Let’s Go Europe!

Die Debatte über die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist von Geschichtsvergessenheit gekennzeichnet. von udo wolter

Die Debatte um den möglichen EU-Beitritt der Türkei gehörte zu den ideologisch aufgeheizten Dauerbrennern des vergangenen Jahres. Nicht nur dank der CDU, die offenbar wild entschlossen ist, populistischen Treibstoff für ihren Bundestagswahlkampf aus der Debatte zu destillieren, wird uns dieses Thema wohl auch weiterhin erhalten bleiben. Es lohnt sich daher, eine neben all den die Debatte dominierenden kulturalistischen Zuschreibungen und sicherheitspolitischen Erwägungen weitgehend ausgeblendete Dimension in Erinnerung zu rufen: die gemeinsame europäisch-türkische Geschichte.

Die Türkei ist derart als Teil eines »islamisch geprägten Kulturkreises« orientalisiert worden, dass diese Geschichte, so sie denn erwähnt wird, entweder als randständige Episode erscheint oder mit einer düsteren Aura des Scheiterns versehen wird. Das hängt sicherlich mit der deutschen Wahrnehmung der türkischstämmigen Bevölkerung zusammen, deren Einwanderung das sichtbarste Ergebnis der jüngeren türkisch-deutschen Geschichte ist. Vor allem bei der CDU ist die Verknüpfung der Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei mit der anhand der türkischstämmigen MigrantInnen geführten Integrations- und Leitkulturdebatte nicht zu übersehen. Ähnlich wie das prinzipiell begrüßenswerte Umdenken beim lange von Verharmlosung und Unkenntnis gekennzeichneten Umgang mit islamistischen Tendenzen unter Migranten ist auch die Beurteilung der politischen Entwicklungen in der Türkei von kulturalistischer Abgrenzung überlagert. Im Vordergrund steht anscheinend weniger eine kritische Einschätzung der softcore-islamistischen Regierung Erdogan als die identitätsstiftende Abgrenzung Europas gegen ein orientalisches Außen.

Das zeigt etwa das aus den unterschiedlichsten Richtungen zu vernehmende, unsäglich ressentimentgeladene Argument, durch die Aufnahme der Türkei werde die auf eine angeblich gemeinsame kulturelle Identität gegründete »christlich-abendländische Schicksalsgemeinschaft« (Münchner Merkur) der EU sich auf das Niveau »nur einer Freihandelszone zurückentwickeln« (taz).

Kulturgemeinschaft versus schnöden Kommerz, so also lautet gemeinhin das antimoderne Ressentiment. Nicht zufällig wird in diesem Zusammenhang auch gerne ventiliert, dass die USA den Europäern die Türkei aus rein machtpolitischem Kalkül oder gar noch Ärgerem aufdrängen würden. Hinsichtlich des hierbei auch meist ins Feld geführten »steuerungspolitischen Arguments« der Überforderung der EU durch die schiere Größe der Türkei ist Herfried Münkler völlig zuzustimmen, der dies in der Frankfurter Rundschau als bloße »Camouflage des identitätspolitischen Arguments« einer kulturalistisch abgegrenzten Euro-Identität einstuft.

Im folgenden soll nicht von der »islamischen«, sondern von der modernen Türkei und deren Geschichte die Rede sein, die im Schlechten wie im Guten eine europäische ist. Selbst von den wenigen Stimmen, die wie Zafer Senocak in der taz die »Negierung« und »Ausgliederung der türkischen Moderne aus dem europäischen Kontext« scharf kritisieren, wird diese oft auf die 80 Jahre seit dem definitiven Ende des osmanischen Reiches durch Ausrufung der türkischen Republik begrenzt. Das ist jedoch zu kurz gegriffen, weil damit immer noch der europäische Kontext erheblicher Teile der osmanischen Geschichte ausgeblendet wird.

Der in Ankara lehrende Politikwissenschaftler Norman Stone führt diesen gemeinsamen Kontext sogar bis auf die byzantinischen Einflüsse und politischen Allianzen islamischer mit orthodox-christlichen Herrschern in den Anfängen des osmanischen Reiches zurück. Das mag hilfreich sein, um die Willkür moderner West-Ost-Identitätsabgrenzungen vorzuführen. Es geht aber an der Sache vorbei, weil dabei vormoderne, dynastisch und aristokratisch bestimmte Herrschaftsbeziehungen mit modernen kapitalistischen Verhältnissen gleichgesetzt werden (was ähnlich auch für die ständigen Verweise auf die Bedeutung frühislamischer Wissenschaft für das früh-neuzeitliche Abendland gilt).

In der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei ist daran zu erinnern, dass das osmanische Reich spätestens seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zunehmend in den kapitalistischen Weltmarkt eingebunden wurde und der politisch-militärischen, vor allem aber wirtschaftlichen Durchdringungspolitik seitens der imperialistischen Mächte Europas ausgesetzt war.

Allerdings ist dabei hervorzuheben, dass sich zwar die wirtschaftlichen Beziehungen zum industrialisierten Europa etwa im Außenhandelsbereich einem kolonialen Muster – Industriegüterimporte und Rohstoffexporte, ungleiche Verträge, Schuldenbankrott etc. – annäherten, sich die »hohe Pforte« (so nannte man den osmanischen Hof) aber politisch als durchaus handlungsfähig erwies. Sowohl die vollständige Kontrolle durch ausländisches Kapital wie die »Übernahme« durch einzelne Großmächte wusste der Hof zu verhindern. Vor diesem Hintergrund konnte auch Preußen bereits 1838 durch die Entsendung von Militärberatern wie Helmut von Moltke eine Art informeller Kolonialpolitik beginnen, die später im wilhelminischen Kaiserreich mit dem Projekt der Bagdad-Bahn zur vollen Entfaltung kam.

Die osmanischen Eliten reagierten, waren in diesem Prozess jedoch nicht nur Getriebene, sondern verstanden es, im Interesse von Reichserhalt und Machtsicherung, im »Konzert der Großmächte« durchaus auch als moderne Akteure aufzutreten. Etwa indem sie in den vierziger Jahren ein großangelegtes staatliches Industrialisierungsprojekt begannen und, weitaus bekannter, die unter dem Begriff tanzimat geläufigen Staatsreformen nach westlichem Vorbild durchführten. Damit wurden Prinzipien einer allgemeinen und gleichen Staatsbürgerschaft eingeführt, die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts klar mit den traditionell gültigen Rechtsgrundlagen der Scharia brachen und dem Osmanischen Reich 1876 sogar, wenn auch zunächst nur vorübergehend, eine konstitutionelle Regierungsform nach europäischem Vorbild und im Jahr darauf Parlamentswahlen bescherten.

Zu den Ergebnissen der osmanischen Modernisierung gehörte die Ausbildung einer militärisch-bürokratischen sowie schmalen bürgerlichen Elite, die westlich gebildet und orientiert war und sich Ende des 19. Jahrhunderts aus den städtischen Oberschichten praktisch aller Provinzen des Reichs rekrutierte. In diesem Milieu entwickelte sich eine gesellschaftliche Öffentlichkeit mit kulturellen Clubs und politischen Vereinigungen, die sich an der europäischen Aufklärung orientierten. Die Übernahme der Staatsmacht durch die jungtürkische Bewegung 1908 sowie der nachfolgende Befreiungskrieg und die Republikgründung unter Mustafa Kemal Atatürk sind ohne diesen mindestens 80jährigen Vorlauf einer europäischen Westorientierung der osmanischen Staatseliten nicht zu denken.

Die Türkei – bzw. das Osmanische Reich – ist somit seit über 150 Jahren Teil der modernen kapitalistischen Entwicklung Europas. An der hatte sie keineswegs nur als von außen gesteuerte »Halbkolonie« teil, sondern als zwar peripherer, aber eine durchaus eigene Modernisierungsdynamik entwickelnder Akteur. In vieler Hinsicht vollzog sich diese Entwicklung ähnlich wie in Italien oder südosteuropäischen Ländern. Jeder Versuch, die Türkei durch die Zuordnung zu einem wie auch immer imaginierten »islamischen Kulturkreis« aus der europäischen Modernisierungsgeschichte auszuschließen, kommt daher europäischer Geschichtsverleugnung gleich.

Auch die Tatsache, dass die Ideologie und Praxis des Kemalismus staatsautoritär und despotisch daherkam, erklärt sich keineswegs in erster Linie aus irgendwelchen Traditionen einer »asiatischen Despotie«, sondern eher aus den spezifischen Bedingungen einer im europäischen Kontext unter imperialistischem Druck als »verspätete Nation« entstandenen Entwicklungsdiktatur. Davon zeugt u.a. die Tatsache, dass die Gesetze der neuen Republik neben der Ausrichtung am französischen Zentralismus und Laizismus auch Anleihen beim Arbeits- und Strafrecht des faschistischen Italien Mussolinis machten. Auch ideologische Charakteristika des Kemalismus wie das extreme Einheitsdenken mit seiner Leugnung von Klassenverhältnissen und ethnisch codierter Differenz, vor allem der kurdischen Minderheit, erklären sich aus dieser Konstellation.

Der paranoide, zu ständigen Verschwörungstheorien neigende Mainstream der politischen Kultur in der Türkei, der sich interne Konflikte mit linken oder kurdischen Bewegungen gern als ausländische oder vorzugsweise armenische Machenschaften zur »Schwächung und Zerstückelung der Türkei« imaginiert, erklärt sich ebenfalls vor diesem Hintergrund. Der türkische Nationalismus ist, gerade weil sein Selbstbild Züge eines antikolonialen Befreiungsnationalismus trägt, ein »gereizter Nationalismus«, bei dem antiwestliche und auch antisemitische Ressentiments schnell zur Hand sind. Dieses Feld bestellte sowohl die extreme Rechte um Alparslan Türkes wie der türkische Islamismus eines Necmettin Erbakan (dessen erste Partei nicht zufällig »nationale Heilspartei« hieß), aus dem die sich als in der europäischen Zivilgesellschaft angekommen gebende jetzige Regierungspartei AKP hervorgegangen ist, die einen gemäßigten Islamismus vertritt.

Wie aktuell paranoide Ressentiments gegen die Armenier dort immer noch sind, zeigte jüngst Regierungschef Erdogan, als er in Frankreich das dort anstehende Referendum zum EU-Beitritt der Türkei mit der Bemerkung kommentierte, er habe »nicht gewusst, dass in Frankreich 400 000 Armenier ein Referendum zu Fall bringen können«.

Die immer noch ausstehende Anerkennung des Genozids an den Armeniern durch die Türkei ist denn auch ein weiteres häufig genanntes Beitrittskriterium. Natürlich ist scharf zu kritisieren, dass die Geschichtsleugnung der an den Armeniern verübten Verbrechen in der Türkei bis heute quasi Staatsdoktrin ist. Aber auch dieses Verbrechen ist ohne den Kontext der Krisen kapitalistischer Modernisierung und der damals überall in Europa grassierenden Formen mörderischen Identitätswahns nicht zu denken.

Historiker des Genozids weisen darauf hin, dass die damals tatsächlich auf Zerstückelung des osmanischen Reiches zielenden Mächte des europäischen Imperialismus mit ihrer »Interventionspolitik in humanitärem Gewand« (Yves Ternon) erheblich zum Anheizen der Stimmung gegen die Armenier im krisengeschüttelten osmanischen Reich beitrugen. Nicht zuletzt ist auch an die bis heute verdrängte Mitverantwortung des deutschen Reiches und seiner Generalität zu erinnern.

Das relativiert keineswegs die türkischen Verbrechen an den Armeniern. Aber diese Mitverantwortung ist gerade in Deutschland allen in Erinnerung zu rufen, die nur allzu selbstgefällig unter Verweis auf »unsere vorbildliche Vergangenheitsbewältigung« von der Türkei ein Schuldbekenntnis als Eintrittskarte zur EU verlangen.

Auch die Geschichte staatlicher Menschenrechtsverletzungen und Folter ist in der Türkei trotz gewisser Verbesserungen keineswegs beendet. Eine Zurückweisung der Beitrittsbemühungen der Türkei dürfte jedoch auch zu einer antiwestlichen Reaktion führen, die alle Fortschritte der letzten Jahre in Sachen Demokratisierung und Menschenrechte zunichte machen könnte.

Meist werden zwei mögliche Formen genannt, die ein solcher Backlash annehmen könnte: entweder ein Rückfall in die staatsautoritäre Dominanz des Militärs oder eine antiwestliche Islamisierung. Da der Einfluss des Militärs durch eine Reihe von Reformen, wie die Abschaffung der berüchtigten Staatssicherheitsgerichte, substanziell zurückgedrängt und damit auch dessen Rolle als Laizitätswächter geschwächt wurde, halte ich im Gegensatz zu den meisten Kommentatoren eine Islamisierung für weit gefährlicher.

An den öffentlich bekundeten säkular-demokratischen Zielen der AKP sind bereits jetzt erhebliche Zweifel angebracht. Außerdem hat sie es in ihrer kurzen Regierungszeit geschafft, die guten Beziehungen der Türkei zu Israel erheblich zu beschädigen, indem sie das israelische Vorgehen gegen palästinensische Terrorbanden wie die Hamas als »Staatsterrorismus« und dergleichen bezeichnete, womit sie allerdings nur allzu gut in die EU passt. Auch ohne jede EU-Affirmation aber liegen meiner Einschätzung nach die Chancen einer Stärkung und Unterstützung emanzipatorisch-säkularer Kräfte in einer sich in die EU integrierenden Türkei wesentlich besser als in einer sich von der EU abwendenden.

Doch zu dieser Unterstützung müssten Linke hierzulande erst noch willens und in der Lage sein. Bisher wurde hier die Geschichtsvergessenheit der kulturalistischen und orientalistischen Argumentation von Beitrittsgegnern aus dem konservativen und liberalen Mainstream kritisiert. Diesem Mainstream ist aber auch von einer Linken bemerkenswert wenig entgegengesetzt worden, die sich vor Jahren noch im Rahmen eines Türkei- und Kurdistan-solidaritätsbewegten Aktivismus über die imperialistische Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen von der Bagdad-Bahn bis zu Waffenlieferungen an das 1980 installierte Putschregime des 12. September die Finger wundgeschrieben hat.

Offenbar ist auch hier gerade in dem Moment eine gewisse Geschichtsvergessenheit eingekehrt, wo es um die Kritik an der kulturalistischen Verdrängung dieser deutsch-europäischen Türkei-Geschichte geht. Das hat u.a. wohl mit einem falschen Blick auf den Kemalismus zu tun. Um Befürchtungen vorab zu zerstreuen: Es geht dabei nicht um eine »Rehabilitierung« des Kemalismus. Aber die Linke war in Deutschland, soweit sie sich mit der Türkei beschäftigt hat, stets so auf den staatsautoritären und repressiven Charakter des Kemalismus fixiert, dass sie dessen spezifische Dialektik verkannt hat.

Natürlich ist es richtig, dass sich emanzipatorische, an der gesellschaftlichen Befreiung der Individuen orientierte Bestrebungen immer nur gegen die staatsautoritäre Zwangsvergesellschaftung des kemalistischen Staates richten konnten und von diesem in aller Regel blutig unterdrückt wurden. Gleichzeitig konnten sie dies aber nur auf den gesellschaftlichen Grundlagen tun, die eben dieser Staatskemalismus durchgesetzt hat, wie etwa formale Rechtsgleichheit, Säkularisierung, kurz: »Verwestlichung«.

Diese Dialektik der zwangsweise durchgesetzten kapitalistischen Modernisierung konnte aber schon früher mit dem antiimperialistischen Weltbild nicht angemessen erfasst werden, das die deutschen mit den meisten türkischen Linken teilten und in dem der Kemalismus unter kaum mehr als so etwas wie »Kompradorenbourgeoisie« firmierte.

Ab den neunziger Jahren taten dann eine zunächst über die Kurdistan-Solidaritätsbewegung beförderte Ethnisierung des Blicks auf die Türkei sowie die sich parallel dazu entwickelnde Kulturalisierung linken Politikverständnisses ein Übriges. Über die zunehmende Beschäftigung mit kulturellen »Identitäten« wie Kurdentum und Islam geriet materialistische Gesellschaftskritik als Grundlage eines kritischen Geschichtsbewusstseins offenbar immer mehr aus den Augen. So lässt sich zumindest teilweise erklären, warum anscheinend den meisten Linken zu der mit unsäglich kulturalistisch-orientalistischen Argumenten geführten Kampagne gegen den EU-Beitritt der Türkei heutzutage nicht viel einfällt.