»Kooperativen zu gründen, reicht nicht aus«

Fernando Haddad

Wegen der Massenarbeitslosigkeit in den siebziger Jahren organisierten sich immer mehr brasilianische Arbeiter in selbst verwalteten Betrieben. Inzwischen gibt es sehr viele Kooperativen. Doch nicht alle werden mit dem Ziel der kollektiven Solidarität gegründet. Mit Fernando Haddad, dem Vizeminister des Bildungsministeriums, sprach Astrid Schäfers über die Möglichkeiten des »neuen Kooperativismus«.

Sehen Sie in der Gründung von Kooperativen eine erste Form des Widerstands gegen die Lohnarbeit?

In der Bewegung des »Kooperativismus«, die im 19. Jahrhundert in England entstand, regte sich zum ersten Mal Widerstand gegen das System der Lohnarbeit. Die Arbeiter erhoben sich gegen die Lohnkürzungen, organisierten sich in Gewerkschaften und gründeten die ersten Kooperativen. Eine Kooperative ermöglicht die Überwindung der despotischen Arbeitsteilung in der Fabrik.

Was meinen Sie mit despotischer Arbeitsteilung?

Die Arbeit in einem Verband geht über das System der Lohnarbeit hinaus, denn die Figur des Lohnherren fällt weg. Die Person, die die Produktion der Kooperative koordiniert, wird von den Arbeitern bezahlt, anstatt das von ihnen produzierte Kapital zu repräsentieren. Die Arbeiter sind zwar ihre eigenen Herren, reproduzieren aber das System der Ausbeutung der Arbeit.

Und wie soll sich der »Kooperativismus« durchsetzen?

Was die Organisation der Arbeit angeht, so hat Karl Marx bereits die Grenzen und Möglichkeiten von Kooperativen aufgezeigt. Eine Kooperative hat in der Marxschen Perspektive nur Sinn, wenn sie ein Größenexperiment ist, wenn sie einen großen Teil der lokalen Wirtschaft absorbiert, modernste Technik benutzt und innovativ ist.

Glauben Sie nicht, dass Innovation zu Individualismus führt, der im Gegensatz zum Prinzip der kollektiven Verantwortung steht?

Dem Soziologen Joseph Schumpeter zufolge wird der Geschäftsmann durch das Kollektiv ersetzt. Die meisten Erfindungen und Innovationen entstehen durch kollektive Arbeit. Damit meine ich Kollektive, die von Firmen eingesetzt werden, Arbeiter usw.

Aber wenn Sie sich zum Beispiel das Monopol von Bill Gates ansehen, dann besitzt er das Patent für seine Erfindung und das Monopol. Und er kassiert die Einnahmen von dem Verkauf seiner Erfindungen.

Das Problem liegt hier beim Patent und nicht bei der technischen Innovation. Der Prozess der technischen Entwicklung ist ein anderes Thema. Gates hat überhaupt nichts erfunden. Er hat sich die Erfindung angeeignet und hat sie patentiert. Die kapitalistische Firma bemächtigt sich heute mit dem Patent der Erfindungen der eigenen Arbeiter.

Sie glauben also, dass Erfindungen aus Gruppenarbeit hervorgehen?

Heute ja. Das Problem besteht heute darin, dass die Erfindung das Resultat kollektiver Arbeit ist, die Aneignung aber individuell geschieht. Wenn Sie zum Beispiel Microsoft mit Linux vergleichen.

Aber viele multinationale Unternehmen arbeiten mit Linux.

Zum Nachteil von Microsoft. Das System von Linux ist für kollektive Arbeit konzipiert.

Sie sagen auch, dass eine Kooperative wie eine kapitalistische Firma funktionieren muss.

Ich denke, sie muss den Maßstab einer kapitalistischen Firma haben. Intern nicht, aber extern muss eine Kooperative fähig sein zu überleben, in einer Umgebung, die ihr feindlich gegenübersteht. Sonst wird sie verdrängt.

Wie kann eine Kooperative dann andere Kriterien als die der kapitalistischen Profitlogik haben?

Die Gründung von Kooperativen, Vereinen usw. ist nicht ausreichend. Darin besteht die Unzulänglichkeit des »Kooperativismus«. Marx sagt, dass die Kooperative, die innerhalb der kapitalistischen Wirtschaft geschaffen wird, mehr eine Falle als ein Instrument der Emanzipation ist. Es gibt z.B. viele Kooperativen in Brasilien, die gegründet werden, um das Arbeitsrecht zu umgehen, also um keine Sozialversicherung zu bezahlen. Der »Kooperativismus« muss eine nationale Dimension haben, um die bestehende Anarchie der Produktion zu überwinden. Er ist keine hinreichende Bedingung für eine grundlegende Veränderung. Die zunehmende Entstehung von Kooperativen in Brasilien, in denen die Arbeiter die Produktionsmittel besitzen und die eine demokratische Struktur aufweisen, ist ein unumkehrbarer Prozess. Aber diese müssen ein enormes Ausmaß annehmen, um die Logik der materialistischen Reproduktion der Gesellschaft zu verändern. Das kann in einer Marktwirtschaft nicht erreicht werden. Die Wirtschaft wird sich nicht mit kooperativistischen Experimenten ändern. Man kann nicht exemplarische Fälle herausgreifen und sagen: »Guck mal, was für eine schöne Kooperative hier! Eine andere Welt ist möglich.« Man kann nicht mit exemplarischen Fällen eine andere Welt schaffen.

Glauben Sie, dass die aktuelle Regierung die Organisation in selbst bestimmten und selbst verwalteten Betrieben und Vereinigungen fördert?

Die Regierung Lula ist keine sozialistische Regierung. Wir haben hier eine Regierung mit einer sozialdemokratischen Perspektive, die die Umverteilung von Einkommen fördern will und gegen soziale Ausgrenzung ankämpft. Das Konzept der Regierung Lula unterscheidet sich von meinem Konzept der Organisation einer Gesellschaft.

Wie soll der gesellschaftliche Umschwung erreicht werden?

Von den Arbeitern, die sich organisieren, die Zugang zu Krediten und zu Technologie haben, und zu Bildung. Der Umschwung muss von der Arbeiterklasse ausgehen. Die Arbeiterklasse müsste die notwendige politische Macht erlangen, um die assoziativen Kräfte zu befreien und die Produktion auf einer neuen Basis zu organisieren, auf der Basis des kollektiven Besitzes. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass sich eine alternative »solidarische Ökonomie« durchsetzt, die auf Freiwilligkeit beruht. Dies muss authentisch gemacht werden.

Und wie soll die Arbeiterklasse die politische Macht erlangen?

Indem sie ein alternatives Gesellschaftsprojekt schmiedet, dass sie heute nicht hat. Die Arbeiter haben kein alternatives Gesellschaftsprojekt. Ich glaube, wir sind immer noch Witwen der Stalinschen Sozialdemokratie.

Was halten Sie von dem Gesellschaftsprojekt der Landlosenbewegung MST?

Sie verfolgen ein interessantes Projekt. Ich glaube, die Gewerkschaften könnten eine bedeutende Rolle in einem Umwälzungsprozess spielen, wenn sie die Grenzen der Lohnarbeit aufzeigen würden. Aber die Arbeiter heute wollen lohnabhängig sein.

Und sie glauben, es ist besser »cooperado« oder »associado« zu sein?

Klar.

Aber das Problem ist auch, dass Freiheit viel verlangt. Die Arbeiter müssen bereit sein, Zeit für Versammlungen und Abstimmungen zu opfern.

Freiheit verlangt nichts. Das einzige Problem der Freiheit ist, dass man sie erst liebt, wenn man sie praktiziert.

Siehe auch Seiten 16/17