Kapitalismus mag er nicht

Mit seinem populistischen Antikapitalismus will Franz Müntefering vor
der Wahl in Nordrhein-Westfalen für die SPD retten, was zu retten ist.
von jörg sundermeier

Die deutschen Sozialdemokraten sind Mitglieder der Sozialistischen Internationalen (SI), und dennoch sagt der Vorsitzende der SPD im Interview, dass er den Sozialismus gar nicht haben wolle. Allerdings, und diese Töne sind neu von Franz Müntefering: »Kapitalismus mag ich auch nicht.«

In der vergangenen Woche zeigte sich Müntefering, der bis dahin, wie jedes andere prominente Mitglied seiner Partei, vom Dissidenten Oskar Lafontaine mal abgesehen, von »notwendigen Einschnitten« im sozialen Bereich und der unvermeidlichen Stärkung der nationalen Wirtschaft sprach, fast als Klassenkämpfer. Der Kapitalismus gehe zu weit, sagte Müntefering in einer »Grundsatzrede«, und im Interview mit Bild am Sonntag meinte er, eine bestimmte Schicht von Leuten aus der Wirtschaft und auf den internationalen Finanzmärkten vernichte Arbeitsplätze, ohne an die Menschen zu denken.

Er ging sogar so weit, Namen zu nennen. »Bei vielen stimmt die Unternehmerethik. Bei manchen aber auch nicht. Dazu zähle ich zum Beispiel den Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, wenn er eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent zum Ziel erklärt und bei gewachsenen Gewinnen am selben Tag ankündigt, 6 400 Menschen zu entlassen.« Und weiter meinte Müntefering: »Die Wirtschaft muss wissen: Sie ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.«

Die Wirtschaft aber weiß offenbar nicht jede Situation richtig einzuschätzen, weshalb sich ihre Vertreter viel zu laut gegen den neuen »Linkskurs« Münteferings (Spiegel online) wehrten und ihm dadurch noch zusätzliche Aufmerksamkeit verschafften. Münteferings Äußerungen stellten eine »Rolle rückwärts weg von Godesberg« dar, sagte der Vorsitzende des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Jürgen Thumann, er verschärfe »wieder das innerhalb der SPD fast schon überwundene Misstrauen gegenüber dem Markt und dem Wettbewerb«. Martin Kannegiesser, der Präsident des Unternehmerverbandes Gesamtmetall, hingegen stellte nüchtern fest: »Die allgemeine Kapitalismuskritik, wie sie Herr Müntefering äußert, zeigt, dass die Kritiker mit ihrem Latein am Ende sind.«

Denn die Wirtschaft weiß immerhin, dass die Menschen selbstredend für sie da sind, man arbeitet ja nicht, weil man eine Wirtschaft braucht, sondern die Wirtschaft braucht Arbeitskräfte. Doch für Müntefering, den Sozialisten ohne Sozialismus, ist irgendwas schon irgendwie Kritik. Sein Satz, Ackermanns Entlassungsankündigung »deprimiert die Menschen und raubt ihnen das Vertrauen in die Demokratie«, zeigt, dass er nicht nur seinen Marx oder Bebel nicht kennt, auch fürs simpelste Staatsdenken hat’s nicht gereicht. Die Demokratie als Arbeitgeber?

Müntefering ruft nach einem starken Staat, der die »wachsende Macht des Kapitals« eindämmen möge, und insbesondere der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) jubelt ihm zu. Steinbrück erkannte in Münteferings Rede »eine Ansprache an die eigenen Leute«. Der Grund hierfür ist augenscheinlich: Kurz vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen, die der SPD verloren zu gehen droht, wird eben mit allen Mitteln daran gearbeitet, die Niederlage doch noch abzuwenden.

Da darf es auch ein bisschen Genörgel am Kapitalismus sein, wie es auch der niedersächsische Fraktionsvorsitzende Sigmar Gabriel drauf hat. Er unterstützte Müntefering, denn die »Fundamentalisten bei CDU, FDP und im Arbeitgeberlager« wollten zurück ins vorletzte Jahrhundert und predigten letztlich »den Nachtwächterstaat, der sich aus der Wirtschaft herauszuhalten hat und keinerlei soziale Spielregeln setzen darf«, sagte er der Welt am Sonntag. Dieses Gerede soll bei den Wählerinnen und Wählern die mit den Hartz-Gesetzen eingeführten »sozialen Spielregeln« vergessen machen.

Bei den Grünen, die vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen gleichfalls nicht gut aussehen, ist ebenfalls der Kampf um die Minister- und Fraktionsposten ausgebrochen. Joschka Fischer, nach dem sie immer rufen, wenn nichts mehr zu machen ist, soll es richten, und zwar mit einer im Fernsehen übertragenen Vernehmung vor dem Visa-Untersuchungsausschuss.

Dass dort einerseits wildes Stirnrunzeln und Betroffenheitsblicke zu sehen sein werden, andererseits eine an Dreistigkeit kaum zu überbietende Selbstherrlichkeit, steht außer Frage. Interessanter ist, dass diejenigen, die sich noch immer für die Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechtes loben, ohne großes Zögern in die Litanei all jener eingestimmt haben, die eine »Missbrauchsgefahr« im Osten witterten und eine postsowjetische Arbeiterarmee einmarschieren sahen.

Jedenfalls kann die rot-grüne Regierung in Nordrhein-Westfalen ebenso wenig wie das Kabinett in Berlin große Erfolge vorweisen. Für den Ausstieg aus der Atomenergie, das Dosenpfand oder den zunehmenden Gebrauch erneuerbarer Energien lassen sich die Wählerinnen und Wähler nur dann begeistern, wenn es ihnen selbst verhältnismäßig gut geht. Die neue Sozialgesetzgebung, die mit der Senkung der Unternehmenssteuern einhergeht, die Eintreibung von Studiengebühren, die Marginalisierung von Armen und Alten, all das, was der Regierung »notwendig« erscheint, vergrault ihre Klientel. Die Grünen, deren Stammwählerinnen und -wähler zu den Betuchteren gehören, verlieren zwar nicht wesentlich an Zuspruch. Die derzeit einzig möglich erscheinende Partnerin für die Regierungsbildung aber, die SPD, wird bei Wahlen gegenwärtig regelmäßig gestutzt, die Zahl ihrer Parteimitglieder geht seit Jahren zurück und ist auf dem niedrigsten Stand seit 50 Jahren.

Nicht nur jede Landtagswahl zeigt erneut, dass eine SPD, die die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht einmal mehr mit einer verräterischen Rhetorik veralbern will, sondern sich gleich gar nicht mehr für sie und ihre Belange interessiert, auch von niemandem gebraucht wird. Eine »Autokanzler«-Partei ersetzt die christdemokratische Unternehmerpartei nicht, ein bisschen Öko überzeugt keinen Feng-Shui-Seminarleiter davon, die Sozis diesmal den Grünen vorzuziehen, und eine Spaßpartei ist die SPD nun beileibe nicht.

Da aber von der durchschaubaren und vor allem so billigen, da folgenlosen Linkstümelei von Müntefering und Co. auch keine Umkehrung des Trends mehr zu erwarten ist, bleibt der SPD nur, auf ein Wunder zu hoffen. Bis zur Wahl im Jahr 2006 dürfte diese Regierung jedenfalls kaum noch eine Politik machen können, die nicht die Gnade der Christdemokraten findet.

Und was ist mit dem von Müntefering so hart angegangenen Kapitalismus? Mit ihm ist es so, dass er nicht zwingend etwas für die Menschheit hervorbringt, sondern lediglich funktionieren muss. Wie, das ist Nebensache, und der Mensch auch. Das allerdings einem Sozialdemokraten wie Müntefering zu erklären, wäre wohl eine Lebensaufgabe.