»Deutschland ist nicht der Nabel der Welt«

Von Ivo Bozic

In Osteuropa fehlt es oft an Strukturen und an Geld, um professionell Lobbyarbeit betreiben zu können. Ein Gespräch mit jörg litwinschuh

Jörg Litwinschuh ist Leiter des Zentrums für Migranten (»Miles«) beim Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD).

Gibt es seit der EU-Erweiterung einen verstärkten Austausch mit Lesben und Schwulen in osteuropäischen Ländern?

Ja, es gibt einen verstärkten Austausch, denn die EU-Erweiterung hat z. B. dazu geführt, dass die Touristenströme aus Osteuropa zunehmen, und somit reisen auch Lesben und Schwule vermehrt zu den großen Demonstrationen und Festivals nach Deutschland, vor allem nach Berlin.

Kommen auch viele Lesben und Schwule, um endgültig in Deutschland zu bleiben?

Darüber habe ich keine Erkenntnisse. Die deutschen Metropolen, von Berlin über Köln bis Hamburg, üben natürlich eine gewisse Faszination, eine Sogwirkung auf viele Schwule und Lesben in den neuen EU-Ländern aus. Diese Freizügigkeit innerhalb der EU ist ja auch sehr zu begrüßen. Trotzdem ist unser Ziel, dass Leute ihr Land nicht wegen Homophobie und Diskriminierung verlassen müssen. Solch eine Entwicklung beobachten wir also mit einem lachenden und einem weinenden Auge.

Ist die Situation für Lesben und Schwule in Osteuropa denn grundsätzlich anders als im Westen?

Es gibt dazu keine wissenschaftlich validen Erkenntnisse, wir können uns nur auf eine Vielzahl von Einzelmeinungen stützen. Gerade in den EU-Ländern, die stark von der katholischen Kirche geprägt sind, oder auch in denen, wo die Demokratie noch nicht so weit fortgeschritten ist, sind Vorurteile und Klischees gegenüber Lesben und Schwulen leider immer noch sehr stark verbreitet. In Polen etwa hat die Kirche mit ihrem reaktionären Gedankengut einen enormen Einfluss. Speziell die Verquickung von sehr konservativen katholischen Einflüssen und alten kommunistischen Machtstrukturen macht es schwul-lesbischen Institutionen sehr schwer, in einigen der neuen EU-Ländern Fuß zu fassen.

In Spanien und Italien beispielsweise hat die katholische Kirche ebenfalls einen großen Einfluss.

Zwar ist die Schwulen- und Lesbenbewegung in Italien oder Spanien nicht so stark wie etwa in den skandinavischen Ländern oder auch in Deutschland, aber sie ist wesentlich stärker als die in den neuen EU-Ländern. Sie ist schon viel länger aktiv und verfügt über ganz andere Strukturen und Finanzmittel, um professionell Lobbyarbeit betreiben zu können. Die neue spanische Regierung verfolgt zudem eine sehr liberale Homopolitik. Außerdem haben sich in den neuen EU-Ländern bisher nur wenige Prominente getraut, sich zu outen. Solche Vorbilder und Idole können Meinungsbildungsprozesse sehr positiv beeinflussen.

Ist für Lesben und Schwule in Osteuropa der EU-Beitritt also eine Chance?

Bereits vor der EU-Erweiterung haben sich dort Menschenrechtsorganisationen und schwul-lesbische Bürgerrechtsgruppen gebildet. Aber sicherlich müssen die neuen Länder die EU-Standards erfüllen, was einiges Positives bewegen wird. Allerdings hängt das vor allem auch davon ab, wie die jeweiligen Bewegungen finanziell oder ideell unterstützt werden. Deshalb werden derzeit von deutschen Organisationen massiv polnische Gruppen unterstützt. Es gab z.B. schlimme Übergriffe gegen Schwule in Krakau. Jetzt hat sich über alle Parteigrenzen hinweg eine Zusammenarbeit zwischen westlichen und östlichen EU-Ländern entwickelt. Es wird zum Beispiel Geld gesammelt, um Organisationen in Krakau und Warschau Starthilfe zu geben.

Eine Art Länderpartnerschaft. Und Polen ist der Schwerpunkt?

Richtig. Es ist das bevölkerungsreichste Land im Osten. Einige kleinere Länder sind im Demokratisierungsprozess, der oft auch mit wirtschaftlichem Erfolg zusammenhängt, viel weiter. Die baltischen Republiken beispielsweise entwickeln sich mit einer enormen Geschwindigkeit im positiven Sinne.

Ist Deutschland für sie ein Vorbild?

Es gibt Länder, wo die gesetzliche und politische Entwicklung wesentlich weiter vorangeschritten ist. In Skandinavien und den Niederlanden sind eingetragene Partnerschaften längst mit der Ehe gleichgestellt. Das ist schon eher ein Vorbild. Aber wenn man bedenkt, was Lesben und Schwule in Deutschland auf die Beine stellen, mit ihren riesigen Demonstrationen und der politischen Lobbyarbeit, dann ist das sicherlich ein Ideal. Aber Deutschland ist nicht der Nabel der Welt.

Welches sind die größten Probleme in Deutschland?

Die rot-grüne Bundesregierung, die Opposition und auch andere demokratische Institutionen und Verbände interessieren sich derzeit wenig für Lesben und Schwule. Das hat viel mit der wirtschaftlichen Situation und dem Strukturwandel in Deutschland zu tun, ich sage nur Hartz IV. Da treten Minderheitenthemen völlig in den Hintergrund. Aber mit dem bisherigen Lebenspartnerschaftsgesetz ist es nicht getan, weil dort vor allem Pflichten, jedoch kaum Rechte festgeschrieben sind. Es gibt noch sehr viel zu tun.

interview: ivo bozic