Wenn schon, denn schon!

Von Ivo Bozic

Realityshows müssen so finster und trashig sein wie die Wirklichkeit selbst. von ivo bozic

Der Deutsche erzählt keine Judenwitze. Das macht man nicht. Und der Deutsche schon gar nicht. Schließlich hat er ja aus der Geschichte gelernt. Antisemitismus – das ist dem Deutschen heutzutage völlig fremd.

Ist es das, was als Aussage über unsere Fernsehschirme flimmern soll? Dass man 15 Menschen über Wochen, Monate und, wer weiß, Jahre in eine Hütte stecken kann, ohne dass auch nur für Minuten ihr tief verankerter Rassismus oder Antisemitismus oder auch Sexismus zum Ausdruck kommt? Nein, nein, wenn schon Reality, dann richtig! Die Zeiten sind schwarz, macht uns nichts weis! Es gibt nur einen einzigen Grund, sich diese Realityscheiße anzuschauen: um das Ausmaß der Katastrophe zu erkennen, um die Tiefe des Abgrundes ermessen zu können, um uns die letzten dummen Illusionen aus dem Kopf zu jagen, um zu sehen, wie elend es um die diversen revolutionären Subjekte bestellt ist, ja, um uns ein für alle mal klarzumachen, dass das Sein nicht automatisch das Bewusstsein bestimmt, dass der Mensch zum Mond fliegen, Brüste vergrößern und sich mit Robotern kreuzen kann, während er immer noch der paranoide, xenophobe Affe ist, als der er einst vom Baum stieg.

Mal davon abgesehen, dass man, ein Faible für Trash vorausgesetzt, diese unterirdisch schlecht gemachten Fernsehformate durchaus genießen kann: sie sind auch lehrreich. Oder sagen wir so: Sie könnten es sein. Big Brother, Nachmittags-Talkshows, Kämpf um deine Frau, Häuser renovieren, Schönheitschirurgen am Werk, Polizeistreifen, Gerichtsshows – das alles verrät mehr über den Zustand dieser Gesellschaft als fein herausgeputzte Tatort-Folgen mit immer gerechten Kripo-Beamten und zumeist hanebüchenen Storys, die pausenlose Comedy-Dauerberieselung oder ein vierstündiges Festival der Volksmusik. Das Problem an den Realityshows ist nicht, dass sie so gnadenlos realistisch sind. Das Problem ist, dass sie nicht realistisch, oder sagen wir authentisch genug sind. Warum schlagen die Fernsehstreifenbullen nie jemanden krankenhausreif? Warum müssen die Big-Brother-Bewohner keine Hartz-IV-Bögen ausfüllen?

Natürlich sind die Idioten aus der Gerichtsshow Schauspieler und zuweilen werden sogar fürs Studiopublikum von Billigtalkshows Statisten angeheuert. Der Skandal ist nicht, dass Franzi oder Michele, oder wie sie auch heißen mögen, so wie sie es zu Hause nach drei Bier tun, auch im Big-Brother-Haus Judenwitze erzählen, sondern dass zwei armen Mitarbeitern von Premiere, die die dortige 24stündige Live-Übertragung auf vermutlich mindestens 15 Monitoren gleichzeitig verfolgen müssen, gekündigt wird, nur weil sie nichts schönen, nichts verklären wollten – oder einfach ein kurzes Nickerchen hielten.

Richtig ist, dass die Bayerische Landeszentrale für neue Medien strafrechtliche Konsequenzen fordert. Wer in der Öffentlichkeit den Holocaust verharmlost und antisemitische Witze erzählt, der muss damit rechnen, juristisch belangt zu werden. Und wenn er draußen von der Antifa noch einen Arschtritt bekommt, umso besser. Unfug ist, deswegen die Ausstrahlung von Realityformaten einstellen zu wollen. Entweder man zeigt dort das wahre Leben, oder man lässt es ganz. Worüber sich natürlich reden ließe.

Es wird von Redaktionen und Sendern nicht zu wenig eingegriffen in das Realityformat »Big Brother«, sondern zu viel. Würde man einfach 24 Stunden die Kamera auf diesen Beklopptenbunker draufhalten, wie es Premiere mehr oder weniger macht, bekäme das ganze eine dokumentarische Qualität. Doch je mehr inszeniert wird, je mehr aus dem grenzenlosen Bilderangebot eine Story zusammengeschraubt wird, desto höher müssen natürlich die Ansprüche an den Sendeinhalt sein. RTL II darf selbstverständlich keine Geschichte konstruieren und senden, in der sich unwidersprochen über den Holocaust amüsiert wird. Der Zusammenschnitt, den RTL II sendet, folgt einem Drehbuch, erfindet eine Story, und zwar so, dass möglichst viele Leute zuschauen.

Mit Judenwitzen Quote machen, das wäre in der Tat pervers. Wenn es jedoch gelänge, wirklich reales Realityfernsehen zu machen, dann erfährt dies seine Berechtigung nur über eine gewisse Authentizität. Und wenn die Wirklichkeit ein finsterer Horrorladen am Rande des Hades ist, dann kann die Forderung nicht sein, das Fernsehen zu einem gemütlichen, politisch korrekten Wohnzimmer zu machen, und das Tischdeckchen gerade zu rücken.