Die Welt ist gar nicht internett

Warum es mit der digitalen Gerechtigkeit nicht klappt. von burkhard schröder

Eine digitale Gerechtigkeit gibt es so wenig wie einen »gerechten Preis« oder einen »herrschaftsfreien Diskurs«. Information ist eine Ware. Wer über Information verfügt, besitzt Macht. Es wäre also ein Wunder, würde der Weltgipfel über die Informationsgesellschaft in Genf etwas beschließen können, das die ehernen Gesetze des Kapitalismus in Frage stellte.

Ein »digitaler Graben« trennt diejenigen, die das Internet und seine Dienste heute nutzen können, und die, die dies aus unterschiedlichen Gründen nicht können. Diese Kluft existiert – das wird niemanden überraschen – zwischen den Industrieländern und den früher so genannten Entwicklungsländern. Auch innerhalb der westlichen Gesellschaft verläuft diese Grenze.

Ein Graben verläuft schon seit mehreren Jahrhunderten zwischen denen, die über Produktionsmittel verfügen und andere für sich arbeiten lassen können, und denen, die sich ausbeuten lassen müssen. Wer über Information und den Zugang zu ihr die Machtfrage stellen will, will den Schwanz mit dem Hund wedeln lassen. Wer den Zugang zum Internet als umstürzlerisches Instrument ansieht, ist naiv. Das Internet sei die mächtigste Waffe der Freiheit, sagt zum Beispiel Vinton G. Cerf, Internet-Pionier der ersten Stunde. In seinem Vorwort zum neuen Report der Menschenrechtsorganisation »Reporter ohne Grenzen« »The Internet Under Surveillance« warnt er vor der Zensur des Internet durch Regierungen weltweit. In vielen Ländern stehen Zeitungen, Radio- und Fernsehstationen unter der Kontrolle des Staates oder sind verboten. Das Internet ist für die Bürgerinnen und Bürger oft das einzige Medium, sich unabhängig zu informieren und um selbst zensierte Nachrichten zu verbreiten.

In 60 Ländern gibt es zum Teil massive Einschränkungen der Informationsfreiheit im Internet. Das gilt nicht nur für Diktaturen oder autoritär regierte Staaten, sondern auch für Demokratien. Vinton G. Cerf erinnert daran, dass es eben nicht nur um die »freedom of free speech« geht, sondern auch darum, dass jeder das Recht und die Möglichkeit hat, sich zu informieren. Das Internet verbreite Wahrheit und Lüge gleichermaßen. Das Gegengift gegen falsche, ekelhafte oder schlicht unsinnige Informationen sei aber nicht die Zensur, mahnt Cerf, sondern »mehr und bessere Informationen«.

Aber das darf bezweifelt werden. Auch bisher konnte man sich über Mund-zu-Mund-Propaganda unzensiert informieren. Es war nur umständlich – wie Brieftauben oder Trommeln über große Entfernungen. Warum kommt aber jemand auf die Idee, der Zugang zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) könnte »Entwicklung und Wohlstand« fördern oder gar garantieren? Wer was wissen darf, war schon immer eine Frage der Macht. Und die Mächtigen, wer auch immer das jeweils ist, wollen diese Frage in ihrem Sinne entscheiden.

China, Vietnam, Malaysia und Tunesien beispielsweise propagieren die Förderung des Internets als Maßnahme ökonomischer Entwicklung und investieren in dessen Verbreitung. Gleichzeitig sind sie die schärfsten Widersacher der Freiheit im Netz: Ein falscher Klick kann Nutzerinnen und Nutzer für Jahre hinter Gittern bringen. Das Medium Internet hat in China einen rasanten Aufschwung genommen, für die chinesische Regierung ist es technisch unmöglich, den E-Mail-Verkehr zu kontrollieren. Den Zensoren steht aber ein weit gefächertes Instrumtarium zur Verfügung, um die rund 60 Millionen Nutzer einzuschüchtern: Internet-Cafés werden immer wieder geschlossen, die Lizenzinhaber überwacht. Gegen Dissidenten, die im Internet publizieren, geht die chinesische Regierung mit äußerster Härte vor. Ein Appell an die chinesische Regierung, das zu ändern, würde ungehört verhallen.

In den meisten europäischen Ländern wurden nach dem Terroranschlag des 11. September Gesetze erlassen, die es den Behörden erlauben, die Surfer im Internet auszuspionieren, ihr Verhalten zu protokollieren oder gar ihre Mails zu lesen, falls diese nicht verschlüsselt worden sind. Das Antiterrorgesetz verpflichtet die Zugangsanbieter in Deutschland seit Januar 2002, den Geheimdiensten und der Polizei Zugang zu ihren Netzen zu gewähren und Informationen über die Nutzer an die Dienste zu liefern. Internetprovider müssen Lauscheinrichtungen installieren und auf Abruf Verbindungsdaten und die Mailkommunikation an die »Bedarfsträger« in Echtzeit übermitteln. Bis 2005 soll es den »gläsernen User« geben. Auch in Frankreich und in Großbritannien versuchen die Regierungen, sich den Zugriff auf die E-Mails zu sichern und per Gesetz Bürger zu verpflichten, im Einzelfall codierte Nachrichten im Klartext herauszurücken.

Der Unterschied zwischen den Industriestaaten und den armen Ländern besteht darin, dass die einen Informationen zensieren, die anderen hingegen den Zugang zu ihnen. Es muss aber bezweifelt werden, dass diese Themen in Genf ernsthaft angegangen werden. Die Diskussion über digitale Gräben gerät daher in Gefahr, zu einer reinen Imageshow zu verkommen.

Claude Moisy, ehemaliger Direktor bei Agence France Presse (AFP) und Berater der Unesco zum Thema Pressefreiheit, hat sich auf die Frage, ob die Vereinten Nationen ein Verbündeter im Kampf für die Informationsfreiheit im Internet sein könnten, sehr pessimistisch geäußert, zumal die Kluft zwischen armen und reichen Ländern immer größer wird und die Mehrheit der Weltbevölkerung auch auf lange Sicht vom Internet ausgesperrt bleiben wird. Das Internet habe sich »chaotisch« entwickelt, so Moisy, und die Gefahr bestehe, das viele Regierungen die dezentrale und anarchische Stuktur des Mediums zum Anlass nähmen, jetzt eine »Ordnung« in ihrem Sinn einzuführen.

Wie das begründet wird, ist jeweils zufällig und willkürlich: Zensur werde ausgeübt in Namen einer »Moral«, weil es vorgeblich gegen (Kinder-) Pornografie und um den Kampf gegen den Terrorismus gehe. Das Recht auf freie Information sei aber ein elementares und universal gültiges Recht, das nationalen Interessen übergeordnet sein müsse. Falls die Medien verhinderten, dass irgendjemand seine Meinung verbreite – in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen, aber auch auf Websites, verletzte das die Menschenrechte.

Die UN hat sich in der Vergangenheit geweigert, die Situation in China und Kuba kritisch zu kommentieren. Einige der Mitglieder der Kommission gehören zu den Ländern, die die Menschenrechte am häufigsten missachteten.

Der zweite Teil des Weltinformationsgipfels wird 2005 in Tunis in Tunesien abgehalten werden, dessen Präsident von »Reporter ohne Grenzen« zu einem der ärgsten »Feinde des Internet« erklärt worden ist. Man darf davon ausgehen, dass die Diskussion über den digitalen Graben vornehmlich dazu dient, die IT-Industrie in die Lage zu versetzen, ungehemmt zu expandieren und die Ware Information in ihrem Sinn profitabel vermarkten zu können.

Wer also lediglich den Zugang zu Informationen, zum Internet und seinen Diensten fordert und das mit einer politischen Aussage verwechselt, vertritt den freien Markt in seiner reinen Form. Nur: Wem nützt das? Jeder soll alles kaufen können, zu vernünftigen Preisen. Auch Informationen. Man könnte das konsequent zu Ende denken: Der Kapitalismus soll sich endlich weltweit durchsetzen. Das bedeutet Wohlstand und Fortschritt für alle. Aber wer glaubt denn sowas.