff auf die Stadt. Die verbliebenen muslimischen Verteidiger erklärten sich bereit, Srebrenica aufzugeben. Als der Sicherheitsrat daraufhin beschloss, dem Versprechen Morillons zumindest formal nachzukommen, vermieden es seine Mitglieder allerdings, den durch das Völkerrecht klar definierten – und mit erheblichen Schutzverpflichtungen verbundenen – Begriff des »sicheren Zufluchtsorts« (»safe haven«) zu wählen

Stattdessen einigte man sich am 16. April auf die Einrichtung einer eher unverbindlichen Schutzzone (»safe area«), rund 120 kanadische Soldaten trafen am Tag nach der Sicherheitsratsentscheidung in Srebrenica ein. Später im selben Jahr sollten vier weitere belagerte Städte diesen Status erhalten. Unabhängig davon, dass bis Ende des Krieges lediglich 7 000 und nicht die vom damaligen Uno-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali geforderten 34 000 Blauhelme zum Schutz der ostbosnischen Enklaven entsandt wurden, sprengten die Vereinten Nationen damit endgültig ihr Prinzip, sich auf keine der drei kriegsführenden Seiten zu schlagen. Auch die in ihrer Charta klar festgelegten Grenzen zwischen Friedenserhaltung und Friedensschaffung wurden aufgegeben. Den Schutz vor neuen Angriffen, den sie den eingekesselten Flüchtlingen versprochen hatten, konnten sie ihnen nie anbieten.

Aber nicht nur wegen des tatenlosen Zuschauens der ausländischen Möchtegernhelfer beim Massenmord ist Unmut über die ausgebliebene internationale Unterstützung heute weit verbreitet. Nach dem Einmarsch der serbischen Einheiten gab der niederländische Oberkommandierende Karremans Mladic selbst sein Einverständis zum Abtransport der Frauen und Mädchen aus dem Unprofor-Lager; vergeblich warteten die vor Srebrenica Eingekesselten auf die von den niederländischen Blauhelmen immer wieder versprochenen Bombardements serbischer Stellungen.

Der Ärger über fehlende Zukunftsperspektiven richtet sich neben ausländischen Angestellten des im Ort ansässigen Uno-Entwicklungsfonds UNDP und dem lokalen Vertreter des Hohen Repräsentanten Ashdown auch gegen einheimische Politiker. Weil in der entlegenen, in Titos Jugoslawien wegen ihrer Zink- und Bauxitvorkommen florierenden Region kaum Aussicht auf die Schaffung neuer Arbeitsplätze besteht, haben sich bislang höchstens 150 muslimische Vertriebene in die Stadt zurückgetraut. Und viele der nach Kriegsende zum Zuzug gezwungenen 2 000 Serben zieht es zurück in die Nähe der Hauptstadt.

»Wie wollen die Stadträte die Leute denn vom Bleiben überzeugen, wenn nicht einmal die Hälfte von ihnen selbst in Srebrenica wohnt?« fragt auch Lazar Jeftic enttäuscht, der an manchen Tagen weniger als eine Hand voll Gäste in dem kleinen Lokal im Ortskern begrüßen kann. Alle Hoffnung auf Hilfe von außen haben er und seine Frau in ihren sieben trostlosen Jahren in Srebrenica verloren. Mit Politik will der Tito-Verehrer nichts mehr zu tun haben. »Von leeren Versprechungen werde ich nicht satt«, sagt er.

Die wird es wohl auch am Wochenende geben, wenn Clinton sowie über hundert weitere bosnische und ausländische Vips nach Potocari kommen werden. Was hatte doch Ende März der Hohe Repräsentant Ashdown gleich wieder gesagt, als auf dem neu geschaffenen Friedhof gegenüber der künftigen Gedenkstätte die ersten 600 Toten des Massakers begraben wurden? »Die internationale Gemeinschaft ist sich ihrer historischen Pflicht nur zu bewusst, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Erst wenn das geschehen sein wird, ist diese Aufgabe erledigt.«